Hintergründe der Auseinandersetzung in der CSU

Wachsende soziale Krise in Bayern

Die Führungskrise der bayrischen Unionspartei hält seit Wochen an und findet in den Medien starken Widerhall. Dabei bleiben die meisten Kommentare und Berichte allerdings an der Oberfläche der Ereignisse. Die gesellschaftlichen und sozialen Probleme, welche der gegenwärtigen Krise in der CSU zu Grunde liegen, finden oft kaum Beachtung oder werden völlig ausgeblendet.

Der Streit um den Parteivorsitz zwischen dem bayrischen Wirtschaftsminister Erwin Huber und Bundeslandwirtschaftsminister Horst Seehofer macht deutlich, dass die Zeiten nicht mehr bestehen, in denen sich die CSU als Volkspartei darstellen konnte. Seit ihrer Gründung 1946 bestand die CSU - ähnlich wie ihre Schwesterpartei CDU - nicht als Partei mit einem klar umrissenen Programm, sondern als Union, die sehr unterschiedliche Schichten der Bevölkerung ansprach. Die verschiedenen Interessen und Ansprüche wurden durch eine ausgeklügelte Klientelpolitik und Zugeständnisse in jede Richtung austariert. Auf diese Weise konnte die CSU auch Teile der Arbeiterklasse an sich binden, die in anderen Regionen der Republik traditionell sozialdemokratisch geprägt waren.

In den Nachkriegsjahren war Bayern, als größter deutscher Flächenstaat, noch stark durch die Landwirtschaft geprägt. Doch schon bald begann eine systematische Ansiedlung moderner Industrien in den Großstädten, die bis in die 80er Jahre anhielt und zur Bildung von Wirtschafts- und Technologiezentren führte. Mit großzügigen EU-Subventionen wurde der Konflikt zwischen Klein- und Großbauern gedämpft und strukturschwache Regionen unterstützt. Diese Balance zwischen ländlicher Rückständigkeit und modernen Hightech-Zentren verbarg sich hinter der Formel von "Laptop und Lederhose", die CSU-Chef Edmund Stoiber zu seinem Markenzeichen machte.

Während Stoiber und andere führende CSU-Politiker dieses Konzept oft und gerne als Model für die Republik anpreisen, haben sich die ökonomischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen dieser Politik auch in Bayern seit geraumer Zeit grundlegend geändert. Durch die Wiedervereinigung vor mehr als anderthalb Jahrzehnten nahm das bundespolitische Gewicht Bayerns ab, und - was vielleicht noch größere Auswirkungen hatte - mit der EU-Osterweiterung reduzierten sich die Gelder aus Brüssel erheblich.

Durch die innereuropäische und globale Konkurrenz gerieten viele Betriebe, auch moderne Hightech-Konzerne unter starken Druck. Der Abbau tausender Arbeitsplätze, verbunden mit Sozialabbau und heftigen Angriffen auf den Lebensstandard breiter Bevölkerungsschichten, haben zu sozialen Spannungen geführt, die dem Führungskampf in der bayrischen Unionspartei zugrunde liegen.

Arbeitsplatzabbau im großen Stil

Die offizielle Arbeitslosenquote liegt in Bayern mit knapp sieben Prozent zwar unter dem Bundesdurchschnitt. Doch dies kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass in den vergangenen Jahren ein massiver Abbau von Arbeitsplätzen, besonders in der Industrie, stattgefunden hat. Im Gegenzug wurden verhältnismäßig viele schlecht bezahlte Jobs im Dienstleistungsbereich geschaffen. Hinzu kommt, dass die Arbeitslosigkeit sehr ungleich verteilt ist. Während einige Regionen in Schwaben oder Oberbayern nur etwa 4-5 Prozent Arbeitslosigkeit zu verzeichnen haben, liegt sie in einigen Regionen in Franken oder der Oberpfalz mit 15-20 Prozent deutlich höher.

Besonders hart sind die Großstädte und ehemaligen Industriezentren vom Arbeitsplatzabbau betroffen. In der Landeshauptstadt München wurden in den vergangenen Jahren nicht nur in den traditionellen Industriebereichen zahlreiche Arbeitsplätze vernichtet, sondern auch im - von der Staatsregierung so gerühmten - IT-Bereich. So wird gegenwärtig das Werk von Infineon in München-Neuperlach abgewickelt. Der Halbleiterhersteller kündigte Anfang 2005 an, das Werk aus Kostengründen im kommenden Frühjahr zu schließen. Der Widerstand der Beschäftigten wurde mit Hilfe der IG Metall unter Kontrolle gehalten und 800 Arbeitsplätze vernichtet.

Ähnlich sieht es nach der Pleite der Siemens-Tochter BenQ aus. Der Großteil der 1400 Beschäftigten des Konzerns in München steht ohne neuen Arbeitsplatz da. Der amerikanische Computerriese Sun Microsystems löste im vergangenen Jahr seine Zentrale an der Isar auf, was mit über 100 Entlassungen einherging.

Die Schließung des traditionsreichen Nürnberger AEG-Werks im letzten Jahr durch den schwedischen Mutterkonzern Electrolux kostete über 1700 Arbeitsplätze. Dies war beispielhaft für eine Region, die mit die höchsten Arbeitslosenzahlen in Bayern aufweist. Waren dort 1989 noch 89.000 Beschäftigte in den Industriebetrieben tätig, so sind es heute nur noch etwa 52.000. Bekannte Unternehmen wie Grundig, Phillips oder Triumph-Adler, die jeweils einige Tausend Arbeiter beschäftigten, sind mittlerweile verschwunden.

Augsburg, mit rund 265.000 Einwohnern, hat in den letzten 20 Jahren allein über 30.000 Arbeitsplätze im Industriebereich verloren. Nicht ohne Grund erklärte die Industrie- und Handelskammer daraufhin die Region zum "Katastrophengebiet". Der Maschinenhersteller MAN ist mittlerweile in mehrere Einzelunternehmen aufgeteilt, bei der Trennung wurden jeweils massiv Stellen abgebaut. Bei der MAN-Tochter B&W-Diesel arbeiten nur noch 2200 Mitarbeiter. Fast doppelt so viele waren es, bevor kontinuierlich die einfacheren Tätigkeiten ins Ausland verlagert wurden.

Ähnlich ist die Lage beim Druckmaschinenhersteller MAN-Roland oder dem Roboterhersteller Kuka. Die Pleite des Walter-Bau-Konzerns kostete rund 3000 Arbeitsplätze. In der Textilverarbeitung waren mehrere Tausend Beschäftigte tätig. Mittlerweile zeugt nur noch ein Museum von der Existenz dieses Industriezweigs in Augsburg. Die offizielle Arbeitslosenquote stieg allein zwischen 2000 und 2005 um sieben Prozent und liegt mit rund 15 Prozent weit über dem Landesdurchschnitt.

Radikaler Sparkurs

Während Ende der 90er Jahre die rot-grüne Bundesregierung den Angriff auf die sozialen Errungenschaften der Bevölkerung massiv verschärfte, beschloss auch die CSU-Landesregierung drastische Sparmaßnahmen. Unter dem Motto von Wirtschaftsminister Huber "Sozial ist wer keine Schulden macht" wurden in fast sämtlichen Sozialbereichen die Mittel gekürzt. Obwohl der Haushalt nun bereits seit zwei Jahren ausgeglichen ist, beharren Stoiber und Huber weiterhin auf der Fortsetzung dieser unsozialen Politik, die vollkommen zu Lasten der breiten Bevölkerungsmehrheit geht.

Entgegen den ständigen Beteuerungen der CSU-Spitze, Bayern sei deutschlandweit die Nummer Eins im Bildungsbereich, werden seit mehreren Jahren die Mittel im Schul- und Hochschulbereich derart zusammengestrichen, dass hier mittlerweile katastrophale Zustände herrschen.

In den vergangenen Jahren wurden allein an Grund- und Hauptschulen im Freistaat 1600 Lehrerstellen gestrichen. An den bayrischen Schulen sind im vergangenen Jahr zwischen 10 und 15 Prozent des regulären Unterrichts ausgefallen. Die Zusammenlegung von Schulklassen wegen Lehrermangel ist inzwischen an vielen Schulen gang und gäbe.

Die Hauptschule im fränkischen Höchstadt wurde beispielsweise für drei Tage komplett geschlossen, weil Ersatz für erkrankte Lehrer fehlte. Anderorts müssen die Eltern von Schülern die Betreuung im Klassenzimmer übernehmen oder ganze Klassen werden einfach wieder nach Hause geschickt. Laut Lehrerverband wären 500 bis 600 Aushilfslehrer nötig, um den Regelunterricht abzudecken. Nach langen Protesten bewilligte das zuständige Ministerium gerade einmal 150 pädagogische Aushilfskräfte.

2006 beschloss der bayrische Landtag mit seiner CSU-Mehrheit die Einführung von Studiengebühren ab dem Sommersemester 2007. Diese "Studienbeiträge" belaufen sich auf 300 bis 500 Euro pro Semester. Innerhalb dieses Rahmens dürfen die Hochschulen die Beitragshöhe selbst festsetzen. Zusätzlich kann die Beitragshöhe zwischen den einzelnen Studiengängen an einer Hochschule variieren, was dazu führen wird, dass Studiengänge mit größerer Nachfrage aller Voraussicht nach künftig teuerer werden als andere.

Die Einführung von Studiengebühren wird die ohnehin schon gravierende soziale Schieflage an den Universitäten und Hochschulen weiter verschärfen. Jugendlichen aus sozial schwächeren Familien wird damit der Weg zur Hochschulbildung noch stärker verbaut als bisher. Wer nicht aus reichem Elternhaus kommt oder über zahlungskräftige Sponsoren verfügt, wird künftig gezwungen sein noch mehr zu arbeiten als bisher, um das Studium zu finanzieren, oder kann es gar nicht erst beginnen.

Zudem werden die Etats für Hochschulbibliotheken weiter gekürzt. Die Staatsbibliotheken mussten in den vergangenen vier Jahren etwa ein Zehntel ihres Gesamtbudgets einsparen und können kaum noch neue Bücher anschaffen. An den Fachhochschulen (FH) kann umgerechnet nur noch ein halbes Buch pro Student im Jahr gekauft werden, wie die Sprecherin der FH-Bibliotheken gegenüber der Süddeutschen Zeitung erklärte.

Besonders aggressiv waren die Angriffe der CSU-Regierung auf die Bediensteten des öffentlichen Dienstes in Bayern. Unmittelbar nach der Aufkündigung des Tarifvertrags durch die Länder 2004, beschloss die Regierung die Arbeitszeit ohne Lohnausgleich anzuheben. Seitdem müssen die etwa 200.000 Beamten des Landes und der Kommunen statt 40 nun 42 Stunden pro Woche arbeiten. Die etwa 120.000 Arbeiter und Angestellte trifft es ebenso hart. Hier wurde bei Neueinstellungen oder Versetzungen die wöchentliche Arbeitszeit von 38,5 auf 42 Stunden erhöht.

Stoiber erklärte, er hoffe, dass in fünf Jahren mindestens 90 Prozent der öffentlich Beschäftigten nach den neuen Zeiten arbeiten, und Landtagsfraktionschef Joachim Herrmann forderte die Kommunen auf, ebenfalls eine solche Arbeitszeitverlängerung und damit Reallohnsenkung durchzusetzen.

Die Folgen des Tarifvertrags, den Verdi unterzeichnet hat und nach wie vor beschönigt und rechtfertigt, werden von Tag zu Tag deutlicher. Zum einen werden durch die längeren Arbeitszeiten erheblich weniger Neueinstellungen getätigt und Krankheitsvertretungen eingestellt, zum anderen steigt die Belastung am Arbeitsplatz rapide an. Besonders stark sind die Lehrer davon betroffen, die ohnehin bereits durch den akuten Lehrermangel über die Maßen belastet sind.

Darüber hinaus beinhalteten die Sparpakete der Landesregierung noch eine Vielzahl weiterer Maßnahmen, wie beispielsweise die Streichung des Blindengeldes, Kürzungen bei der Notfallrettung und bei Integrierungsmaßnahmen für Ausländer.

Wachsende Armut

Die steigende Arbeitslosigkeit und der radikale Sparkurs haben die soziale Lage im südlichsten Bundesland drastisch verschärft. Um die Folgen der Kürzungspolitik zu verdecken beschloss der bayrische Landtag, dass der "Bericht der Staatsregierung zur sozialen Lage in Bayern" ab dem Jahr 1999 nicht weiter fortgeschrieben und veröffentlicht wird, wie es bis dahin der Fall war.

Im letzten Bericht der Staatsregierung von 1999 geht bereits ein deutlicher Anstieg der Armut hervor. Von 1991 bis 1998 stieg die Anzahl der Haushalte, die über weniger als 50 Prozent des durchschnittlichen Nettoeinkommens verfügen, von 8,3 auf 9,5 Prozent. Eine halbe Million Menschen erhalten derzeit in Bayern Leistungen nach Hartz IV, mit steigender Tendenz. 130.000 Kinder leben auf Sozialhilfe-Niveau. Der Präsident des Diakonischen Werks, Ludwig Markert, bemerkte dazu: "Die Kluft zwischen Arm und Reich wächst auch in Bayern deutlich, das ist unsere tagtägliche Erfahrung."

Innerhalb Bayerns existiert ein starkes regionales Gefälle. So ist das durchschnittliche Einkommen in Schwaben und Oberbayern deutlich höher als in Oberfranken oder den Grenzgebieten zu Tschechien. Die Kinderarmutsquote liegt in Städten wie Nürnberg, Hof und Schweinfurt bei etwa 20 Prozent und erreicht damit ostdeutsche Verhältnisse.

Besonders prekär ist die Lage sozial schwacher Schichten in München. In keiner anderen Stadt in der Bundesrepublik tritt der Gegensatz von Arm und Reich derart deutlich zu Tage. Die Landeshauptstadt hat die höchsten Lebenshaltungskosten in Deutschland zu verzeichnen. Arbeitslose, Harz-IV-Empfänger, Rentner und Geringverdiener verarmen hier deutlich schneller als in anderen Bundesländern. Die Wohnungsmieten sind im Durchschnitt rund 50 Prozent höher als im restlichen Land. Knapp 180.000 Menschen (ca.13 Prozent) der Münchner gelten als arm, etwa doppelt so viele wie noch vor zwei Jahrzehnten.

Vor diesem Hintergrund muss die Auseinandersetzung zwischen Huber und Seehofer gesehen werden. Huber vertritt jene Kräfte in der Union, die ohne Rücksicht auf Verluste den eingeschlagenen Kurs fortsetzen und verschärfen wollen. Seehofer vertritt im Grunde keine andere Politik. Er hat die politischen Entscheidungen der vergangenen Jahre als führendes Mitglied der CSU stets mitgetragen. Wenn er sich heute als Gegenspieler Hubers in Szene setzt, so nur deshalb, weil er der Auffassung ist, man müsse dem wachsenden Widerstand in der Bevölkerung zumindest durch einige kosmetische Maßnahmen Rechnung tragen.

Siehe auch:
Das Aufbrechen der Union als Volkspartei - Krise in der CSU geht weiter
(31. Januar 2007)
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