Wahlen in Marokko decken tiefe Kluft zwischen Regierung und Bevölkerung auf

Fünf Wochen nach den Parlamentswahlen ist in Marokko am 15. Oktober eine neue Regierung ernannt worden. Trotz massiver Wahlenthaltung und einem knappen Wahlsieg der gemäßigt islamistischen Partei hat man sich offenbar durchgerungen, die Mitte-Rechts-Koalition, die seit 2002 das Land regiert, mit geringen Änderungen beizubehalten.

Bei den Parlamentswahlen vom 7. September waren die Wähler in großer Zahl den Urnen ferngeblieben. Obwohl alle Parteien des politischen und wirtschaftlichen Establishments sich mächtig ins Zeug legten, um eine Wahlbeteiligung nicht unter fünfzig Prozent zu erreichen, enthielten sich am Ende 63 Prozent der Wahlberechtigten der Stimme. Die Wahlbeteiligung erreichte vierzig Prozent auf dem Land und in den Städten gerade mal dreißig Prozent, wie der marokkanische Innenminister einräumen musste. In Casablanca, der größten Stadt des Landes, waren es sogar nur 27 Prozent und in Tanger 22 Prozent. Außerdem waren 19 Prozent der abgegebenen Wahlzettel leer oder ungültig.

Die Wahlen wurden von der marokkanischen Monarchie, den etablierten politischen Kreisen und der nationalen und internationalen Presse als wichtiger Schritt in Richtung "Demokratisierung" und "Modernisierung" des Landes präsentiert, als Garantie für mehr Transparenz und Glaubwürdigkeit der Regierung in den Augen jener Länder, die als Partner Marokkos in Frage kommen. Viel Wesens wurde um die "marokkanischen und internationalen Beobachter" gemacht, die das Wahlgeschehen überwachen sollten. Sie ließen im Nachhinein verlauten, die Wahl sei "zu ihrer Zufriedenheit" verlaufen. Potentielle Investoren sollten die Wahlen als bewussten Bruch mit einem unberechenbaren und beispiellos korrupten Wirtschafts- und Politiksystem wahrnehmen.

Die marokkanische Elite setzte außerdem ihre Hoffnungen auf eine hohe Wahlbeteiligung, da dies, unabhängig von den Resultaten einzelner Parteien, dazu hätte beitragen können, ein zunehmend instabiles Regime zu festigen und ihm bei künftigen Unternehmungen mehr politische Legitimität zu verleihen. Diese Rechnung ist nicht aufgegangen.

Unter Bedingungen, wo jede wirkliche Opposition gegen das Regime geknebelt wird, drückt die massive Wahlenthaltung die tiefe Unzufriedenheit der marokkanischen Bevölkerung mit den gesellschaftlichen Zuständen und ihr Misstrauen in die Politik der Regierung und der sie stützenden Parteien aus. Einige Zeitungsartikel sprachen von einer "Verweigerungshaltung" gegen das gesamte herrschende System. Am Tag nach der Wahl schrieb die französische Tageszeitung Le Monde : "Die Wahlbeteiligung ist auf ein historisches Tief abgesunken. (...) Ein derartiges Desinteresse kommt einer Wahlschlappe für die marokkanische Obrigkeit und die mit ihr verbündeten Parteien gleich."

An der Wahl, die im Prinzip nach dem Verhältniswahlrecht abläuft, hatten sich insgesamt 33 Parteien beteiligt. Infolge des Wahlsystems konnte keine Partei allein die klare Mehrheit gewinnen, weshalb sich die stärksten Parteien von vorneherein auf eine regierende Mehrparteienkoalition einstellen mussten. Keine der führenden Parteien hat mehr als elf Prozent der Stimmen erreicht.

Einige Parteien hatten zum Boykott der Wahl aufgerufen, unter ihnen die islamistische Gerechtigkeits- und Wohlfahrts-Partei, die zwar nicht zugelassen ist, aber toleriert wird, wie auch Demokratische Stimme, eine Partei am linken Rand des Spektrums.

Obwohl die moderaten Islamisten der PJD (Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei) mit 10,9 Prozent am meisten Stimmen verzeichneten, steht diese Partei infolge besonderer Wahlbestimmungen bei der Sitzverteilung nur an zweiter Stelle. Die meisten Sitze hat die konservative Istiqlal (Unabhängigkeitspartei) mit 10,7 Prozent der Stimmen inne. Istiqlal hat 52 Sitze, und die PJD 46 Sitze. Die Volksbewegung (MP, Mouvement populaire), eine Partei der Berber, hat 41 Sitze, und die nationale Unabhängigkeitsversammlung (RNI, eine rechte Zentrumspartei) hat 39 Sitze. Die Sozialistische Union der Volkskräfte (USFP, Sozialdemokraten) kommt auf 38 Sitze, die Konstitutionelle Union auf 27 Sitze und die Partei für Fortschritt und Sozialismus (PPS, gewendete Stalinisten) auf 17 Sitze. Das marokkanische Parlament hat im Ganzen 325 Sitze.

Alle Parteien, die sich seit der letzten Wahl von 2002 an der bestehenden Regierungskoalition beteiligt hatten, haben Stimmen und Sitze eingebüßt. Der Demokratische Block, der aus Istiqlal, USFP und PPS besteht und den harten Kern der bisherigen Regierungskoalition ausmacht, ist von 134 auf 105 Sitze zurückgefallen.

Die USFP und die PPS sind die großen Verlierer dieser Wahlen. Die USFP, die Anlass zu großer Hoffnung bot, solange sie sich in der Opposition befand, schlug ein aggressives Programm von Privatisierungen und Angriffen auf soziale Errungenschaften ein, sobald sie an der Regierung war. Diese Partei unterstützt außerdem die Repressionen des Regimes gegen Journalisten. Die USFP, die 2002 mit 50 Sitze den Rang der stärksten Partei einnahm, ist am 7. September mit 38 Sitzen auf den fünften Rang zurückgefallen.

In den politischen Kreisen Marokkos ging die Spekulation und vielleicht auch die Hoffnung um, dass sich die moderaten Islamisten als Alternative zu den diskreditierten Gruppierungen durchsetzen würden. Dies hätte dazu beitragen können, der islamistischen Radikalisierung eines Teils der Bevölkerung entgegenzuwirken. Die Medien hatten den gemäßigten Islamisten einen bedeutenden Sieg vorausgesagt, der aber nicht eingetreten ist. Obwohl die PJD die Istiqlal in den großen Städten überflügelt hat, hat sie nur etwas mehr als die Hälfte der von ihr erhofften 80 Sitze erobert. Die PJD wird nicht als Gefahr für das marokkanische Regime wahrgenommen.

In den letzten zehn Jahren verzeichneten die islamistischen Parteien eine Menge Zulauf. Im Jahr 2002 konnten sie die Anzahl ihrer Sitze im Parlament verdreifachen. Das Regime verschob die für Juni 2003 vorgesehenen Kommunalwahlen, weil es eine starke Zunahme der Islamisten fürchtete. Nach dem blutigen Bombenattentat vom Mai 2003 in Casablanca ging die Rede von der "islamistischen Gefahr" um. In Casablanca kam es noch im März und April 2007 zu weiteren Selbstmordattentaten. Schließlich erblickte man in den gemäßigten Islamisten der PJD ein Mittel zur Eindämmung der islamistischen Radikalisierung eines Teils der Bevölkerung, besonders der Jugend.

Die Monatszeitung Monde diplomatique schrieb dazu im August 2007: "Laut Mustafa Khalfi, Politikwissenschaftler und Mitglied des Parteirats der PJD, müssen die USA beweisen, dass sie kein Problem mit dem Islam haben: ‚Also sehen sie die moderat islamistische PJD als Vorbild für andere arabische und muslimische Länder.’ Abdelwahed Moutawakil, Führer des politischen Arms von al-Adl wal-Ihsan, berichtet von ähnlichen Erfahrungen: ‚Die Amerikaner besuchen uns regelmäßig. Sie sind intelligenter als die Franzosen, die regelmäßig ihre Leute bedrängen, Treffen mit uns abzusagen. Die Amerikaner wissen, das wir in Marokko etwas zum Kampf gegen die Ausweitung des Terrors beitragen können.’"

Das marokkanische Regime hat sich in den letzten Jahren demonstrativ an die Seite des amerikanischen Imperialismus gestellt und hat die Invasion im Irak unterstützt, während die große Mehrheit der marokkanischen Bevölkerung den Krieg ablehnt. König Mohammed VI. hat Marokko in die "Koalition der Willigen" eingereiht, die den Irakkrieg unterstützt.

Die Bush-Regierung hat Marokko in den letzten Jahren oft als Beispiel für eine mustergültige Freihandelszone genannt. Colin Powell besuchte Marokko als amerikanischer Außenminister während einer Tournee durch den Maghreb und den Nahen Osten, bedankte sich für die Unterstützung im "Kampf gegen den Terror" und kündigte eine massive Erhöhung der Finanzhilfen, die Verdoppelung der Militärunterstützung und eine Vervierfachung der Wirtschaftshilfe an.

Marokko unterhält CIA-Gefängnisse und liefert Folterknechte für das amerikanische "Rendition"-Programm, die Überstellung terrorverdächtiger US-Häftlinge. Das marokkanische Regime steht außerdem, getreu seiner prozionistischen Haltung, ganz offen an der Seite Israels bei dessen Angriffen auf die Palästinenser. Im Gegensatz dazu hat sich die marokkanische Bevölkerung vehement gegen den Irakkrieg gewandt. In Marokko ist es zu Demonstrationen gegen den Irakkrieg gekommen, die zu den größten der gesamten arabischen Welt zählten. Dabei hörte man oft den Slogan: "Wir sind alle Iraker."

Die soziale Krise hat sich in den letzten Jahren erheblich verschlimmert. Dies zeigt sich vor allem an einem starken Anwachsen der sozialen Ungleichheit und einem immer schärferen Riss durch die Gesellschaft. Armut und Arbeitslosigkeit nehmen ständig zu - letztere liegt offiziell bei dreißig Prozent - während auf der andern Seite die Infrastruktur großer Projekte von Investoren aus den USA, der EU und dem Nahen Osten finanziert werden. Das Bruttoinlandsprodukt steigt jährlich um fünf Prozent und hat im Jahr 2006 acht Prozent erreicht. Die Abwanderung aus den ländlichen Gebieten hält an, wie auch die Landflucht der Jungen aus Marokko. In den großen Städten hausen Tausende Menschen in sogenannten Bidonvilles ("Kanisterstädten") unter den erbärmlichsten Bedingungen.

Die für Marokko typischen Probleme sind nach wie vor ungelöst. Immer noch sind über fünfzig Prozent der Bevölkerung Analphabeten. Marokko ist nach wie vor das ärmste Land Nordafrikas. Von insgesamt gut dreißig Millionen Einwohnern leben über fünf Millionen Menschen unter der Armutsgrenze. Auf dem Land ist jede vierte Person davon betroffen.

Erst von kurzem wurde die Bevölkerung durch die Teuerung, besonders bei Grundnahrungsmitteln wie Brot, schwer in Mitleidenschaft gezogen. Anfang Oktober kam es in der Stadt Séfrou in Zentralmarokko zu gewaltsamen Zusammenstößen, als die Polizei gegen Demonstrierende vorging, die auf die Straße gingen, um gegen die Teuerung zu protestieren. Dabei wurden fünfzig Menschen verletzt.

Nachdem sich die Führer all jener Parteien, die über zwanzig Parlamentssitze haben, wiederholt mit dem König getroffen hatten, ernannte dieser am 19. September den Istiqlal-Führer Abbas el Fassi zum Ministerpräsidenten und beauftragte ihn, eine Regierung zu bilden. Nach der marokkanischen Verfassung ernennt der König erst den Ministerpräsidenten und dann - auf dessen Vorschlag - die einzelnen Minister. Abbas el Fassi war schon mehrmals Minister oder Botschafter, sowohl unter Hassan II. wie unter dem jetzigen König.

El Fassi brauchte über drei Wochen, um seine künftige Koalition zusammenzustellen, obwohl diese der vorherigen zum Verwechseln ähnlich sieht. Als Hauptgrund wurden "schwierige Verhandlungen" über Zahl und Bedeutung der Posten angegeben, die jede Partei für sich beansprucht. Eine Koalition mit den Islamisten wurde ausgeschlossen, obwohl diese sich bereit erklärt hatten, in die Regierung einzutreten. Auch Istiqlal war nicht abgeneigt, einer Beteiligung der Islamisten an einer Koalition mit den "säkularen" Parteien zuzustimmen, doch wurde dies schließlich ausgeschlossen. Nur wenige Tage vor Eröffnung des neuen Parlaments war die Regierung immer noch nicht offiziell ernannt, was in der marokkanischen Presse Beunruhigung auslöste.

Die neue Koalition setzt sich aus den gleichen Parteien zusammen wie die alte, die von Driss Jettou geführt wurde, nämlich aus Istiqlal, USFP und PPS, sowie aus der RNI (einer bürgerlichen Partei der rechten Mitte) und der MP (einer liberal-konservativen Partei).

All diese Parteien unterstützen die Monarchie. Zwar haben sie in der Vergangenheit immer wieder eine Verfassungsreform ins Gespräch gebracht, doch letztendlich haben sie die aktuelle Verfassung immer akzeptiert, die dem König die entscheidende politische Macht verleiht, während das Parlament nur hübsches Beiwerk darstellt. Die marokkanische Verfassung erkennt keine Gewaltenteilung an. Der König selbst ernennt die Minister der Schlüsselministerien, der sogenannten "Souveränitätsministerien". Diese sind das Außenhandelsministerium und die Ministerien des Innern, der Justiz und der islamischen Angelegenheiten.

Die Regierungskoalition wird also aus den gleichen Parteien bestehen, die jede für sich nicht einmal elf Prozent der Stimmen erhalten haben, und unter Bedingungen, wo eine große Mehrheit der Bevölkerung die Regierung gar nicht anerkennt. Dies beleuchtet die tiefe Kluft zwischen der marokkanischen Bourgeoisie und der arbeitenden Bevölkerung des Landes und zeigt das tiefe, vorherrschende Misstrauen.

Die letzte Regierung hatte eine aggressive Politik der Privatisierung öffentlicher Unternehmen verfolgt, wie auch der Deregulierung des Bildungs-, Erziehungs- und Gesundheitswesens und der Bereicherung einer schmalen Oberschicht von Profiteuren.

Eine neue Regierung wird diesen gleichen Kurs verstärkt fortsetzen und die Ausbeutung der arbeitenden Bevölkerung verschärfen. Die "Verbesserung der Wirtschaftsumgebung" wird für sie Vorrang haben, was bedeutet, dass noch günstigere Bedingungen für das Geld aus der EU, aus den Vereinigten Staaten und aus Asien geschaffen werden, um die anderen Länder Afrikas und des Nahen Ostens, wie Ägypten und die Türkei, als Plattform für die Billigproduktion auszustechen.

Schon im vergangenen Dezember hatte der frühere Premierminister Jettou, wie die Zeitschrift Jeune Afrique berichtet, anlässlich eines Besuchs beim französischen Unternehmerverband Medef französischen Unternehmern vorgeschlagen, Marokko als Plattform für jene zu nutzen, die sich im Maghreb und in der afrikanischen Subsahara engagieren wollen. Die Zeitschrift informierte: "Heute sind 485 französische Unternehmen in Marokko aktiv. Frankreich ist der erste Lieferant, der erste Kunde und der erste Sponsor des Königreichs. Überzeugt, dass es noch ein größeres ‚Erschließungspotential’ gibt, wollte Jettou aber noch weiter gehen."

Die Parteien der Koalition planen eine "Steuerreform", das heißt die Schaffung von Steueranreizen für Investoren, besonders eine Senkung der Körperschaftssteuer. Die Einkommenssteuer wurde schon 2007 gesenkt. Die fünf Koalitionsparteien haben sich bereits über eine neue Einkommenssteuer-Senkung verständigt. Aller Voraussicht nach sollen die hohen Einkommen entlastet werden.

Außerdem haben sie angekündigt, dass auch die "sozialen Fragen" für die neue Regierung Priorität haben werden, besonders die "Bekämpfung der Arbeitslosigkeit". Das Regime räumt ein, dass eins der politischen Ziele darin besteht, den Einfluss der Islamisten einzudämmen. Der "Kampf gegen Arbeitslosigkeit" muss zum Teil in diesem Zusammenhang verstanden werden.

Der direkte Einfluss des Unternehmertums auf dieses Programm ist offensichtlich. Der Vizepräsident des marokkanischen Unternehmerverbands CGEM (Confédération générale des entreprises du Maroc) forderte in einem Interview mit der Zeitung La Gazette du Maroc, die Steuer müsse von 35 Prozent auf 25 Prozent sinken, und verlangte ganz allgemein Steuererleichterungen in allen Bereichen der Wirtschaft. Außerdem forderte er eine Arbeitsrechtsreform, um die Arbeitsgesetzgebung zu deregulieren, und eine "Verbesserung der Justiz". "Die Justiz hat sich verbessert, das bestreite ich nicht", sagte er der Zeitung. "Aber wir sind noch weit von einem effizienten und wirkungsvollen System entfernt, das die Investitionen sichert und ein Klima des Vertrauens in die Gesetze und in die Justiz schafft."

Zur Einleitung dieses Interviews schrieb die Zeitung: "Die CGEM sieht der neuen Regierung ganz gelassen entgegen, die schnell handeln muss, um den Wachstumselan nicht zu bremsen. Ihr Vizepräsident, Mohamed Chaïbi, klärt uns über die Erwartungen der Unternehmer auf."

Siehe auch:
König Hassan von Marokko: Nachruf auf einen skupellosen Despoten
(25. August 1999)
Marokko beansprucht Ceuta und Melilla
(26. August 1999)
Ein zeitloses Porträt des anti-kolonialen Kampfs in Algerien: Schlacht um Algier ein Film von Gillo Pontecorvo
(27. Oktober 2004)
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