Regierungsbildung in den Niederlanden

Christdemokraten, Sozialdemokraten und die Christenunion einigen sich auf Koalitionsvertrag

Die neue niederländische Regierung, die in Kürze ihre Geschäfte aufnehmen wird, zeigt einmal mehr, wie tief die Kluft zwischen den Bedürfnissen und Interessen der Bevölkerung und der politischen Elite in den so genannten westlichen Demokratien geworden ist.

Beurteilt man sie mit den klassischen Begriffen des politischen Vokabulars - links, rechts, konservativ, liberal - so stellt sie eine Absurdität dar. Die beiden größten Parteien des Landes, rechte Christdemokraten und "linke" Sozialdemokraten bilden eine Große Koalition, die sich mangels ausreichender parlamentarischer Mehrheit auf eine fundamentalistische christliche Gruppierung stützt, die Abtreibung, Ehe gleichgeschlechtlicher Partner und Sterbehilfe vehement ablehnt.

Diese Widersprüche lösen sich jedoch auf, sobald man das Regierungsprogramm betrachtet. Ob christlich-konservativ, sozialdemokratisch oder mit der Treue zur Bibel verbrämt, unterstützen alle drei Koalitionspartner einen Kurs, der die Interessen der Wirtschafts- und Finanzelite gegen die Mehrheit Bevölkerung verteidigt.

Symptomatisch für diesen Kurs steht der Chef der sozialdemokratischen Partei der Arbeit (PvdA) Wouter Bos. Der zum Politiker mutierte Ex-Manager des Ölmultis Shell sorgt als Finanzminister dafür, dass eine strikte Haushaltsdisziplin eingehalten und die wenigen, aus kosmetischen Gründen im Programm enthaltenen sozialen Versprechungen, nicht zu einer Belastung des Hauhalts führen.

Jan-Peter Balkenende vom Christlich-Demokratischen-Appell (CDA) bleibt Regierungschef und steht damit innerhalb von fünf Jahren bereits zum vierten Mal einer Regierung vor. Keine dieser Koalitionen hat das reguläre Ende ihrer Legislatur erreicht. Diese politische Instabilität trägt auch die neue Regierung von Anfang an in sich.

Die Christenunion übernimmt zum ersten Mal in ihrer Geschichte Regierungsverantwortung. Um die christlichen Fundamentalisten einzubinden, vereinbarte die Koalition ein Moratorium für Gesetze, die Sterbehilfe und Abtreibung betreffen. Darüber hinaus hält sich die Koalition offen, ob ein Passus in die Verfassung aufgenommen wird, der das "Recht auf Leben" garantiert und als Grundlage für die Einschränkung der Abtreibungsmöglichkeit dient.

Kernpunkte der Koalitionsvereinbarung sind ein Angriff auf die Renten- und Frühverrentungsgesetze und weitere massive steuerliche Erleichterungen für die Wirtschaft. Daneben werden diverse Verbrauchssteuern angehoben, die vor allem die Bevölkerung finanziell treffen. Die Steuererhöhungen sollen ein Volumen von 2,5 Milliarden Euro umfassen.

Auch in den Fragen der EU-Verfassung, der Abschottung des Landes gegen Einwanderer und Flüchtlinge sowie der internationaler Militäreinsätze steht die neue Regierung ganz in der Kontinuität ihrer Vorgängerinnen. Die Bevölkerung hat in Umfragen und vor allem in der Wahl vom letzten November deutlich gemacht, dass sie diese Politik ablehnt.

Nach den radikalen Kürzungen der letzten Jahre und den Stimmenverlusten von Christ- und Sozialdemokraten bei der letzten Wahl, versucht die Koalition nun die weiteren Kürzungen durch ein Paket sozialer Investitionen zu ergänzen, um die wachsende Opposition innerhalb der Bevölkerung aufzufangen. Doch diese Maßnahmen stehen unter der Prämisse, dass die Wirtschaft um die von der Regierung veranschlagten zwei Prozentpunkte anwächst.

Vor allem die PvdA, die in der Novemberwahl mehr als eine halbe Million Stimmen verloren hatte, versucht, aus diesen angeblichen Wohltaten für die Bevölkerung Kapital zu schlagen. Vier der sechs Ressorts der Sozialdemokraten (Umwelt, Integration, Entwicklungszusammenarbeit und Bildung) sollen mehr finanzielle Mittel bekommen. Daneben wird die PvdA das Innen- und das Finanzministerium übernehmen.

Der CDA besetzt neben dem Amt des Ministerpräsidenten die Ressorts Wirtschaft, Soziales, Gesundheit, Auswärtige Angelegenheiten, Justiz, Verkehr und Landwirtschaft.

Der Vorsitzende der Christenunion, André Rouvoet, übernimmt das neu geschaffene Ressort Jugend und Familienangelegenheiten, seine Partei bekommt außerdem das Verteidigungsministerium.

Kürzungen und Steuererhöhungen

"Wir wollen zeigen, dass die Regierung eine dynamische Gesellschaft und eine dynamische Wirtschaft anstreben und gleichzeitig den Menschen Unterstützung anbieten kann", verkündete der Vorsitzende der Sozialdemokraten Wouter Bos. Die Medien reagierten darauf mit dem Schluss, die neue Koalition "beende die Politik der Reformen" (womit die sozialen Einschnitte gemeint sind) und strebe eine "Politik des Stillstands" an.

Doch die Koalitionsvereinbarung spricht eine andere Sprache. Zentraler Bestandteil des Koalitionsabkommens ist der Angriff auf die Frühverrentungsregelungen. Die Koalition will durchsetzen, dass ab 2011 die Frühpensionäre 2,4 Prozent ihrer Jahresrente in die Rentenversicherung einzahlen. Nur Renten unter 15.000 Euro jährlich, also Renten unterhalb des niederländischen Mindesteinkommens sollen - zunächst - von dieser Besteuerung ausgenommen sein.

Während die PvdA die Besteuerung von Frühpensionären in die Vereinbarung einbrachte, verankerte der CDA als Ziel der Koalition einen Steuerbonus für Arbeiter, die freiwillig nach dem 65. Lebensjahr weiter arbeiten. In trauter Einigkeit beschlossen Christ- und Sozialdemokraten somit den Einstieg in den Ausstieg aus der gesetzlichen Renten- und Frühverrentungsgesetzgebung.

Die neue Regierung will durch Jobstreichungen und Einsparungen im öffentlichen Dienst 750 Millionen Euro einsparen. Im Gespräch ist der Abbau von 15.000 Arbeitsplätzen.

Durch eine Erhöhung der Tabak und Alkoholsteuer sollen zusätzliche 200 Millionen Euro eingenommen werden. Weitere 350 Millionen Euro Mehreinnahmen sollen durch die Einführung einer "Ökosteuer" auf den Flugverkehr erreicht werden. Eine allgemeine Straßenmaut soll erhoben werden und ab 2012 in Kraft treten.

Bereits in dieser Legislaturperiode sollen durch eine neue KFZ-Steuer auf Umwelt belastende Autos die Steuereinnahmen in diesem Bereich um 200 Millionen Euro ansteigen. Weiterhin sollen eine Milliarde Euro durch noch nicht näher bestimmte Kürzungen und/oder Steuererhöhungen das Volumen der Mehrbelastungen auf insgesamt 2,5 Milliarden Euro anheben.

Investitionen und Subventionen

Mit 700 Millionen Euro sollen Arbeitsplätze im Niedriglohnsektor durch den Staat gefördert werden. Es ist das erklärte Ziel der neuen Regierung, Langzeitarbeitslose und teilweise berufsunfähige Menschen durch diese subventionierten Jobs in den Arbeitsmarkt zu bringen und die Gruppe der Bezieher von Sozialversicherungsleistungen zu verkleinern.

Diese Maßnahme wird kaum neue Arbeitsplätze schaffen, sondern nur reguläre und relativ gut bezahlte Jobs durch staatlich subventionierte Billiglohnarbeit ersetzen. Schulverweigerer und arbeitslose Jugendliche bis 27 Jahre müssen obligatorisch an Bildungs-, Arbeits- oder Umschulungsmaßnahmen teilnehmen, um überhaupt Unterstützung zu erhalten.

Die Wirtschaft soll demgegenüber um insgesamt drei Milliarden Euro entlastet werden. Diese Entlastung soll das prognostizierte Wirtschaftswachstum von zwei Prozent realisieren. Alle Investitionen und besonders diejenigen, die der Bevölkerung zugute kommen, stehen unter dem Vorbehalt dieses veranschlagten Wirtschaftswachstums.

Nur unter dieser Voraussetzung sollen eine Milliarde Euro zusätzlich der Bildung zugute kommen. Mit diesem Geld sollen neue Lehrer angestellt werden und die Zahl der Unterrichtsausfälle innerhalb von vier Jahren halbiert werden. 750 Millionen Euro sollen in die Kinderbetreuung investiert werden. Eine während der Verhandlungen diskutierte kostenlose Betreuung wurde jedoch abgelehnt. Nur 400 Millionen Euro sollen in die Sanierung verwahrloster Stadtteile fließen.

Die Koalition will darüber hinaus 900 Millionen Euro in regenerative und umweltfreundliche Energie investieren. Mit 500 Millionen Euro werden die privaten Krankenkassen subventioniert (die gesetzliche Krankenversicherung ist abgeschafft), um zu verhindern, dass die ebenfalls in der Koalitionsvereinbarung beschlossene Erweiterung des Leistungskatalogs um die Anti-Baby-Pille zu einer Anhebung der Kopfpauschale führt. Daneben erklärt die Vereinbarung, dass die Regierung "mehr Wettbewerb im Gesundheitswesen" anstrebe.

Für Polizei und Militär sind nicht näher bezifferte Mehrausgaben veranschlagt. Bei der Polizei sollen mehrere Tausend neue Stellen eingerichtet werden. Die Zusammenarbeit mit den USA bei der Entwicklung eines neuen Kampflugzeuges (Joint Strike Fighter) soll fortgeführt werden.

Der Gesamthaushalt für 2007 ist von der Koalition mit 156,8 Milliarden Euro veranschlagt und soll insgesamt mit einer Mehreinnahme von einer Milliarde Euro schließen.

Einwanderungspolitik

Die vor Beginn der Koalitionsverhandlungen vom Parlament verabschiedete Amnestie für die 26.000 Flüchtlinge, die vor der Verschärfung des Asylrechts in den Niederlanden ihren Asylantrag stellten, ist von der neuen Regierung bestätigt worden.

Diese Regelung für die von Abschiebung bedrohten Menschen stellt jedoch keine Abkehr von der menschenverachtenden Flüchtlingspolitik der Niederlande dar. So sind in die Koalitionsvereinbarungen konkrete Einschränkungen aufgenommen worden. Nur derjenige kann auf das Aufenthaltsrecht hoffen, der in den Niederlanden gemeldet ist. Das schließt nicht nur alle "illegal" im Land lebenden Flüchtlinge aus, sondern auch die über 12.000 Menschen, die bereits unter der alten Balkenende-Regierung abgeschoben wurden.

Daneben werden auch alle Menschen ausgeschlossen, die "kriminell" geworden sind. Ob damit eine Verurteilung, eine Anzeige oder die Observierung durch Polizei und Geheimdienst gemeint ist, bleibt unklar. Weitere Ausschlusskriterien, so die Koalitionsvereinbarung, müssten die nachfolgenden Gesetzesregelungen treffen. Trotz dieser gewaltigen Einschränkungen erklärte der alte und neue Premierminister Balkenende, "war die Generalamnestie hart für uns".

Die neue Regierung stellt sich in ihrem Papier zudem hinter das praktizierte Asylschnellverfahren, das ausgeweitet werden soll. In diesem 48-stündigen Verfahren muss ein Flüchtling ohne Formfehler allen Anforderungen der niederländischen Einwanderungsbehörde genügen, bevor diese seinen Status überhaupt überprüft. Diese von allen Flüchtlingsorganisationen kritisierte Regelung hat die Einwanderung in die Niederlande praktisch gestoppt und zu einer der niedrigsten Anerkennungsquoten für Asylbewerber in ganz Europa geführt.

Die niederländische Sprache soll nach dem Willen der Koalitionäre als Amts- und Geschäftsprache sowie auch ausdrücklich als "Sprache des allgemeinen Umgangs miteinander" in der Verfassung verankert werden. Die Koalition hat sich ebenso vorbehalten, das Tragen eines Gesichtsschleiers gesetzlich zu verbieten.

Außen- und Europapolitik

Die Koalition erklärt sich bereit, weiterhin an Kampfeinsätzen der NATO und der Vereinten Nationen teilzunehmen. Unter ihrer Führung sollen die Niederlande eine "aktive internationale und europäische Rolle spielen". Dementsprechend bestätigte sie den Einsatz des niederländischen Militärs in Afghanistan.

Eine im Wahlkampf geforderte Untersuchungskommission zur niederländischen Beteiligung am von den USA geführten Krieg gegen den Irak lehnt die neue Regierung dementsprechend ab. Die Niederlande hatten Truppen im Südirak stationiert, wo diese auch an Gefechten gegen die Bevölkerung beteiligt waren.

Dass ausgerechnet die Christenunion in der neuen Regierung das Verteidigungsministerium erhält, spricht Bände über die zukünftige Außen- und Militärpolitik. Die CU verlangt, dass sich die "Obrigkeit" (niederländisch "overheid") auf die zehn Gebote stützt und eine "sorgfältige" "Bekämpfung des Bösen" durchführt.

Unter Punkt Vier ihres Kernprogramms, "Die Macht des Schwertes der Obrigkeit", schreibt die CU: "Wir glauben, dass Gott die Gewalt unter den Menschen hasst. Obrigkeiten werden manchmal verpflichtet sein, zum Schutz des Friedens und der Sicherheit Gewalt anzuwenden, auch in internationalem Zusammenhang." Man ahnt schon - die Kriegseinsätze des niederländischen Militärs werden zukünftig zu "Kreuzzügen gegen das Böse".

Die Frage, ob eine Neufassung der europäischen Verfassung erneut eines Referendums durch die Bevölkerung bedürfe, verwies die neue Regierung an den Staatsrat. Neben Frankreich war auch in den Niederlanden die EU-Verfassung von der Bevölkerung abgelehnt worden Der Staatsrat der Niederlande ist ein von der Königin besetztes Gremium aus Adligen, verdienten Diplomaten, Wirtschaftsbossen und Politikern. Mit diesem Manöver will die Regierung offenbar die Bevölkerung endgültig aus dem Prozess der Ratifizierung der EU-Verfassung ausschließen.

Die inzwischen vierte Regierung unter Balkenende macht also dort weiter, wo die letzte aufgehört hat: mit einer Politik im Interesse der Reichen und Konzerne gegen die Bevölkerung.

Siehe auch:
Parlamentswahlen in den Niederlanden
(25. Januar 2007)
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