Arbeiter protestieren gegen Entgeltrahmenabkommen der IG Metall

Ende vergangener Woche organisierten etwa 2.000 Beschäftigte des DaimlerChrysler-Werks in Bremen eine Protestaktion gegen die Einführung eines neuen Lohnsystems. Die Produktionsarbeiter der Frühschicht versammelten sich im Personalbüro und legten dort persönlichen Widerspruch gegen die so genannte ERA-Einstufung ein.

Auch in anderen Werken wächst der Widerstand gegen den neuen Rahmentarifvertrag, der für viele Beschäftigte einen deutlichen Abbau der Löhne und Einkommen zur Folge hat. Im DaimlerChyrsler Werk in Berlin-Marienfelde unterschrieben Anfang des Monats 900 Arbeiter eine Resolution mit dem Ziel, eine außerordentliche Belegschaftsversammlung zu erzwingen, um die Umsetzung des Entgeltrahmen-Abkommen (ERA-TV) zu diskutieren.

Ende November hatten die DaimlerChrysler-Beschäftigten in Berlin-Marienfelde bereits einen spontanen Streik gegen die Einführung des ERA-TV organisiert.

"Jahrhundertreform"

Die IG Metall-Führung um den Vorsitzenden Jürgen Peters und dessen Stellvertreter Berthold Huber, der im Gewerkschaftsvorstand für Tariffragen zuständig ist, bezeichnet den neuen Rahmentarifvertrag als "Jahrhundertwerk". Peters und Huber sind voll des Lobes über den Vertrag, der schon im Sommer 2003 unterzeichnet wurde, aber in allen elf Tarifgebieten Deutschlands auf die jeweils "spezifische Situation" zugeschnitten und daher schrittweise eingeführt wird.

Kurz vor dem Abschluss der Verhandlungen mit dem Arbeitgeberverband Gesamtmetall verkündete Huber stolz, mit den Vereinbarungen des Entgeltrahmen-Abkommens hätten die Tarifparteien der Metall -und Elektroindustrie "belastbare Eckpunkte für das größte entgeltpolitische Reformprojekt der Nachkriegsgeschichte" geschaffen.

Vor allem sei endlich "die Gleichstellung von Arbeitern und Angestellten" gelungen. Damit sei "die Korrektur einer seit der Bismarck’schen Sozialgesetzgebung prägenden Unterscheidung der Klassen und Schichten unserer Gesellschaft" erreicht. Der ERA-Tarifvertrag sei folglich "nicht nur ein tarifpolitisches, sondern ein gesellschaftspolitisches Reformwerk".

Hubers Lobeshymne kannte keine Grenzen. So behauptete er, der ERA-TV verwirkliche die Umsetzung des Grundsatzes "Gleiches Entgelt für gleiche Arbeit". Diese "Schaffung gleicher Entwicklungsmöglichkeiten für alle Beschäftigten" emanzipiere endlich gewerbliche Arbeit als "gleichberechtigt anerkannte Arbeit" und schaffe die "Durchlässigkeit zwischen den heute nicht nur im Entgelt, sondern auch im sozialen Status separierten Gruppen von Beschäftigten".

All das ist reine Augenwischerei.

Gegenwärtig machen viele Arbeiter die konkrete Erfahrung, dass der gewerkschaftliche Lobgesang auf den ERA-TV Bestandteil eines systematischen Täuschungsmanövers ist. Wie schon die Gewerkschaft Ver.di bei der Einführung des neuen Tarifvertragswerkes im öffentlichen Dienst, des TVöD, hat die IG Metall nun den Unternehmern in der Metall- und Elektrobranche einen Hebel in die Hand gegeben, um massive Lohnsenkungen für die etwa drei Millionen Beschäftigten in diesem Bereich durchzuführen.

Mit der Einführung des neuen Entgeltrahmen-Abkommens werden der seit vierzig Jahren geltende "Lohnrahmentarifvertrag I. der paritätischen Kommissionen", der 1973 eingeführte Manteltarifvertrag und der Tarifvertrag zum Schutz vor Abgruppierungen von 1978 außer Kraft gesetzt. Akkordbezahlung und alle wichtigen Zuschläge für besondere Leistungen und Belastungen entfallen mit dem ERA-TV.

ERA-TV soll stattdessen einen einheitlichen Entgeltaufbau für Arbeiter und Angestellte bieten und zwar in folgender Form:

Das neue Bruttoeinkommen soll sich aus drei Komponenten zusammensetzen: Erstens einem Grundentgelt, das sich alleine aus den "Anforderungen der Arbeitsaufgabe" ergibt. Zweitens einem Belastungsentgelt bzw. einer Zulage, die bisher allerdings nur in wenigen Tarifgebieten vereinbart wurde und die sich aus einer allgemeinen Bewertung der Belastungssituation ergibt. Und drittens einem Leistungsentgelt, das die persönliche Leistung im Rahmen der Arbeitsaufgabe errechnet.

Nahezu alle Arbeitsaufgaben der Beschäftigten werden in neue Tarifgruppen eingruppiert. Jeder Betrieb in jedem einzelnen Tarifgebiet regelt dann die endgültige Bezahlung der Arbeiter und Angestellten selbst. Die IG Metall bezeichnet das als notwenige Reaktion auf einen flexiblen Arbeitsmarkt und behauptet, durch eine derartige Anpassung an die "besonderen betrieblichen Bedingungen" könnten Unternehmen besser auf den internationalen Konkurrenzdruck reagieren und dadurch würden Arbeitsplätze erhalten.

Huber behauptet sogar, dass die Neuregelung notwendig sei, um angesichts zunehmender Tarifflucht und Lohndifferenzierung ein Höchstmaß an "Gleichheit im Entlohnungssystem" zu schaffen. Doch genau das Gegenteil ist der Fall. Künftig werden die Löhne in den einzelnen Regionen, zwischen strukturschwachen und starken Gebieten und ebenso zwischen den einzelnen Betrieben stark schwanken. Sogar zwischen den einzelnen Abteilungen im selben Betrieb kann und wird es künftig Lohnunterschiede geben.

Schlüsselrolle der Betriebsräte

Gleichzeitig wurde den Betriebsräten eine Schlüsselrolle beim Festlegen der Löhne und Einkommen zugeteilt. Sie haben bei der Eingruppierung eine beratende und überwachende Funktion. Genau gesagt werden künftig die Entgelte in Verhandlungen zwischen Betriebsräten und den zuständigen Abteilungsleitern vereinbart.

Gemeinsam mit der IG Metall hatte eine Kommission aus Unternehmern und Beratern 122 "Niveaubeispiele" für die einzelnen Betriebe ausgearbeitet, auf die sich jetzt die Neueingruppierung aller Arbeiter und Angestellten stützen soll. Diese "Beispiele" sind jedoch nicht direkt im Tarifvertrag enthalten, sondern dienen lediglich als Richtwerte. Oberstes Ziel bleibt das Wohlergehen der Betriebe durch stärkere Konkurrenzfähigkeit auf dem Markt.

Diese verstärkte Rolle der Betriebsräte ist wichtig. Angesichts der Tatsache, dass alle Betriebsräte durch das Betriebsverfassungsgesetz verpflichtet sind, sich "für das Betriebswohl" einzusetzen und kein Recht haben, zu Streiks oder anderen Arbeitskampfmaßnahmen aufzurufen, besteht ihre Aufgabe darin, die Einkommensabgruppierungen den Betroffenen gegenüber zu erklären, d.h. nach unten durchzusetzen und Widerstand dagegen unter Kontrolle zu halten.

Weiter regelt der ERA-TV die "Bewahrung des individuellen Besitzstandes bei gleichzeitiger Wahrung der betrieblichen Kostenneutralität". Falls das auf dem "Ausgleichskonto" angesammelte Guthaben nicht ausreicht, um die betriebliche Kostenneutralität herzustellen, soll den Betrieben erlaubt werden, von tarifvertraglichen Regelungen befristet nach unten abzuweichen: sprich Urlaubs- oder Weihnachtsgeld zu sperren oder einer nur begrenzten Auszahlung zuzustimmen.

Alle weiteren Arbeitsbedingungen und sozialen Errungenschaften bei den Kündigungsfristen sowie Probezeiten werden neu verhandelt. Auch der Anspruch auf Lohnzuwachs aufgrund der Betriebeszugehörigkeit entfällt und wird in eine rein freiwillige Leistung verwandelt. Zulagen werden künftig nur noch als "Nasenprämien" gezahlt. Für die Entgeltfindung spielt auch der sozialrechtliche Status des Arbeitnehmers keine Rolle mehr; entscheidend ist allein seine Arbeitsaufgabe.

Der bisherige Flächentarifvertrag bleibt formal erhalten, aber der von den Arbeitgebern seit langem geforderte und vielerorts schon praktizierte Betriebstarifvertrag bekommt eine neue Dimension. Die Umsetzungen, die seit 2005 in allen Betrieben begonnen wurde und bis spätestens 2010 endgültig abgeschlossen sein soll, wirken sich schon jetzt für die Arbeiter verheerend aus.

Lohnabbau und steigender Arbeitsdruck

Bei Betrieben wie Siemens, DaimlerChrysler und Alstom Power verlieren Arbeiter und Angestellte von 300 bis zu 1.500 Euro im Monat. Vor allem die unteren Lohngruppen in der Produktion wie auch die Angestellten in den Verwaltungen trifft es am härtesten. Im Rhein-Neckar Gebiet wurden Facharbeiter in der Montage neu eingruppiert und haben bis zu 800 Euro monatliche Einbußen. Bei Siemens zum Beispiel werden den Sekretärinnen und Teamassistenten in Einzelfällen zukünftig bis 1.500 Euro von ihrem Monatsgehalt abgezogen. Die Willkür der Arbeitgeber kennt seit der Umsetzung von ERA-TV keine Grenzen mehr und gehört am Arbeitsplatz mittlerweile zum Alltag der Beschäftigten.

Dadurch wächst der Arbeitsdruck erheblich. Die Arbeiter sind der Willkür der einzelnen Vorgesetzten und Betriebsräte ausgeliefert, die die zukünftige Bezahlung bestimmen. Das heißt Schikanen und Arbeitshetze, die jetzt schon vorherrschen, werden noch gesteigert.

Die Arbeitergeber begrüßen verständlicherweise die Umsetzung von ERA-TV. Auf einer Mitgliederversammlung im Jahre 2003 hatte der Vorsitzende von Südwestgesamtmetall, Otmar Zwiebelhofer, erklärt, das Beispiel ERA-TV zeige: "Es lassen sich schwierige, weit in die Zukunft hineinreichende Regelungen mit der IG Metall finden, die den Erfordernissen unserer Industrie entsprechen. Eine solche konstruktive Zusammenarbeit streben wir mit der IG Metall zur Bewältigung der Zukunftsaufgaben weiterhin an. Es wird die gesamte Arbeitsaufgabe betrachtet ? also die Hauptaufgabe einschließlich aller ständigen Teilaufgaben, soweit sie die Arbeitsaufgabe ‚in ihrer Wertigkeit prägen’. Maßgeblich dafür, was alles zur Arbeitsaufgabe für den einzelnen Beschäftigten gehört, ist die vom Arbeitgeber bestimmte Arbeitsorganisation." (Hervorhebung im Original)

In einem Schreiben an seine Mitglieder bezeichnet der Unternehmerverband Südwestmetall ERA als "einmalige, geradezu historische Chance", denn in der Regel würden die Unternehmen heute viel zu hohe Tariflöhne zahlen. So "beruhen mehr als zehn Prozent der als Tarifentgelt ausgewiesenen Personalkosten auf Fehlanwendungen der Tarifverträge". Mit dem ERA-TV können also die zu hohen Löhne gesenkt werden und die "verloren gegangene Personalkostenflexibilität" zurück gewonnen werden.

Rolle der IG-Metall

Mit dem ERA-TV hat die IG-Metall einen weiteren Schritt vollzogen, sich den Unternehmern als Co-Manager anzubieten. Hinter den ständig wiederholten Floskeln von "Gleichstellung" und "gleichem Entgelt für gleiche Arbeit" - die so offensichtlich im Gegensatz zur Realität stehen - verstecken die Gewerkschaftsfunktionäre in Wahrheit ihre eigenen materiellen und politischen Interessen.

Angesichts anhaltenden Mitgliederschwunds kam es ihnen vor allem darauf an, ihre eigene privilegierte Rolle als Verhandlungspartner und betrieblicher Ordnungsfaktor zu stärken. In dem Maße, in dem die Globalisierung der Produktion ihrer früheren Politik der Sozialpartnerschaft den Boden entzogen hat, entwickeln sich die Gewerkschaften immer schneller und offensichtlicher zu einem Instrument, um einen Standort gegen den anderen auszuspielen, Billiglohnarbeit durchzusetzen und die Arbeitsbedingungen zu verschlechtern.

Wie bewusst sie dabei vorgehen, zeigt sich in einer Broschüre zur praktischen Anleitung im Umgang mit dem ERA-TV für Funktionäre, Vertrauensleute und Betriebsräte. Jürgen Peters und Berthold Huber schreiben darin in der Einleitung: "Mit den neuen Bestimmungen aus der ERA-Welt ergeben sich neue Möglichkeiten der Einflussnahme für Betriebsräte und Vertrauensleute. Wenn sie genutzt werden können, dann ist das auch ein Beitrag zur Stabilisierung der Betriebsratsarbeit und der Vertrauensleutearbeit. Für die IG Metall ist das aus organisationspolitischen Gründen wichtig..."

Viele Arbeiter bezeichnen den ERA-TV bereits als "Entgeltreduzierungsabkommen". Und es besteht kein Zweifel, dass er - wie auch der TvöD von Verdi - einen der größten Angriffe auf die Arbeitnehmerrechte der vergangenen Jahrzehnte darstellt. In den Kämpfen dagegen ist es wichtig, sich über die Rolle der Gewerkschaften im Klaren zu sein. Arbeiter und Angestellte müssen sich völlig unabhängig von den bürokratischen Apparaten der Gewerkschaften wie auch der SPD und der Linkspartei.PDS politisch neu orientieren.

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