Lokführerstreik:

Bahn versucht Lokführer in die Ecke zu drängen

Nachdem die Lokführer am vergangenen Freitag mit einem ganztägigen Streik große Teile des Nah- und Regionalverkehrs lahmgelegt hatten, legte der Bahn-Vorstand der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) am gestrigen Montag ein neues Angebot vor.

Das neue Angebot unterscheidet sich nur in einem Punkt vom bisherigen: Zur Entgeltung bereits geleisteter Überstunden will die Bahn eine Einmalzahlung von maximal 1.400 Euro leisten. Bisher wurden die Überstunden auf ein Arbeitszeitkonto gutgeschrieben. Die Lokführer sollen also für etwas bezahlt werden, auf das sie ohnehin Anspruch haben. "Das sind Leistungen, die den Lokführern ohnehin vergolten werden müssen, wie auch immer das passiert," sagte GDL-Vize Günther Kinscher.

Ansonsten bleibt es beim alten Angebot: Einer Entgelterhöhung von 4,5 Prozent und einer Einmalzahlung von 600 Euro, wie die Bahn beides bereits im Sommer mit den Gewerkschaften Transnet und GDBA vereinbart hat, sowie weitere 5,5 Prozent, wenn die Lokführer zukünftig 43 statt 41 Stunden in der Woche arbeiten.

Die Bahn behauptet auch, sie habe die Forderung der GDL nach einem eigenständigen Tarifvertrag erfüllt. Die Bahn sei bereit, einen "eigenen Tarifvertrag" für Lokführer abzuschließen, erklärte die Personalchefin der Bahn Margret Suckale am Montag auf einer Pressekonferenz. Ein solcher Vertrag müsse sich aber "konflikt- und widerspruchsfrei in das DB-Gesamttarifwerk einpassen".

Die GDL bestreitet hingegen, dass ihre Forderung erfüllt sei. Das Angebot enthalte "im Grunde nichts Neues", sagte GDL-Chef Manfred Schell. Die Bahn habe ein Angebot präsentiert, "das wir bereits einmal abgelehnt haben".

Den angebotenen eigenen Tarifvertrag bezeichnete Schell als "Täuschung". Einen eigenen Tarifvertrag hätten die Lokführer bereits seit Jahren, sagte er. Die GDL fordere dagegen einen "eigenständigen" Tarifvertrag.

Der Unterschied ist mehr als eine semantische Spitzfindigkeit. Der GDL geht es um die Tarifhoheit, d.h. sie will selbständig über Arbeitszeiten und Löhne verhandeln können. Suckale dagegen betonte, die lokführerspezifischen Regelungen müssten von der GDL "innerhalb der Tarifeinheit", d.h. unter Einbeziehung der anderen Gewerkschaften, verhandelt werden.

Das Angebot der Bahn macht deutlich, dass sie nicht bereit ist, den Lokführern entgegen zu kommen. Diese verlangen eine Entgelterhöhung bis zu 31 Prozent, eine Verringerung der Wochenarbeitszeit von 41 auf 40 Stunden sowie bessere Arbeitszeitregelungen. Das Angebot, bereits geleistete Überstunden zu vergüten, grenzt an eine Provokation. Selbst ein Sprecher der Bahn musste zugeben: "Wir haben einen erheblichen Mangel an Lokführern. Die Überstunden machen sie sowieso."

Trotzdem hat die GDL vorläufig alle weiteren Streikaktionen abgesagt. Sie will sich am Mittwoch zu weiteren Gesprächen mit dem Bahn-Vorstand treffen.

GDL-Chef Schell hat wiederholt zu erkennen gegeben, dass er bereit ist, die ursprüngliche Tarifforderung deutlich zu senken, wenn die Bahn der GDL einen eigenständigen Tarifvertrag zugesteht. Damit wäre die Zukunft seiner Organisation gesichert, die nur etwa 35.000 Mitglieder hat und von der weitaus größeren Transnet erdrückt zu werden droht. Mit anderen Worten, Schell ist bereit, die Forderungen der Lokführer den organisatorischen Interessen des Gewerkschaftsapparats zu opfern.

Die Bahn nutzt die nachgiebige Haltung der GDL, um die Lokführer in die Ecke zu drängen und zu zermürben. Obwohl sich bereits Anfang August 96 Prozent der stimmberechtigten GDL-Mitglieder für einen unbefristeten Streik ausgesprochen hatten, hat die Gewerkschaft den Arbeitskampf immer wieder hinausgeschoben und nach einem faulen Kompromiss gesucht.

Vergangenen Woche sah es dann so aus, als sei eine offene Konfrontation nicht mehr zu vermeiden. Bahnchef Mehdorn sprach von "Krieg" und machte der GDL-Führung einen Rückzug ohne vollständigen Gesichtsverlust unmöglich. Es wurde deutlich, dass es der Bahn nie wirklich darum gegangen war, einen Kompromiss zu erzielen, sondern einem unliebsamen, kämpferischen Teil der Belegschaft eine Lektion zu erteilen.

Die Bahn hatte dabei die Unternehmerverbände, die Bundesregierung, die Bahngewerkschaften Transnet und GDBA sowie den DGB hinter sich. Sie alle fürchteten, eine Erfolg der Lokführer werde eine Lawine auslösen und andere Arbeiter ebenfalls zu hohen Lohnerforderungen ermutigen. Nach zwei Jahrzehnten stagnierenden oder sinkenden Löhnen bei wachsendem Arbeitsdruck und einem massiven Anstieg der Gewinne und Managergehälter sind viele die Umverteilung von unten nach oben satt.

Obwohl sich Politik und Medien intensiv bemühten, die Lokführer zu diskreditieren, blieb die Unterstützung in der Bevölkerung unverändert hoch. Die Süddeutsche Zeitung kommentierte dies letzte Woche: "Es ist interessant, dass sich der Zorn der Deutschen offenkundig immer noch nicht einhellig gegen die Lokführer richtet - obwohl sie bis zu 30 Prozent mehr Lohn fordern und seit Wochen den Bahnverkehr im Land bedrohen und mitunter stilllegen. Die Zahl derer, die dennoch Verständnis für die renitenten Arbeitnehmer im Führerstand haben, ist unverändert groß. Und dies, obwohl Politik und Medien sich weitgehend auf die Lokführer eingeschossen haben."

Unter diesen Umständen beschloss die Bundesregierung einzugreifen. Mit Sorge wurde im Kanzleramt die Unterstützung für die Lokführer registriert. Die Regierung befürchtete offenbar, dass eine Verschärfung des Konflikts und ein unbefristeter Streik der Lokführer zum Auslöser für weitere soziale Auseinandersetzungen auch in anderen Bereichen werden könnte.

Werner Müller, der als Aufsichtsratschef der Bahn die Interessen des hundertprozentigen Anteilseigners Bund vertritt, lud für den Donnerstag vergangener Woche zu einem Spitzengespräch in Berlin ein. Müller war unter Gerhard Schröder Wirtschaftsminister und ist derzeit Vorstandschef der Ruhrkohle AG. An dem Gespräch nahm neben Müller, dem GDL-Vorsitzende Manfred Schell, Bahn-Chef Hartmut Mehdorn und Transnet-Chef Norbert Hansen auch Verkehrsstaatssekretär Jörg Hennerkes (SPD) als Vertreter der Bundesregierung teil.

In dem Gespräch wurde dann vereinbart, dass die Bahn am Montag ein neues Angebot vorlegt. Einigen Quellen zufolge soll sich die GDL auch verpflichtet haben, bis Ende des Monats nicht mehr zu streiken - was von dieser allerdings bestritten wird.

Die Streikbereitschaft der Lokführern war inzwischen derart angestiegen, dass die GDL noch vor Beginn des Spitzengesprächs für Freitag einen ganztägigen Streik im Nah- und Regionalverkehr (den Fern- und Güterverkehr darf die GDL nach einem Urteil des Arbeitsgerichts Chemnitz nicht bestreiken) ausrief und diesen auch nach dem Gespräch nicht absagte. Sie wollte offensichtlich Dampf ablassen.

Der Streik wurde weitgehend befolgt. Die Bahn setzte beamtete Lokführer und Nicht-GDL-Mitglieder ein, um wenigstens einen Teil des Verkehrs aufrecht zu erhalten. Nach Bahn-Angaben fiel bundesweit jeder zweite Regionalzug und jede zweite S-Bahn aus, die GDL sprach von rund 85 Prozent.

Stimmen der Lokführer

Mitarbeiter der World Socialist Web Site sprachen während des Streiks am Essener Hauptbahnhof mit dem Lokführer Ayhan Demir. Allein in Essen waren 80 bis 90 Lokführer im Streik und Ayhan Demir war stolz über dessen Auswirkungen: "Es ist eine Menge lahm gelegt worden. Obwohl die GDL hier nur 40 Prozent der Bahnbeschäftigten organisiert hat, sind in Nordrhein-Westfalen zwei Drittel aller S-Bahnen lahm gelegt und 50 Prozent der Regional-Express und Regional- Bahnen."

Was denken Sie über die gerichtlichen Verbote des Streiks?

Das widerspricht absolut dem Grundgesetz. Es ist für mich unverständlich, dass deutsche Richter meinen, sie könnten das Grundgesetz durch einen Richterspruch außer Kraft setzen, um unseren Streik zu verbieten. Das hat doch nichts mehr mit Rechtstaatlichkeit zu tun. Allein das Argument der Verhältnismäßigkeit ist für mich nicht nachvollziehbar. Man kündigt einen dreistündigen Streik an - 3 Stunden, nicht 3 Tage oder 3 Wochen - und dann wird behauptet, das sei "unverhältnismäßig" und fügt dem Konzern großen Schaden zu. Nicht nachvollziehbar.

Die Bahn hat ihre Verbündeten auch in der Bundesregierung.

Die Bahn hat ihre Verbündeten in der Politik und sie hat ihre Verbündeten in den Medien, auch weil sie große Werbeaufträge vergibt. Das ist ein Netzwerk, das muss man einfach so sehen. Ich verstehe auch nicht, wieso ein Arbeitgeber eine Ausstiegsklausel im Tarifvertrag unterschreibt, mit der er sich selbst fesselt und knebelt. Wenn es der GDL gelingt, mehr als die 4,5 Prozent zu bekommen, die Transnet vereinbart hat, dann ist der Tarifvertrag nichtig. Dann können sie wieder neue Forderungen aufstellen. Wenn man als Bahnchef so etwas unterschreibt, dann geschieht das einzig und allein aus politischem Kalkül. Das ist kein normaler Tarifstreit mehr. Es ist ein Vernichtungsfeldzug gegen die GDL.

Was denken Sie, ist der Grund dafür?

Das ist keine normale Tarifauseinandersetzung, sondern eine politische Auseinandersetzung. Natürlich ist es [Bahnchef] Mehdorn lieber mit einer Gewerkschaft an die Börse zu gehen, die ihm lieb und treu ist, als mit einer Gewerkschaft, die ihm alle naselang dazwischen schießt. Das ist doch logisch.

Dabei hat die Bahn letztes Jahr allein 2,6 Milliarden Euro Überschuss gemacht, nach Mehdorns eigenen Angaben. Sein eigenes Gehalt ist in einem Jahr verdoppelt worden. Die Einkommen des gesamten Bahnvorstands ist seit 1994 um 300 Prozent gestiegen. Dagegen sind unsere Forderungen doch eher bescheiden. Dass wir maßlos sind, ist reine Polemik, aber das Gehört dazu. Der Wettbewerb zwischen verschiedenen Eisenbahngesellschaften geht über die Personalkosten.

Wie ist die Unterschützung seitens der Bevölkerung?

Ich muss sagen, die meisten sind uns sehr wohl gesonnen. Es ist ganz selten, dass es zu einer negativen Stimmung kommt. Und selbst diejenigen, die sich massiv über uns beschwert haben, sind dann nach einer kürzeren Diskussion schließlich doch noch voll auf unsere Seite gekommen. Diejenigen, die sauer sind - das liegt nur daran, dass die Medien Unwahrheiten verbreiten. Aber wenn man den Leuten die Fakten erklärt, dann verstehen sie das schon.

Wie steht es mit dem Gehalt und der Schichtarbeit?

Es gibt sehr unregelmäßige Schichtarbeit, noch nicht einmal geregelte Schichten wie von 6 bis 14 Uhr, 14 bis 22 und von 22 bis 6 Uhr. Die Schichten sind absolut unregelmäßig, auch über die Wochenenden und Feiertage. Die meisten Leute sind davon ausgegangen, dass wir nicht unwesentlich weniger verdienen als die Piloten. Vielleicht ein bisschen weniger, als die Piloten, aber recht ordentlich, ja? Das war in die Öffentlichkeit gar nicht bekannt, dass eine Tarifkraft mit 1500 und 1600 Euro Netto nach Hause geht.

Im europäischen Vergleich verdienen die deutschen Lokführer mit großem Abstand weit weniger als ihre Kollegen. Doch das weiß doch keiner. Auch der Konkurrenzdruck ist jetzt schon größer geworden durch die ersten Teilprivatisierungen.

Die gleiche Entwicklung ist auch in andere Bereichen zu sehen, wie bei der Telekom.

Das ist richtig. Ich habe gehört, dass die Tochtergesellschaft der Deutschen Post in den Niederlanden noch nicht einmal den dortigen gesetzlichen Mindestlohn zahlt. Hier hat sie einen Mindestlohn vereinbart und fordert auch ihre Konkurrenten auf, diesen einzuhalten. Die Wirtschaft nimmt immer alles, so wie es ihr eben gerade passt. Die schreien nach Regulierung und Deregulierung, je nachdem wie dies in ihren Kram passt.

Streikkundgebung am Frankfurter Hauptbahnhof

Vor dem Frankfurter Hauptbahnhof sprach die WSWS mit einer Gruppe GDL-Mitgliedern, die dort eine ganztägige Streikkundgebung abhielten. Mehrere Lokführer kannten eine Erklärung der WSWS und der Partei für Soziale Gleichheit, die als Flugblatt verteilt worden war, und äußerten sich zustimmend.

Tim C., der seit acht Jahren als Lokführer arbeitet und von Frankfurt aus im Nah- und Regionalverkehr fährt, bezweifelte, dass der eintägige Streik den Bahnvorstand zum Einlenken bewegen werde. Die Medien und die Politiker seien nur daran interessiert, die Bahn für den Börsengang fit zu machen. Dagegen anzukommen sei nicht so leicht.

"Die Medien sind wohl doch nicht so frei und unabhängig, wie es immer heißt. In Interviews im Fernsehen sprechen sie sich regelmäßig für den Börsengang aus", sagte er. "Außerdem erklären sie nie, was es mit dem Angebot von 10 Prozent Lohnerhöhung auf sich hat, das die Bahn angeblich gemacht hat, dass nämlich 5,5 Prozent davon durch verlängerte Arbeitszeit erkauft werden müssen."

Die Streikbrecherrolle der großen Eisenbahnergewerkschaft Transnet und ihres Vorsitzenden Hansen erklärte er mit den Worten: "Man kann nicht zugleich stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender [bei der Bahn] sein, und daraus natürlich einen großen finanziellen Vorteil ziehen, und gleichzeitig die Interessen der Gewerkschaftsmitglieder vertreten."

Er äußerte sich auch kritisch über die zögerlichen Handhabung des Streiks durch die GDL-Führung. "Die GDL geht nicht sehr professionell vor, das kann man wirklich nicht sagen. Sie macht es dem Bahnvorstand ziemlich leicht, unsere Aktionen zu unterlaufen."

Er berichtete von Solidaritätserklärungen belgischen Eisenbahner, die versprochen hätten, keine zusätzliche Arbeit im grenzüberschreitenden Verkehr zu übernehmen, und betonte: "Eine große europäische Lokführergewerkschaft wäre bestimmt ein großer Fortschritt und eine Stärkung."

Siehe auch:
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