Leo Trotzki und die postsowjetische Schule der Geschichtsfälschung

Eine Kritik der beiden Trotzki-Biographien von Geoffrey Swain und Ian Thatcher

Teil 4: Die Bedeutung Trotzkis

Geoffrey Swain: Trotsky, Longman 2006, 237 S.

Ian Thatcher: Trotsky, Routledge 2003, 240 S.

Thatcher über die Unmöglichkeit der Revolution

Zwei durchgängige und zusammenhängende Argumente führt Thatcher in seiner Biographie immer wieder an: 1) Es gibt keinen Grund zu der Annahme, die russische oder europäische Geschichte hätte sich anders entwickelt, wenn Trotzki Stalin besiegt hätte; und 2) die Kritik Trotzkis an Stalin war insgesamt gesehen unfair. Zur Wirtschaftspolitik stellt Thatcher fest: "Selbst wenn Trotzki wie durch ein Wunder an die Macht gelangt wäre, kann man natürlich aus vielen Gründen daran zweifeln, ob er die politischen Erfolge gehabt hätte, die sein Programm versprach. Zum Beispiel ist fraglich, ob eine von Trotzki geleitete Sowjetwirtschaft eine Ausdehnung des industriellen Sektors und einen besseren Lebensstandard erreicht hätte."[83]

Gewiss, alles "ist fraglich". Es geht aber nicht darum, ob man mit Bestimmtheit feststellen kann, ob das Programm der Linken Opposition Erfolg gezeitigt hätte. Gewissheit kann hier nicht erreicht werden. Die wirkliche Frage lautet: Hat die Linke Opposition ein deutlich größeres Verständnis der Probleme der Sowjetwirtschaft bewiesen als die stalinistische Führung, und hat sie, wesentlich weitblickender als die Bürokratie, die Probleme vorhergesehen und Verbesserungsvorschläge zur Vermeidung einer Katastrophe unterbreitet? Diese beiden Fragen können wir unzweideutig mit Ja beantworten. Auf dieser Grundlage können wir dann fragen, ob - bei einer rechtzeitigeren Reaktion auf heraufziehende Gefahren und bei Vermeidung ihrer schlimmsten Folgen - die Annahme begründet ist, dass die Sowjetwirtschaft dann erfolgreicher gewesen wäre und gleichzeitig weniger menschliche Opfer gefordert hätte. Auch hier lautet die Antwort eindeutig Ja. Auf diese Weise untersucht Thatcher nie eine Frage. Das detaillierte Programm der Linken Opposition aus dem Jahr 1927 erwähnt er gar nicht. Alles, was er uns anbietet, ist eine spezifische Form des Fatalismus, der sich als historische Rechtfertigung für Stalin und den Stalinismus erweist. So geht Thatcher an jeder wichtigen Frage der internationalen revolutionären Politik heran.

Zu der verheerenden Niederlage der chinesischen Revolution 1927, zu der Stalins Unterordnung der chinesischen Kommunistischen Partei (CKP) unter die bürgerliche Kuomintang von Tschiang Kai-Schek wesentlich beitrug, erklärt Thatcher: "...selbst wenn die CKP 1926 aus der Kuomintang ausgetreten wäre, so gibt es doch keine Belege dafür, dass sie 1927 deshalb erfolgreicher gewesen wäre."[84] Welche "Belege" hat Thatcher ausgewertet? Anhand welcher Quellen hat er die Ereignisse von 1925-27 erforscht? Es gibt einen großen Bestand an politischer und historischer Literatur, die die katastrophalen Konsequenzen von Stalins Politik in den Jahren 1925-27 analysiert, und ein bedeutender Teil davon stammt von chinesischen Revolutionären.

Es gibt kein Anzeichen dafür, dass Thatcher mit diesen Schriften auch nur im geringsten vertraut ist. Es ist eine historische Tatsache, dass das Massaker, welches Tschiang Kai-Schek im April 1927 an den Arbeitern von Shanghai verübte, durch das Versäumnis der Chinesischen Kommunistischen Partei erleichtert wurde, Abwehrmaßnahmen zu ergreifen, die den Angriff hätten verhindern können oder dem Kader zumindest ermöglicht hätten, ihn zurückzuschlagen. Die Passivität der CKP wurde von Stalins Beharren darauf diktiert, dass die chinesischen Kommunisten alles vermeiden sollten, was Tschiang und die bürgerliche Kuomintang brüskieren könnte. Über den Zeitraum von beinahe einem Jahr warnten Trotzki und die Linke Opposition vor den selbstmörderischen Gefahren einer solchen Politik. Behauptet man nun, ein rechtzeitiges Befolgen ihrer Warnungen wäre ohne Wirkung geblieben, dann erhebt man die Hoffnungslosigkeit in den Rang einer unveränderbaren Bedingung der Geschichte, zumindest soweit es sich um die sozialistische Revolution handelt.

In gleicher Weise argumentiert Thatcher, wenn es um das Thema Deutschland geht. "Trotzkis Analyse der Fehler der KPD und die Möglichkeit, dass Hitlers Triumph durch einen anderen Kurs der deutschen Kommunisten hätte vermieden werden können, übt eine gewisse Anziehungskraft aus," schreibt Thatcher. "Es überrascht also kaum, dass spätere Untersuchungen diese Sichtweise unterstützt haben. Wer wünscht sich schließlich nicht, dass die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) niemals an die Macht gelangt wäre? Dennoch bleibt die Frage, ob die Geschichte wirklich so viel anders verlaufen wäre, wenn Trotzki die Ereignisse stärker hätte beeinflussen können....Trotzki überschätzte die Macht der Arbeiter und unterschätzte die Stärke des Faschismus. Hitler hätte selbst noch bei einer Koalition von Kommunisten und Sozialdemokraten an die Macht kommen können.... Eine Veränderung der Politik der KPD, wie Trotzki sie forderte, hätte vielleicht nicht ausgereicht, um die NSDAP von der Macht fernzuhalten."[85]

Dass die katastrophale Politik der beiden wichtigsten Parteien der Arbeiterklasse - SPD und KPD - entscheidend zum Sieg Hitlers beigetragen hat, ist historisch ziemlich unumstritten. Natürlich gibt es viele Fragen dazu, warum diese Parteien eine so verheerende und selbstzerstörerische Politik verfolgten. Doch dass sie trotz einer millionenfachen Mitgliedschaft eine Politik verfolgten, die sie zu völliger politischer Ohnmacht verurteilte, ist so gewiss wie dies historisch überhaupt möglich ist. Wer behauptet, die Tätigkeit oder Untätigkeit der beiden Massenparteien hätten ohnehin keine Auswirkung auf den Ausgang des politischen Kampfes in Deutschland gehabt, Hitler hätte in jedem Fall gesiegt, der erklärt das Thema Arbeiterbewegung und sozialistische Politik für politisch und historisch bedeutungslos. Diese Schlussfolgerung ergibt sich unvermeidlich aus Thatchers Standpunkt. [86]

Während Thatcher betont, die Befolgung der von Trotzki vorgeschlagenen Politik hätte keinen Unterschied ergeben, wendet er sich immer wieder gegen Trotzkis Kritik an Stalin. Seine Feindschaft gegen Trotzki und seine Sympathie für Stalin ist so unerschütterlich, dass man annehmen muss, sein Werk werde durch unausgesprochene politische Ziele motiviert. Vor langer Zeit hat uns E.H. Carr in seinem zurecht berühmten Werk "What is History?" den Rat erteilt, darauf zu achten, wo ein Historiker der Schuh drückt. Bei einem guten Historiker gibt es einen Gleichklang zwischen seiner Persönlichkeit als Historiker und seinem Umgang mit dem Faktenmaterial. Doch von Herr Thatchers Persönlichkeit als Historiker geht ein lauter, disharmonischer und tendenziöser Misston aus, der eher nach Stalinismus klingt. Mich beunruhigen hier nicht Thatchers politische Auffassungen - auf die er ein Recht hat -, sondern sein Umgang mit historischen Fakten. Die Persönlichkeit des Historikers wird erst dann zu einem ernsten Problem, wenn sie die Geschichte übertönt und unkenntlich macht.

Thatcher verteidigt Stalin

Thatcher verteidigt Stalin gegen Trotzkis Kritik, indem er erklärt, Trotzkis "These von einem stalinistischen Verrat der Weltrevolution ist einseitig und nicht überzeugend. Sie ignoriert beispielsweise die positiven Aspekte der Volksfronttaktik, die in Form wachsender Unterstützung und größeren Einflusses der Kommunistischen Parteien offensichtlich waren."[87] An diesem Punkt, gegen Ende seiner Biographie, hat Professor Thatcher den Unterschied zwischen Geschichtsschreibung und tendenziöser Polemik bis zur Unkenntlichkeit verwischt. Den Anspruch, eine Biographie vorzulegen, lässt er praktisch fallen und setzt dem Leser vor, was man einst als stalinistische Parteilinie bezeichnete. Thatcher singt ein Loblied auf die "Erfolge" der Volksfrontära und ignoriert Trotzkis Analyse des siebten Kongresses der Komintern 1935, der - nach der Katastrophe des stalinistischen ultralinken Kurses der "Dritten Periode" - den Schwenk zu Bündnissen mit bürgerlichen Parteien zur offiziellen Politik erhob. Thatcher verschweigt die Einschätzung Trotzkis, wonach der siebte Kongress und die Verabschiedung der Volksfrontpolitik die Zurückweisung jedes Zusammenhangs zwischen der Komintern und der Perspektive der sozialistischen Revolution bedeutete - eine Entwicklung, die in den außenpolitischen Interessen des stalinistischen Regimes in der UdSSR wurzelte. Der Hinweis ist angebracht, dass E.H. Carr in "The Twilight of the Comintern" diese Einschätzung teilte.[88]

Thatcher fährt fort: "Für Trotzkis Behauptung, die Taktik der Komintern sei nach den Bedürfnissen der sowjetischen Diplomatie ausgerichtet worden, gibt es ebenso keinen Beweis."[89] Thatcher argumentiert hier nicht nur gegen Trotzki, sondern gegen einen Berg überwältigender historischer Belege. Wer als Autor derartige Behauptungen aufstellt, verwirkt das Recht, als Historiker ernst genommen zu werden. Wie will Thatcher die schlagartige Veränderung der politischen Linie der Kommunistischen Parteien überall auf der Welt nach dem Abschluss des Hitler-Stalin-Paktes im August 1939 erklären? Oder die physische Vernichtung zahlreicher führender Mitglieder nationaler Kommunistischer Parteien während des stalinistischen Terrors von 1937-39? Praktisch die gesamte Führung der polnischen Kommunistischen Partei wurde ausgelöscht, weil Stalin sie verdächtigte, mit dem Trotzkismus zu sympathisieren. Viele Mitglieder der ehemaligen Führung der Kommunistischen Partei Deutschlands, die vor Hitler in die UdSSR geflohen waren, wurden in Moskau während des Terrors hingerichtet. Der Generalsekretär der KPD, Ernst Thälmann, den die Nazis verhaftet hatten, wurde von Stalin im Stich gelassen. Nach dem Abschluss des Hitler-Stalin-Paktes hätte Stalin seine Freilassung in die Sowjetunion erwirken können, lehnte dies jedoch ab. Thälmann ging in einem Konzentrationslager zugrunde. Die Führer, die 1945 aus dem sowjetischen Exil nach Deutschland kamen, um das zukünftige Ostdeutschland zu kontrollieren, bestand aus Individuen, die Stalin am Leben gelassen hatte, oft um den Preis, ihre KPD-Genossen zu denunzieren. Ist das nicht alles eine Form der Unterordnung der Kommunistischen Parteien unter die Diktate des Sowjetregimes?

Will man den allgegenwärtigen Einfluss der Sowjetunion auf die Politik der Komintern verstehen, kommt man nicht umhin, sich mit den Aktivitäten der GPU (später: NKVD), der Geheimpolizei des stalinistischen Regimes zu beschäftigen. In einem seiner letzten Artikel, "Die Komintern und die GPU", den er weniger als zwei Wochen vor seiner Ermordung fertig stellte, ging Trotzki detailliert auf diese Frage ein. [90] Anhand der Berichte von Walter Kriwitzki, der der GPU den Rücken gekehrt hatte, und Benjamin Gitlow, einem ehemaligen Führungsmitglied der amerikanischen Kommunistischen Partei, zeigte Trotzki auf, wie die GPU die stalinistischen Organisationen kontrollierte. Sein Artikel beinhaltete eine Untersuchung finanzieller Transaktionen, anhand derer er nachwies, wie Geldzuwendungen eingesetzt wurden, um den nationalen stalinistischen Parteien die politische Linie vorzugeben und sie zu kontrollieren. Er wies auch die finanzielle Abhängigkeit dieser Parteien von den Zahlungen Moskaus nach. Thatcher unterlässt es, dieses Dokument, die letzte wichtige Schrift Trotzkis vor seinem Tod am 21. August 1940, zu untersuchen zu analysieren und sich dazu zu äußern. Er ignoriert es einfach.

Auch an einer weiteren Front verteidigt Thatcher Stalin leidenschaftlich. Er schreibt: " Trotzki unterschätzte außerdem auch die Fähigkeit der UdSSR, einer deutschen Kriegserklärung, die im Juni 1941 dann auch erfolgte, die Stirn zu bieten. Stalin erwies sich als fähiger Führer im Krieg und stand im anfänglichen Chaos bei den ersten deutschen Angriffen unerschütterlich auf der Kommandobrücke."[91] Zwei Themen werden hier angesprochen: erstens, für wie widerstandsfähig Trotzki die Sowjetunion im Kriegsfall einschätzte, und zweitens, Stalins Rolle als Führer im Krieg. In der ersten Frage verfälscht Thatcher erneut die Position Trotzkis. Er zitiert nicht einmal die ausführliche Erklärung Trotzkis über die Widerstandskraft der Sowjetunion im Kriegsfall. In seiner Schrift vom März 1934, "Die Rote Armee", kam Trotzki zu Schlussfolgerungen, die das genaue Gegenteil dessen aussagen, was Thatcher ihm unterstellt. "Wer die Geschichtsbücher studieren will und kann," schrieb Trotzki, "wird eins sogleich begreifen: Sollte die Russische Revolution, die seit dreißig Jahren - seit 1905 - ein ständiges Auf und Ab kennt, gezwungen sein, ihre Strömung in den Kanal eines Krieges zu lenken, so wird sie eine ungeheure, alles überwältigende Kraft entfalten." [92] Aus dieser Erklärung kann man kaum eine Unterschätzung der UdSSR ableiten.

Eigenartig, dass Thatcher ausgerechnet Stalins Verhalten während der "ersten deutschen Angriffe" anführt, um ihm ein besonderes Lob als Kriegsführer auszusprechen. Ihm ist sicher bewusst, dass Stalins Reaktion auf die deutsche Invasion am 22. Juni 1941 viele Fragen aufwirft. Zahlreiche Bücher, darunter die Memoiren führender sowjetischer Funktionäre, berichten von einem emotionalen Schockzustand Stalins, als er die Nachricht von der Invasion erhielt, die das völlige Scheitern seiner diplomatischen Abmachungen mit Hitler offenbarte und die Sowjetunion mit dem Ruin bedrohte. Thatcher weiß das und erklärt in einer Fußnote: "Einige Lehrbücher behaupten, Stalin sei beim Einmarsch der Deutschen in die UdSSR in Panik geraten, und sein Sturz wäre möglich gewesen... Diese Behauptungen werden von S.J. Main in ‚Stalin in 1941’ überzeugend widerlegt."[93]

Die Behauptung, die Kritik an Stalins Verhalten nach der Invasion der Deutschen sei von Professor S.J. Mains kurzem, zweiseitigen Artikel"überzeugend widerlegt" worden, der nur einen wesentlich längeren Artikel eines anderen Historikers kommentiert, ist eine Karikatur auf ein wissenschaftliches Urteil und ein Beispiel für politische Apologetik. [94] Überdies ist die Frage, was Stalin in der letzten Juniwoche 1941, nach der Invasion der Nazis, tat oder nicht tat, zweitrangig für die Beurteilung seiner Verantwortung für die Katastrophe, die über die Sowjetunion hereinbrach. Die entsetzlichen Verluste an Menschenleben, die die sowjetische Bevölkerung erlitt, ergaben sich direkt aus der Politik und dem Handeln Stalins: der Ermordung der führenden sowjetischen Marschälle und Generäle (darunter Tuchatschewski, Jakir, Gamarnik, Blücher, Jegorow und Primakow), der Liquidierung von 75 Prozent der Offiziere der Roten Armee in den Jahren 1937-38, der Ermordung der besten Repräsentanten der sozialistischen Intelligenz und der Arbeiterklasse, der systematischen Desorganisation und Schwächung der sowjetischen militärischen Verteidigung, um Hitler nicht zu reizen, seiner Weigerung, auf die Informationen seines Geheimdienstes über eine kurz bevorstehende deutsche Invasion zu reagieren, usw. Dies alles ist durch zahlreiche Dokumente in unzähligen Büchern und wissenschaftlichen Artikeln belegt. Doch Thatcher ignoriert es und verkündet, ein zweiseitiger Artikel in einer Zeitschrift kläre endgültig die Frage nach Stalins Rolle im Zweiten Weltkrieg. [95]

Thatchers Verweise auf "die Bronsteins"

Angesichts der massiven Verfälschung von Trotzkis Leben und der plumpen Rechtfertigung Stalins erscheinen die Absichten des Autors selbst zunehmend dubios, nicht nur im intellektuellen, sondern auch im moralischen Sinn. Unter diesem Aspekt ist es bemerkenswert, dass Thatcher Trotzki und seine Frau Natalia Sedowa wiederholt "die Bronsteins" nennt. Ich habe nicht weniger als neun Textstellen gezählt, wo Thatcher das Paar so bezeichnet, meistens wenn er seine privaten Lebensumstände oder seine Umzüge von einem Exil ins andere schildert. Thatcher schreibt, "In Wien lebten die Bronsteins hauptsächlich von geliehenem Geld" (S. 52); "Schließlich durften die Bronsteins nach Barcelona gehen" (S. 77); "die Bronsteins wurden über die Grenze gebracht" (S. 164); in Prinkipo "fanden die meisten der Bronsteins ein Zuhause", in Frankreich zum Beispiel hatten die Bronsteins nicht weniger als ein Dutzend Wohnsitze mit unterschiedlichen Mietpreisen" (S. 188); "Der Umzug nach Nordamerika, wo die Bronsteins Mitte Januar 1937 ankamen", und so fort. Weshalb bezeichnet Thatcher Trotzki und Sedowa so hartnäckig als "die Bronsteins"? Die Tatsachen liefern jedenfalls keinen Grund dafür. Trotzki und Sedowa benutzten diesen Namen nicht. Trotzkis Frau Natalia trug ihren eigenen Familiennamen Sedowa. Die beiden Kinder von Leo Dawidowitsch und Natalia - Leo und Sergej - nannten sich mit Nachnamen Sedow. Trotzki benutzte Sedow als legalen Namen; nach 1902 hatte er sich nie wieder Bronstein genannt.

Dies ist keine Kleinigkeit, wie es jemandem scheinen mag, der mit Trotzkis Leben nicht vertraut ist. Wie jeder andere Aspekt von seines Lebens erlangte auch der Name seiner Familie politische Bedeutung. Im Januar 1937 kommentierte Trotzki die Tatsache, dass die sowjetische Presse in ihren Berichten über die Verhaftung seines jüngsten Sohnes unter dem Vorwurf der Sabotage diesen als Sergej Bronstein bezeichnet hatte.

Trotzki schrieb: "Seit 1902 habe ich durchgehend den Namen Trotzki getragen. Wegen meines Status der Illegalität trugen meine Kinder unter dem Zarismus den Familiennamen ihrer Mutter - Sedow. Damit sie den für sie gewohnten Namen nicht ablegen mussten, nahm ich für ‚zivile Zwecke’ den Namen Sedow an (es ist bekannt, dass nach sowjetischem Recht ein Ehemann den Namen seiner Frau annehmen kann). Der sowjetische Pass, mit dem ich, meine Frau und mein älterer Sohn ins Exil gehen mussten, wurde auf den Namen der Sedow-Familie ausgestellt. Meine Söhne haben also zu keiner Zeit den Namen Bronstein getragen. Warum bringt man diesen Namen jetzt in die Öffentlichkeit? Die Antwort liegt auf der Hand: wegen seines jüdischen Klangs. Man muss hinzufügen, dass laut Anklage mein Sohn den Mord an Arbeitern plante. Ist der Unterschied wirklich so groß im Vergleich zum Vorwurf an die Juden, das Blut der Christen gewohnheitsmäßig zu vergießen?" [96]

Es ist unvorstellbar, dass Thatcher mit diesen und anderen Begebenheiten nicht vertraut ist, bei denen Trotzki die Verwendung seines ursprünglichen Familiennamens als antisemitisches Manöver bezeichnete und verurteilte. Weshalb also spricht Thatcher von den Bronsteins statt von den Trotzkis oder Sedows, wenn er doch weiß, dass es nach Lage der Dinge nicht korrekt ist? Es ist seine moralische Verantwortung, den legitimen Verdacht auszuräumen, dass hier niedere Berechnung im Spiel ist. Ich behaupte nicht, dass Thatcher ein Antisemit ist. Fest steht aber zweifelsfrei, dass er, aus welchen Gründen auch immer, den Leser wiederholt auf die jüdischen Wurzeln Trotzkis aufmerksam macht. [97] Er sollte seine Gründe dafür darlegen.

Thatcher verfälscht die Ergebnisse der Dewey-Kommission

Etwa zwei Seiten widmet Thatcher den Moskauer Prozessen und Trotzkis Kampf, deren Anklagen zu widerlegen. Er erörtert die Bildung der Dewey-Kommission und die Anhörung, die im April 1937 in Mexiko stattfand, "wo die Bronsteins wohnten."[98] Nach einer kurzen Darstellung des Ablaufes und der Zeugenaussage von Trotzki kommt Thatcher zu den Ergebnissen der Kommission. Er schreibt, " Die Moskauer Prozesse wurden als ungeeigneter Weg zur Wahrheitsfindung erklärt und die Anklagen gegen Trotzki als nicht bewiesen bezeichnet." [Hervorhebung DN]"[99]

Dies ist eine Verfälschung der Ergebnisse der Dewey-Kommission. Am 21. September 1937 gab die Kommission ihre Ergebnisse zu 23 Anklagepunkten bekannt. Die ersten 21 widerlegten spezifische Anklagen gegen Trotzki, die für die Anklageerhebung der sowjetischen Staatsanwaltschaft große Bedeutung hatten. In Punkt 22 und 23 präsentierte die Kommission die entscheidenden Schlussfolgerungen: "22. Wir kommen daher zu dem Ergebnis, dass die Moskauer Prozesse juristische Verschwörungen darstellen. 23. Wir kommen daher zu dem Ergebnis, dass Trotzki und sein Sohn Sedow nicht schuldig sind." [100]

Man beachte den Unterschied in der Wortwahl der Dewey-Kommission und der Thatchers. Es macht einen grundlegenden Unterschied, ob ein Verfahren eine "Verschwörung" (engl. "frame-up", die Bezeichnung der Dewey-Kommission) oder "ein unzuverlässiger Weg zur Wahrheitsfindung" (Thatchers Bezeichnung) genannt wird. Eine Verschwörung ist ein scheinbar rechtmäßiges Verfahren, bei dem Beweise fabriziert und konstruiert werden, um einen im voraus festgelegten Schuldspruch herbeizuführen. Sie ist nicht nur "ein unzuverlässiger Weg zur Wahrheitsfindung". Sie zielt darauf ab, die Wahrheit zu unterdrücken und benutzt Lügen, um, unter Vortäuschung eines rechtmäßigen Verfahrens, die Inhaftierung oder Hinrichtung einer zu Unrecht angeklagten Person zu erleichtern. Thatcher hätte einfach den Punkt 22 der Dewey-Kommission zitieren können. Stattdessen benutzt er fünf Worte, "ein unzuverlässiger Weg zur Wahrheitsfindung" um etwas völlig anderes auszusagen als die eine Vokabel der Kommission: "Verschwörung". [101]

Auch zwischen einem Urteilsspruch "nicht schuldig" (den die Dewey-Kommission bekanntgab) und "nicht bewiesen" (Thatchers Ausdruck) besteht ein elementarer juristischer Unterschied. "Nicht schuldig" lässt die Unschuldsvermutung intakt. "Nicht bewiesen" ist etwas ganz anderes. Dieses Urteil impliziert, dass die Geschworenen von der Unschuld des Angeklagten nicht überzeugt waren, während die Beweise für einen Schuldspruch nicht ausreichten. Thatcher, der viele Jahre in Glasgow lebte und lehrte, kennt den Unterschied zwischen "nicht schuldig" und "nicht bewiesen" sehr genau. Zu den Eigenarten des schottischen Rechts zählt, dass es ein Urteil "nicht bewiesen" ermöglicht. Darüber wurden jahrhundertelang bedeutende juristische Kontroversen geführt, eben weil durch das sogenannte "dritte Urteil" der Angeklagte mit einem moralischen Makel behaftet bleibt. [102] Man muss schon sehr naiv sein, um anzunehmen, seine Wahl des Terminus "nicht bewiesen" anstelle von "nicht schuldig" stelle einen harmloser Irrtum dar. Thatcher macht sich fraglos der Fälschung der Ergebnisse der Dewey-Kommission schuldig.

Welchen Zweck verfolgt diese Fälschung, mag sich der Leser fragen. Und warum sollte man ihr so große Bedeutung beimessen? Die Leser sollten sich die Methode Thatchers und Swains vergegenwärtigen, die wir bereits untersucht haben. Da sie sich gegenseitig zitieren und ihre Werke von anderen zitiert werden, verbreitet sich der Virus der Fälschung durch eine selbstgefällige akademische Welt heimtückisch in die breite Öffentlichkeit. Bei obigem Beispiel wird die enorme ursprüngliche Überzeugungskraft, die das Urteil der Dewey-Kommission hatte, verwässert und verfälscht. In dem Maße, wie die Verurteilung der Moskauer Prozesse als Verschwörung und der eindeutige Freispruch Trotzkis und Sedows im geschichtlichen Bewusstein verblassen, tragen Thatchers Formulierungen - die auch von anderen leichtfertigen Historikern übernommen werden - dazu bei, bereits bewiesene Fakten und die objektive Wahrheit zu untergraben.

Thatchers abschließende Äußerungen zu Trotzkis Rolle in der Geschichte

Nach mehr als 200 Seiten Verzerrungen, Halbwahrheiten und glatten Fälschungen sind wir bei Thatchers abschließender Bewertung Trotzkis angelangt. "Trotzki", so sagt er seinen Lesern, "war kein großer politischer Führer oder Prophet. Den größten Teil seines politischen Lebens war er in der Opposition und vertrat Ansichten, die nur eine Minderheit teilte." [103] Darauf sollten seine Leser antworten: "Nun, Herr Professor Thatcher, das ist eben Ihre Meinung." Es ist eine Meinung, die durch keinerlei glaubwürdige wissenschaftliche Arbeit untermauert wird, und es gibt daher keinen Grund für den Leser, sie besonders ernst zu nehmen. Man erinnert sich an Hegels Mahnung: "Was kann unnützer sein, als eine Reihe bloßer Meinungen kennenzulernen - was langweiliger?" [104] Der Ausgangspunkt seiner Meinung - Trotzki sei den größten Teil seines Lebens in der Opposition gewesen - verrät mehr über die Ansichten und den Charakter Thatchers aus als über den revolutionären Führer, über den er urteilt.

Weiter schreibt er: "Gibt es etwas von bleibendem Wert in Trotzkis Werk, oder waren er und seine Schriften nur für seine Zeit und Erfahrungen wichtig? Die Antwort auf diese Frage hängt mindestens teilweise davon ab, wie man den Marxismus und Trotzkis Format als Marxist beurteilt.

Um mit der letzteren Frage zu beginnen, so ist zweifelhaft, ob Trotzki irgendeinen bleibenden Beitrag zum marxistischen Denken geleistet hat. Er hat einige der grundlegenden Schriften von Marx vielleicht nicht einmal gekannt. In "Verratene Revolution" beispielsweise beharrt Trotzki mehrere Male darauf, dass Marx nichts über Russland zu sagen hatte, dass der Meister eine sozialistische Revolution zunächst in den Ländern des fortgeschrittenen Kapitalismus erwartete. Damit ignoriert er Marx’ Interesse an der Frage, ob das ‘rückständige’ Russland den Kapitalismus überspringen und auf direktem Wege auf der Grundlage der Bauernkommune zum Sozialismus gelangen könne.

Marx Antwort darauf, die für Trotzkis Theorie der Permanenten Revolution natürlich wichtig ist, findet sich in mehreren seiner Schriften, so auch im Vorwort zur russischen Ausgabe des Kommunistischen Manifests von 1881. Darin bejaht Marx diese Möglichkeit. Eine Revolution in Russland könne einen direkten Übergang zum Sozialismus anstreben unter der Voraussetzung, dass sie den Startschuss zu sozialistischen Revolutionen im fortgeschrittenen Westen gebe. Hätte Trotzki diesen und andere Texte gekannt, in denen Marx über den Aufbau des Sozialismus in Russland schrieb, hätte er gewiss einen stärkeren Zusammenhang zwischen seiner Theorie der Permanenten Revolution und Marx beansprucht und auch weniger Originalität für seine Konzeption des revolutionären Prozesses in Russland geltend gemacht. Wenn wir annehmen, dass Trotzki nicht von Marx’ Beschäftigung mit Russland wusste, so deutet dies darauf hin, dass Trotzkis Marxismus ein Produkt der russischen Verhältnisse war." (Hervorhebung DN) [105]

In diesem Absatz vereint der Autor gleichermaßen Ignoranz und Unverschämtheit. Derartige Ergüsse hätten vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion in Dutzenden von stalinistischen Zeitschriften erscheinen können. Die Behauptung, Trotzki "beharrte darauf, dass Marx nichts über Russland zu sagen hatte", stellt Trotzkis Position völlig falsch dar. Trotzki erklärte vielmehr genau, weshalb es nicht möglich war, aus einer mechanischen Anwendung von Marx’ historischen Konzeptionen eine Analyse der sowjetischen Gesellschaft abzuleiten. [106] Damit bewies Trotzki nicht sein Unwissen über Marx’ Werk, sondern seine kreative Herangehensweise an den Marxismus. Zentrale Argumente in "Verratene Revolution" gründete er außerdem auf Äußerungen von Marx. Er verwandte, um nur ein Beispiel zu nennen, den Begriff des "allgemeinen Mangels", den Marx in der "Deutschen Ideologie" verwendet, um die Ursprünge und die soziale Funktion der Bürokratie in der UdSSR als "Gendarm" zu erklären, der die soziale Ungleichheit mit dem Polizeiknüppel durchsetzt.

Thatchers Behauptung, Trotzki habe Marx’ Schriften von 1881 über die Aussichten des Sozialismus in Russland nicht gekannt, und überdies die Verbindung zwischen seiner eigenen Theorie der Permanenten Revolution und Marx’ Schriften nicht anerkannt, lässt sich leicht widerlegen. Thatcher hat offensichtlich den Essay "Marxismus und die Beziehung zwischen Proletariat und Bauernrevolution" vom Dezember 1928 nicht gelesen. Trotzki untersuchte eigens die Korrespondenz zwischen Marx und der alten russischen Revolutionärin Wera Sassulitsch aus dem Jahr 1881, in dem Marx die theoretischen Fragen bearbeitete, die er in knapper Form im Januar 1882 (nicht 1881, wie Thatcher schreibt) im Vorwort zur russischen Ausgabe des Kommunistischen Manifests zusammenfasste. Wie sehr er selbst geistig in der Schuld von Marx stand, dazu schrieb Trotzki in diesem Essay, "der Gedanke der Permanenten Revolution gehörte zu den wichtigsten Gedanken von Marx und Engels." [107] Thatcher behauptet also am Ende seiner Biographie, Trotzki sei mit wichtigen Schriften von Marx über Russland nicht vertraut gewesen, und es stellt sich heraus, dass diese fantastische Hypothese nur darauf zurückzuführen ist, dass Thatcher seine elementaren intellektuellen Hausaufgaben nicht gemacht hat! [108]

Wenn Thatcher sarkastisch die Frage nach der Bedeutung Trotzkis stellt, sollte er uns erklären, weshalb er ein 240-Seiten-Buch geschrieben hat, um seine Bedeutungslosigkeit zu verkünden. Warum hat er zusammen mit seinem früheren Kollegen von der Universität Glasgow, James D. White, das kurzlebige Journal of Trotsky Studies gegründet, dessen Herausgabe das erste größere Anti-Trotzki-Projekt Thatchers war? Warum hat Swain seine 236-Seiten-Biographie geschrieben?

Bemerkenswerterweise hat Thatcher keine Zweifel an der Bedeutung Stalins. Bei einer Besprechung mehrerer Arbeiten über Stalin, die anlässlich des 50. Todestags des Diktators erschienen waren, verriet er, wo ihn der Schuh drückt, gestand eine gewisse Sehnsucht nach "einer gutartigen Version des Stalinismus" und fügte hinzu, "Stalin übt noch immer eine Faszination aus und löst immer noch Momente moralischer Unsicherheit aus". [109] Welche Art von moralischer Unsicherheit, muss man sich fragen, kann vom Handeln eines blutrünstigen Tyrannen ausgelöst werden, der eine ganze Generation von Sozialisten liquidierte, die Prinzipien der Oktoberrevolution verriet und den Prozess in Gang setzte, der zur Zerstörung der Sowjetunion führte?

Schlussbemerkung

Thatchers und Swains Trotzki-Biographien durchzuarbeiten, war eine unangenehme Erfahrung. Ungeachtet der Länge dieses Aufsatzes konnte ich keinesfalls alle Verzerrungen und Verfälschungen der beiden Bücher beantworten. Eine umfassende Darstellung erforderte nichts weniger als ein eigenes Buch. Diese Besprechung hat aber deutlich gemacht, glaube ich, dass keiner der beiden Biographien ein wissenschaftliches Verdienst zukommt. Noch bleibt aber die Frage: Weshalb wurden diese Bücher geschrieben? Welchen Zweck verfolgen sie? Die Antwort ist meiner Auffassung nach politisch. Obwohl Thatcher gegen Ende seines Buches zynisch über die Bedeutung Trotzkis spekuliert, glaubt er wohl kaum, dass Trotzki eine so unbedeutende historische Erscheinung sei. Thatchers zwanghaftes Interesse an Trotzki legt vielmehr die Vermutung nahe, dass er im Stillen eine deutlich andere Meinung vertritt. Daran täte er gut, denn die Bedeutung Trotzkis als historische Gestalt ist unlösbar verbunden mit dem komplizierten Verlauf des internationalen Klassenkampfs. Um Trotzkis Bedeutung zu bestimmen, muss man sich einige andere Fragen stellen: Welche Bedeutung hat der Sozialismus? Worin besteht die Bedeutung des Marxismus? Welche Bedeutung hat der Klassenkampf in der modernen Gesellschaft? Hat der Kapitalismus eine neue und dauerhafte Stabilität erlangt? Ist gar die Auffassung einer "Krise des Kapitalismus" historisch überholt? Diese Fragen gilt es sich zu stellen, wenn es um den Platz Trotzkis in der Geschichte geht und um die Bedeutung seiner Ideen in der Welt von heute.

Leo Trotzkis Ideen erscheinen im Lichte objektiver Entwicklungen alles andere als fern. Zum einen haben die Entwicklungen auf technologischem Gebiet und ihre Auswirkungen auf den Produktions- und Austauschprozess eine globale Ökonomie geschaffen, die auf die althergebrachten nationalstaatlichen Strukturen einen gewaltigen Druck ausübt. Und der steile Niedergang der Stellung der USA in der Weltwirtschaft macht eine neue Weltordnung, die die zwischenstaatlichen Beziehungen reguliert und globale Stabilität garantieren kann, wenig wahrscheinlich. Die kapitalistische Weltordnung steuert auf einen systemischen Zusammenbruch zu, dessen Ausmaß an den Zusammenbruch von 1914-45 heranreicht.

Die Brüchigkeit der wirtschaftlichen und politischen Weltordnung hat sich durch innere soziale Spannungen zwischen den Klassen deutlich erhöht. Im Verlauf des vergangenen Vierteljahrhunderts sind wir Zeuge des Zusammenbruchs der alten Massenparteien und Organisationen der Arbeiterklasse geworden. Es gibt wohl nirgendwo mehr eine politische Partei auf der Welt, die bei den Massen noch in nennenswertem Maße Glaubwürdigkeit genießt. Die alten kommunistischen, sozialdemokratischen und Labour- Parteien sind entweder zusammengebrochen - so die allermeisten stalinistischen Organisationen - oder fristen ihr Leben als Organisationen, die nur durch einen völlig korrupten Apparat aufrechterhalten werden. Sie als Organisationen der "Arbeiterklasse" zu bezeichnen, heißt, mit der historischen Bedeutung dieses Begriffes krassen Missbrauch zu treiben. Sie sind allesamt rechte bürgerliche Parteien, die der Verteidigung des Kapitalismus und der imperialistischen Interessen der transnationalen Konzerne ebenso sehr verpflichtet sind wie die alten traditionellen bürgerlichen Parteien.

Dieser Zusammenbruch jedweder Form stalinistischer und sozialdemokratischer reformistischer Organisation der Arbeiterklasse vollzieht sich vor dem Hintergrund wachsender sozialer Ungleichheit und sich verschärfender Klassengegensätze. Den alten Organisationen fehlt es an den politischen Mitteln und der Glaubwürdigkeit, sich die zunehmende soziale Unzufriedenheit zunutze zu machen oder sie so zu kanalisieren, dass sie die Stabilität des kapitalistischen Systems nicht gefährden. Die Zuspitzung der Klassengegensätze wird an irgendeinem Punkt geistigen und politischen Ausdruck finden. Viele werden nach Alternativen zu den bestehenden Verhältnissen suchen. So wird eine geistige und gesellschaftliche Basis entstehen für ein wieder erwachendes Interesse an der Geschichte der sozialistischen Bewegung, an den revolutionären Kämpfen der Vergangenheit. Es ist unvermeidlich, dass mit dem Entstehen eines derartigen Klimas das Interesse an Leben und Werk Leo Trotzkis wieder erwachen wird. Das geschah während der letzten großen Welle der Radikalisierung von Arbeitern und Studenten. Die politisch nachdenklicheren Teile der Bourgeoisie erkennen diese Gefahr und fürchten sie. Man sollte die scharfsinnigen Bemerkungen von Robert J. Alexander zur Kenntnis nehmen, der in seinem enzyklopädischen Werk "International Trotskyism", veröffentlicht 1991 bei Duke University, schrieb:

"Der internationale Trotzkismus genießt zwar nicht die Unterstützung einer etablierten Regierung, wie die Erben des Stalinismus; doch das Weiterbestehen der Bewegung in vielen Ländern bei gleichzeitiger Instabilität des politischen Lebens der meisten Nationen der Welt bedeutet, dass die Möglichkeit eines Machtantritts einer trotzkistischen Partei in nicht allzu ferner Zukunft nicht völlig ausgeschlossen werden kann." [110]

Heute, so wissen wir, ist die Zeit von Präventivkriegen, und diese Bücher sind eine Art Präventivschlag, um zu verhindern, dass der Trotzkismus erneut Einfluss gewinnt. Deshalb geben angesehene Verlagshäuser wie Routledge und Longman Biographien in Auftrag, wie sie von Thatcher und Swain produziert wurden.

Die politische Krise kommt mit einer tiefgreifenden geistigen Krise zusammen. Wie soll man die wohlwollende Aufnahme dieser beiden jämmerlichen Bücher erklären? Das hängt meiner Ansicht nach mit der Vorherrschaft reaktionärer Denkweisen seit mehr als einem Vierteljahrhundert zusammen, Denkweisen, die dem Postmodernismus nahe stehen und allein die Auffassung, dass es eine objektive Wahrheit gebe, ablehnen. Im Laufe der Besprechung dieser beiden Biographien habe ich mehrmals E.H. Carr erwähnt, und das tue ich jetzt noch einmal. Vor beinahe einem halben Jahrhundert warnte er davor, dass das Nietzschesche Prinzip Eingang in die Geschichte findet, das in "Jenseits von Gut und Böse" formuliert wird: "Die Falschheit eines Urteils ist uns noch kein Einwand gegen ein Urteil." [111] Die heutige Zurückweisung objektiver Wahrheit mit der Begründung, es gehe nur um die innere Stimmigkeit einer Erzählung, die nach ihren eigenen Maßstäben beurteilt werden müsse, steht einer ernsthaften wissenschaftlichen Arbeit, ja sogar dem rationalen Denken überhaupt feindselig gegenüber. Damit wird ein geistiges Klima gefördert, in dem "alles erlaubt ist", in dem Fälschungen Konjunktur haben, das keinen Protest kennt, wenn Geschichtslügen verbreitet werden.

Und was bedeutet das? Am Anfang dieses Essays ging ich auf die Moskauer Prozesse und Stalins Terror ein. Ich erklärte, dass das, was mit Geschichtsfälschungen begann, im Massenmord endete. Dieser Prozess wiederholt sich in unserer Zeit. Wer die Bedeutung und die Auswirkungen von Geschichtslügen ermessen will, muss nur an die Lügen denken, die benutzt wurden, um die öffentliche Meinung auf den Krieg gegen den Irak vorzubereiten. "Massenvernichtungswaffen" war eine Lüge, die bereits Hunderttausende das Leben gekostet hat.

Eine neue Generation steht heute vor gewaltigen und lebensbedrohlichen Problemen. In allen Lebensbereichen ist sie mit Krise und Verfall konfrontiert. Die Zukunft des Planeten selbst steht in Frage, wenn auf die Krise des Weltkapitalismus keine Antwort gefunden wird. Das Studium der Geschichte muss eine zentrale Rolle spielen bei der Entdeckung dieser Antworten, auf die die Menschheit im 21. Jahrhundert angewiesen ist. Doch wie kann die Geschichte studiert werden, wenn sie gefälscht wird? Die Arbeiter und Jugendlichen der Welt brauchen Wahrheit, und der Kampf, sie zu entdecken und zu verteidigen, ist die geistige Triebkraft menschlichen Fortschritts.

Anmerkungen:

[83] Thatcher, S. 151

[84] Thatcher, S. 156

[85] Thatcher, S. 179-81.

[86] Kein ernst zu nehmender zeitgenössischer Historiker vertritt die These, Hitlers Sieg sei in jeder Hinsicht unvermeidlich gewesen. Genauer gesagt, wird bis heute allgemein hervorgehoben, wie sehr Hitlers Aufstieg zur Macht an bestimmte Bedingungen geknüpft war. So schreibt Ian Kershaw, Autor einer vielbeachteten zweibändigen Hitler-Biographie: "Hitlers Machtübernahme war keinesfalls unvermeidlich, war kein Naturereignis. Wenn Hindenburg Schleicher den Auflösungserlass gewährt hätte, wie er es im Falle Papens bereitwillig getan hatte, und die Neuwahlen über die verfassungskonforme 60-Tage-Frist hinaus verschoben hätte, wäre es möglich gewesen, einen Kanzler Hitler zu vermeiden. Da die wirtschaftliche Trendwende ebenso bevorstand wie ein Zusammenbruch der NS-Bewegung, falls diese nicht bald die Macht übernahm, hätte die Zukunft sogar unter einem autoritären Kabinett ganz anders ausgesehen. Sogar als das künftige Kabinett am 30. Januar um elf Uhr über den Streitigkeiten zwischen Hitler und Hugenberg den Präsidenten warten ließ, hätte die Kanzlerschaft Hitlers noch platzen können. Die Geschichte vom Aufstieg nach bescheidenen Anfängen, der über einen ‚Triumph des Willens’ im Griff nach der Macht gipfelte, war der Stoff, aus dem die nationalsozialistische Legende gewebt wurde. Tatsächlich spielten bei Hitlers Weg ins Kanzleramt politische Fehlkalkulationen derer, die regelmäßig Zugang zu den Vorhöfen der Macht hatten, eine größere Rolle als persönliche Aktionen des NS-Führers." (Hitler 1889-1936; Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart, 1998), S. 524-25.

[87] Thatcher, S. 203.

[88] Carr schrieb, dass "der siebte Kongress den tiefsitzenden Trend ans Tageslicht gebracht hat, der für den aufmerksamen Kritiker schon lange sichtbar war, die Ziele der Komintern mit der Politik der UdSSR gleichzusetzen; und nach dem paradoxen Erfolg des Kongresses schien die Komintern keine reale Bedeutung mehr zu haben. Bezeichnenderweise wurde kein weiterer Kongress und keine weitere wichtige Sitzung des EKKI (Exekutivkomitee der Komintern) mehr einberufen. Die Komintern erfüllte weiterhin untergeordnete Funktionen, während die Aufmerksamkeit des Publikums in eine andere Richtung gelenkt wurde. Trotzkis Urteil, dass der siebente Kongress der Komintern als ‚Kongress der Auflösung’ in die Geschichte eingehen würde, war nicht ganz ungerechtfertigt. Der siebente Kongress wies den Weg zum dénouement im Jahr 1943 [der formalen Auflösung der Komintern 1943]." [ Twilight of the Comintern, 1930-35, New York, 1982), S. 427.

[89] Thatcher, S. 204

[90] The Comintern and the GPU ist enthalten in dem Buch Stalin’s Gangsters von Leo Trotzki, London, New Park, 1977. Der verstorbene Harold Robbins (1908-1987), Leiter der Wachmannschaft Trotzkis in Coyoacan von 1939-40, teilte dem Verlag mit, dass Trotzki diesen Titel für eine Artikelsammlung über die Aktivitäten der GPU vorgeschlagen hatte.

[91] Thatcher, S. 206.

[92] Trotzki Schriften 1.1, Sowjetgesellschaft und stalinistische Diktatur 1929-1936, Hamburg 1988, S. 536

[93] Thatcher, S. 234

[94] Der Artikel, auf den sich Thatcher bezieht, heißt "Stalin in June 1941: A Comment on Cynthia Roberts", von Steven J. Main, in Europe-Asia Studies, Vol. 48, No. 5 (Juli 1996), S. 837-39. Professor Mains Kommentar war eine Erwiderung auf Cynthia Roberts’ "Planning for War: The Red Army and the Catastrophe of 1941" in Europe-Asia Studies, Vol. 47, No. 8 (Dezember 1995), S. 1293-1326.

[95] Es gehört zu Thatchers bevorzugten rhetorischen Tricks, eine äußerst kontrovers diskutierte historische Frage als erledigt zu erklären. Er macht einen Artikel ausfindig, der seine Meinung stützt, und verkündet dann, dieser Artikel sei "überzeugend". Natürlich sind viele Fachleute weiterhin nicht überzeugt. Zu Stalins Verantwortung für die Katastrophe von 1941 schreibt beispielsweise David E. Murphy: "Stalins persönliche Verantwortung für die kolossalen Verluste, insbesondere in den ersten tragischen Monaten des Kriegs, kann nicht verniedlicht oder geleugnet werden" (What Stalin Knew: The Enigma of Barbarossa, New Haven and London: 2005), S. 247.

[96] "Anti-Semitic Devices," January 30, 1937 (Writings of Leon Trotsky 1936-37, New York, 1978), S. 177.

[97] Ein Biograph wäre durchaus berechtigt, die kulturellen, psychologischen und politischen Aspekte der jüdischen Herkunft Trotzkis zu erkunden. Einige Biographen haben dies früher bereits versucht, wenn auch nicht sehr erfolgreich. Doch Thatcher bekundet kein besonderes Interesse an dieser Frage, und gerade das macht seine plumpen und faktisch falschen Verweise auf "die Bronsteins" besonders merkwürdig und verdächtig.

[98] Thatcher, S. 197.

[99] Thatcher, ebenda.

[100] John Dewey, Volume 11: 1935-37, ed. Jo Ann Boydston (Carbondale: Southern Illinois University Press, 1991), S. 323.

[101] Bei der Bekanntgabe der Ergebnisse der Untersuchung bemerkte John Dewey: "Die Mitglieder der Kommission waren ausnahmslos entsetzt über den völlig verleumderischen Charakter des gesamten Moskauer Prozesses, der gleichzeitig fragwürdig und bösartig war." [Ebenda, S. 324]

[102] Der Romancier Sir Walter Scott verurteilte es treffend als "Bastard-Urteil."

[103] Thatcher, S. 224.

[104] G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, Westberlin 1984, S. 19

[105] Thatcher, S. 215

[106] In einem einschlägigen Absatz schreibt Trotzki folgendes: "Übrigens erwartete Marx, die sozialistische Revolution würde von den Franzosen begonnen, von den Deutschen fortgesetzt und von den Engländern abgeschlossen werden; was die Russen betrifft, so blieben sie weit in der Nachhut zurück. Doch in Wirklichkeit kam es umgekehrt. Wer heute Marx’ universal-historische Konzeption mechanisch auf den Sonderfall der UdSSR in ihrer gegenwärtigen Entwicklungsstufe anzuwenden versucht, wird sich bald in unentwirrbare Widersprüche verstricken." (Verratene Revolution, Essen, 1997, S.1998-99).

[107] The Challenge of the Left Opposition 1928-29 (New York, 1981), S. 349.

[108] Thatcher hat auch die Rede Trotzkis vom 14. November 1922 auf dem vierten Kongress der Kommunistischen Internationale übersehen. Trotzki sprach unmittelbar zu Marx’ Spekulation über die Möglichkeit eines Übergangs zum Sozialismus auf der Grundlage von Bauernkommunen. Er sagte: "1883 äußerte Marx in einem Brief an Nicholas Danielson, einen der Theoretiker der russischen Volkstümler (Narodniki), dass bei einer Machtergreifung des Proletariats in Europa, ehe die Geschichte die russische Obschina (dörfliche landwirtschaftliche Kommune) völlig zerstört haben würde, dass dann sogar diese Obschina zu einem der Ausgangspunkte einer kommunistischen Entwicklung werden könnte. Und Marx hatte damit absolut recht." ["Die Neue Ökonomische Politik und die Weltrevolution", in The First Five Years of the Communist International, Vol. Two (London, 1974), S. 230]

[109] "Stalin and Stalinism: A Review Article," in Europe-Asia Studies (Volume 56, No. 6, September 2004), S. 918.

[110] Alexander, S. 32.

[111] Zitiert nach http://gutenberg.spiegel.de/nietzsch/jenseits/jense001.htm

Siehe auch:
Teil 1: Siebzig Jahre seit Stalins Jahr des Terrors
(5. Juni 2007)
Teil 2: Die Erforschung Trotzkis nach dem Fall der UdSSR
(7. Juni 2007)
Teil 3: Die Methode von Ian Thatcher
(8. Juni 2007)
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