Forsa-Umfrage: 82 Prozent fühlen sich politisch entmündigt

Die Kluft zwischen der Bevölkerung und der offiziellen Politik ist so tief wie nie zuvor in der Nachkriegszeit. Eine Forsa-Umfrage im Auftrag des Magazins Stern ergab, dass 82 Prozent der deutschen Bevölkerung glauben, sie hätten politisch nichts zu sagen. Noch mehr Menschen bezweifeln, dass sie durch Wahlen etwas ändern können.

Laut der Ende Dezember veröffentlichten Umfrage glauben 82 Prozent der Gesamtbevölkerung, dass "auf die Interessen des Volkes keine Rücksicht" genommen werde. In Ostdeutschland sind es sogar 90 Prozent. Nur 18 Prozent sind der Meinung, dass "das Volk etwas zu sagen hat".

Noch deutlicher sind die Umfrageergebnisse zum Einfluss von Wahlen. Nur noch fünf Prozent der Befragten sind der Auffassung, dass man durch Wahlen die Politik "in starkem Maße" mitbestimmen könne. 48 Prozent glauben, der Wähler könne mit seiner Wahlteilnahme "etwas" Einfluss ausüben. 47 Prozent hingegen sind der Überzeugung, sie könnten die Politik durch Wahlen "gar nicht" mitbestimmen. In Ostdeutschland meinen das sogar 56 Prozent.

Das Meinungsforschungsinstitut Forsa fragte auch nach der Akzeptanz des politischen Systems, wie es im Grundgesetz festgelegt ist. Darin heißt es immerhin: "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus." Der Umfrage zufolge sind 36 Prozent mit dem politischen System unzufrieden, wie es auf dem Papier festgelegt ist. Mit dem tatsächlichen Funktionieren des Systems sind sogar 61 Prozent unzufrieden. In Ostdeutschland sind es 51, bzw. 79 Prozent.

Die Kluft zwischen Bevölkerung und offizieller Politik zeigt sich auch im Mitgliederverlust der beiden großen Parteien, früher "Volksparteien" genannt.

Die CDU hatte Ende September 2006 561.070 Mitglieder. 1991, kurz nach der Wiedervereinigung, waren es noch rund 750.000. Die SPD verzeichnet einen noch drastischeren Mitgliederschwund. 1998, bei Amtsantritt der rot-grünen Koalition unter Kanzler Gerhard Schröder, besaßen noch 755.000 das SPD-Parteibuch, Ende letzten Jahres waren es nur noch 561.000. Den größten Anteil machen in beiden Parteien Männer um die 60 aus.

Am 7. Januar befasste sich die Fernseh-Talkrunde von Sabine Christiansen mit dem Thema: "Nimmt die Politik die Bürger noch ernst?"

Aus dem Publikum meldete sich Axel Theißen, ehemaliger Vorsitzender des SPD-Ortsvereins Eddelak in Schleswig-Holstein. Im November letzten Jahres war er zusammen mit den 18 anderen Mitgliedern aus der SPD ausgetreten und hatte den Ortsverein aufgelöst. Der Chemieanlagen-Fahrer äußerte seine Empörung über die Politik der Partei, der er viele Jahre angehört hatte: "Das Soziale fällt weg. Und die SPD setzt die Sozialkürzungen durch." Dies sei in der Koalition mit den Grünen so gewesen, und in der Großen Koalition mit der CDU/CSU sei es auch nicht anders.

In der Tat gab es unter der rot-grünen Bundesregierung von 1998 bis 2005 eine noch nicht erlebte soziale Umverteilung. Unternehmen und Reichen wurden Steuern in Milliardenhöhe gekürzt, während Arbeiter und vor allem Arbeitlose dafür die Rechung in Form von Kürzungen im Sozialbereich zahlten. Als die Opposition dagegen wuchs, löste die SPD vorzeitig das Parlament auf, um der CDU den Weg an die Macht zu ebnen. Seither wurden entgegen allen Wahlversprechen das Rentenalter und die Mehrwertsteuer erhöht, die Leistungen von Arbeitslosen weiter beschnitten und die Unternehmen zusätzlich von Steuern entlastet.

Die neueste Forsa-Umfrage macht deutlich, dass sich die Wähler kaum mehr von großen Wahlversprechen, wohlklingenden Grundsatzprogrammen und ständig wiedergekäuten Argumenten für Sozialkürzungen an der Nase herumführen lassen. Die von Medien und Politik ständig beklagte "Politik- und Demokratieverdrossenheit" ist in Wirklichkeit Ausdruck einer breiten Opposition gegen die etablierten Parteien, die alle die Interessen der Wirtschaft vertreten.

Der Stern hat zu den Umfrage-Ergebnissen eine Reihe von Leserbriefen und -mails erhalten und veröffentlicht. "Es wäre dringend notwendig, den ganzen Lobbyismus, der unser Land im Griff hat, einzudämmen", schreibt Horst Geib, und der Stern fügt hinzu: "Wie Horst Geib bemängeln viele Leser einen zu großen Einfluss der Wirtschaft auf politische Entscheidungen."

Wie die Forsa-Umfrage ebenfalls zeigt, gibt es ein sehr großes Interesse, selbst auf die Politik Einfluss zu nehmen. Eine überwältigende Mehrheit von 80 Prozent der Befragten tritt für die Einführung von Volksbegehren und Volksentscheiden auch in der Bundespolitik ein.

In der Christiansen-Runde vom Sonntag zeigte sich vor allem Gregor Gysi, der Bundestagsfraktionsvorsitzende der Linkspartei.PDS, besorgt über die wachsende Opposition gegen den offiziellen Politikbetrieb. "Wir", und damit meinte er auch die Politiker der SPD und der CDU, müssen "die Demokratie wieder attraktiv machen", forderte er.

Gysi fürchtet, dass die Opposition gegen die etablierten Parteien in eine Bewegung münden könnte, die sich gegen die Grundlagen der kapitalistischen Ordnung richtet. Er schürte die Illusion, man könne diese Ordnung durch einige kosmetische Korrekturen sozial gerechter gestalten.

Dabei führte er ausgerechnet die Schweiz, dieses Paradies für Steuerflüchtlinge und Millionäre, als leuchtendes Beispiel an. "In der Schweiz gilt immer noch der Grundsatz: Die Millionäre brauchen nicht die gesetzliche Rente, aber die Rentenversicherung braucht die Millionäre. Diesen Satz haben wir eben nicht", sagte er.

Die Linkspartei selbst tritt nur in Sonntagsreden und Talkshows für soziale Reformen ein. Im politischen Alltagsgeschäft beugen sich Gysi und seine Partei dem "Druck der Gegebenheiten" und den "Sachzwängen". Der Berliner Senat, eine Koalition von SPD und Linkspartei.PDS, führt dies seit über fünf Jahren vor.

Siehe auch:
Wachsende soziale Ungleichheit in Deutschland und Europa
(29. Dezember 2006)
Loading