Staatschefs der Europäischen Union einigen sich in Lissabon auf Reformvertrag

Die Staatschefs aus 27 Ländern der Europäischen Union trafen sich am 18. Oktober in Lissabon zur Ratifizierung des wirtschaftsfreundlichen "Reform-Vertrags". Der Vertrag soll 2009 in Kraft treten.

Mit dieser Übereinkunft werden lange andauernden Bemühungen abgeschlossen, einen Vertrag durchzusetzen, der die Vollmachten der durch keine Wahl legitimierten EU-Bürokratie in Brüssel erweitert, und die EU in den Stand versetzt, ihren Einfluss als wichtiger Handels-, Politik- und Militärblock in der Weltarena auszudehnen.

Der in Lissabon vereinbarte Vertrag ging aus dem im Oktober 2004 in Rom verfassten, ursprünglichen Europäischen Verfassungsvertrag hervor. Erklärtes Ziel des Vertrags von Rom war eine Zentralisierung der Institutionen der EU in Form einer paneuropäischen Verfassung, die den Großunternehmen und Finanzinstitutionen optimale Bedingungen für die Deregulierung der Wirtschaftseinheiten in ganz Europa schaffen sollte. Er war Ergebnis einer Entwicklung, die mit der Verabschiedung des Vertrages von Maastricht im Jahr 1992 begonnen hatte.

In einigen europäischen Staaten wurde die Annahme des Verfassungsvertrags durch nationale Parlamente beschlossen. Als der Vertragstext jedoch einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde und im Sommer 2005 in zwei langjährigen Mitgliedsländern der EU - Frankreich und Niederlande - Volksabstimmungen durchgeführt wurden, wurde er trotz umfassender politischer und medialer Kampagnen für eine Annahme von deutlichen Mehrheiten abgelehnt.

In Frankreich veranlasste der damalige Präsident Jacques Chirac, dass der Vertrag in millionenfacher Auflage an fast alle Haushalte verteilt wurde. In der darauf folgenden Debatte wurde deutlich, dass der Vertrag ein eindeutig neoliberales Manifest war, und die Bilanzen der größten europäischen Firmen und Banken auf Kosten von Sozialleistungen, Löhnen und Arbeitsbedingungen der großen Mehrheit der europäischen Bevölkerung verbessern sollte. Als dann über ihn abgestimmt wurde, erteilte die französische Wählerschaft dem Entwurf eine entschiedene Abfuhr. Dies wiederholte sich einige Tage später in den Niederlanden.

Bei ihrer Entscheidung in Lissabon war für die europäischen Staatschefs das Wichtigste, dass sich das Debakel von 2005 nicht wiederholen durfte. Der neue Entwurf zum "Reformvertrag" soll den Wählern nicht vorgelegt werden. Die einzige Ausnahme ist Irland, wo die Durchführung einer Volksabstimmung versprochen wurde.

Seit 2005 haben sich die europäischen Staatschefs mehrfach getroffen und das Ursprungsdokument überarbeitet. Im Juni dieses Jahres kamen die europäischen Spitzenpolitiker zusammen, um unter Vorsitz Deutschlands in einem 34 Stunden dauernden Sitzungsmarathon ein überarbeitetes Dokument zu erstellen, das in Wirklichkeit aber nur wenige oberflächliche Änderungen beinhaltet.

Auf Vorschlag des französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy wird der in Lissabon verabschiedete Vertrag nicht mehr Verfassungsvertrag heißen, und Pläne für eine gemeinsame Flagge und eine europäische Hymne wurden fallengelassen. Die neoliberale, an den Interessen der Unternehmer ausgerichtete Stoßrichtung des Dokuments wurde jedoch nicht geändert.

Die britische Zeitschrift Economist schreibt: Das Dokument ähnelt der Verfassung, jedoch fehlt die zierende Präambel, und symbolische Maßnahmen, wie europäische Fahne und Hymne, wurden über Bord geworfen."

Im Vorfeld des Gipfeltreffens in Lissabon hatten eine ganze Anzahl europäischer Länder Kritikpunkte am vorgeschlagenen Entwurf eingebracht.

Italien forderte mehr Einfluss im Europäischen Parlament, wobei Regierungschef Romano Prodi 73 anstatt der vorgesehenen 72 Sitze im verkleinerten Parlament verlangte (das entspricht der Vertretung Großbritanniens).

Polen, das die Auseinandersetzungen im Juni mit einer Kampagne gegen seinen Nachbarn Deutschland losgetreten hatte, bestand in Lissabon auf seinem so genannten "Ioannina"-Mechanismus", mit Hilfe dessen bei Abstimmungen verhindert werden sollte, dass die größten Mächte, wie Deutschland, Frankreich und Italien, die europäische Agenda dominieren.

Österreich forderte die Einstellung eines Verfahrens bei der EU gegen seine Studienbeschränkungen für Studenten aus anderen europäischen Ländern, und Bulgarien wollte die europäische Währung nur übernehmen, falls in den Verträgen die Bezeichnung "Euro" durch die bulgarische Bezeichnung "evro" ersetzt wird.

Trotz der bei einigen Mitgliedsstaaten wuchernden, manchmal kleinlichen Forderungen gelang es den versammelten Staatsoberhäuptern, in der relativ kurzen Zeit von sieben Stunden einen Kompromiss zustande zu bringen. Es war klar, dass Übereinstimmung über die fundamentalen Grundsätze des Vertrags bestand.

Der 259 Seiten und 49.000 Worte umfassende Reformvertrag enthält 12 Protokolle und einige Dutzend Erklärungen, die entsprechend der europäischen Gesetzgebung rechtsverbindlich sind. Es ist unwahrscheinlich, dass viele der Abgeordneten, die in den kommenden Monaten und Jahren über dieses Dokument abstimmen werden, es jemals sorgfältig und in seinem vollen Umfang gelesen haben werden.

Wie bei seinen Vorgängern wird auch im neuen Entwurf betont, dass es unabdingbar ist, den Prozess der "Liberalisierung" der europäischen Ökonomien zu beschleunigen.

Im Artikel 188c wird "Einheitlichkeit der Liberalisierungsmaßnahmen" gefordert, was heißt, dass das Tempo der Liberalisierung in ganz Europa an die Geschwindigkeit der sich am raschesten "liberalisierenden" Wirtschaft der EU angepasst werden soll.

Im Protokoll 6 des Reformvertrages wird erklärt, dass "der Binnenmarkt, wie in den Artikeln 1 bis 3 des Vertrags zur Europäischen Union dargestellt", auf einem System beruhen muss, das "die Konkurrenzbedingungen nicht verzerrt." Weiter ermächtigt der Vertrag die EU, gegen diese "Verzerrungen" vorzugehen.

Zusätzlichen Anschub für neoliberale ökonomische Tendenzen enthält Artikel 188b, der festhält, dass die EU "zum zunehmenden Abbau internationaler Handelsbeschränkungen und Beschränkungen direkter Auslandsinvestitionen, sowie zu Zollsenkungen und Abbau anderer Handelsbarrieren beitragen wird."

Die an wirtschaftlichen Interessen ausgerichtete Orientierung des Dokuments soll für optimale Handelsbedingungen für europäische multinationale Konzerne sorgen, deren Interessen in Brüssel von 15.000 Lobbyisten vertreten werden. In einem Kommentar des EUobserver wird das so ausgedrückt: "Die europäische Kommission wir ihre wichtigste Botschaft erneut betonen: dass in einer globalen Wirtschaft ‚ Öffnung keine Einbahnstraße’ sein kann." Mit anderen Worten, Europa wird alles Notwendige unternehmen, um zu gewährleisten, dass europäische Firmen mit Rivalen aus Niedriglohnländern, wie Indien und China konkurrieren können.

Neben dem Festhalten am Prinzip der "freien Marktwirtschaft" enthält die Übereinkunft von Lissabon weitere wesentliche Aspekte des ursprünglichen Verfassungsvertrages, der darauf ausgerichtet war, dem Europäischen Parlament und der Europäischen Kommission neue Vollmachten zur Durchsetzung ihrer Politik zu übertragen. Dazu ist anzumerken, dass die Kommission nicht aus Wahlen hervorgegangen, sondern eine ernannte Körperschaft ist.

Es wurden neue Regeln Abstimmungsregeln festgelegt, sodass Mehrheitsentscheidungen anstatt einstimmiger Beschlüsse möglich werden. Die Verwaltung wurde verkleinert, um eventuelle Hindernisse für Entscheidungen aus dem Weg zu räumen. Zusätzlich wird das Europäische Parlament von derzeit 785 auf 750 Mitglieder verkleinert, und es wird eine Austrittsklausel für Länder, die die EU verlassen wollen, aufgenommen. Nachdem Polen und Großbritannien Einspruch eingelegt haben, werden beide Länder von den Vorgaben der Europäischen Menschenrechtscharta ausgenommen.

Ein besonders wichtiger Gesichtspunkt des Reformvertrages ist seine Betonung der Entwicklung einer effektiven Außen- und Militärpolitik der Europäischen Union. Einige europäischen Länder, wie Großbritannien, Deutschland, Frankreich und Italien sind schon auf mehreren internationalen Kriegsschauplätzen, z.B. Afghanistan, in Afrika und im Libanon engagiert, Großbritannien auch im Irak.

In jedem dieser Länder gibt es eine Debatte darüber, wie bei der Verfolgung militärischer Ziele eine größere Unabhängigkeit von den USA und der NATO zu erreichen ist. Dieses Problem wird im Lissaboner Dokument so behandelt, dass alle europäischen Nationen aufgefordert werden, ihre Anstrengungen beim Aufbau eines wirkmächtigen Militärs, und gleichzeitig ihre Kooperation beim so genannten "Antiterrorkrieg" zu verstärken. Eindeutig werden die europäischen Nationen dazu aufgefordert, der Erweiterung ihrer Militärhaushalte Vorrang zu geben - eine Forderung, die unvermeidlich mit der weiteren Zerstörung der europäischen Sozialsysteme verbunden ist.

Auch soll eine neue europäische Behörde für die Entwicklung einer unabhängigen europäischen Außenpolitik gegründet werden. Die schon vorhandenen Positionen eines Leiters der Außenpolitik und eines europäischen Kommissars für Auslandsbeziehungen sollen zusammengefasst, und der Posten eines europäischen "hohen Repräsentanten" geschaffen werden. Dieser soll verantwortlich für den Entwurf von Leitlinien für die europäische Außenpolitik sein.

Die europäischen Regierungschefs und ein Großteil der Medien versuchten, die Vereinbarung von Lissabon als "Durchbruch" und Triumph der Demokratie zu verkaufen. Das Gegenteil trifft zu: Nachdem er von bedeutenden Teilen der europäischen Bevölkerung abgelehnt wurde, wird nun versucht, den im Wesentlichen gleichen Vertrag durch die Hintertür wieder einzubringen.

An der verhältnismäßig kurzen Zeit, in welcher die europäischen Spitzenpolitiker ihre Übereinkunft in Lissabon zustande brachten, zeigt sich, dass die grundlegenden Trennungslinien in Europa eher zwischen den Klassen als zwischen den Nationen verlaufen. Die Führer der europäischen Staaten, die das ganze Spektrum der politischen Interessen der Länder repräsentieren, waren sich alle einig, dass Europa auf den Prinzipien des "freien Marktes" aufgebaut werden muss. Gleichzeitig verschaffen sie, bei zunehmendem Widerstand der Bevölkerung, nicht gewählten europäischen Institutionen mehr Vollmachten zur Umsetzung ihrer unternehmerfreundlichen Agenda.

Der Deal von Lissabon wird wenig bei der Lösung von Konflikten zwischen rivalisierenden nationalen Bourgeoisien beitragen, auch kaum dabei, Europa auf seinem Weg zu einer unabhängigen politischen Macht vorwärts zu bringen.

In zwei führenden europäischen Staaten sind die Bestrebungen, eine Weltmachtstellung Europas zu befördern, durch die Wahl neuer Regierungschefs ausgebremst worden: Angela Merkel in Deutschland und Nicolas Sarkozy in Frankreich streben beide engere Beziehungen zu den USA an. Zwar eröffnet die im Reformvertrag enthaltene Zentralisierung der Macht für diese beiden Mächte neue Möglichkeiten, sich mittels einem von Frankreich und Deutschland geführten, so genannten "Europa der zwei Geschwindigkeiten" Vorteile zu verschaffen, demgegenüber lagen sich die beiden Länder in den letzten Monaten wegen einer Reihe wichtiger wirtschaftlicher und politischer Probleme immer wieder in den Haaren.

Italien ist wegen der anhaltenden politischen Krise und seiner fragilen Regierungskoalition dem Zusammenbruch nahe, und in Großbritannien wird Premierminister Gordon Brown von der konservativen Opposition, von der Wirtschaft und von Teilen der Medien gedrängt, ein Referendum über den Verfassungsvertrag der EU abzuhalten. Obwohl ein Referendum über den europäischen Verfassungsvertrag zum festen politischen Repertoire Labours gehört, argumentiert Brown jetzt, dass dieses Versprechen keine Gültigkeit mehr habe, weil in dem neuen Dokument nicht mehr von einer Verfassung die Rede sei.

Es gibt einige Kommentatoren, die auf die Probleme hinweisen, die auch nach der Vereinbarung von Lissabon noch zu lösen sind. Martin Winter, der für die Süddeutsche Zeitung schreibt, begrüßt zwar die Machtkonzentration in Brüssel sowie die deutlichere Betonung der Außenpolitik, bemängelt jedoch das Fehlen einer umfassenden europäischen Perspektive.

Winter tritt für eine engere Zusammenarbeit zwischen Frankreich und Deutschland als Motor des europäischen Projekts ein, und betont, dass weitere politische und militärische Maßnahmen notwendig sind, falls Europa die führende Rolle der USA wirklich ernsthaft herausfordern wolle: "Nur wenn die Europäer die amerikanische Art des Krisenmanagements und ihren Umgang mit der Bedrohung durch den Terrorismus nicht mehr ausschließlich kritisieren, sondern anfangen, ihre eigenes Modell anzuwenden, das Diplomatie und militärische und zivile Instrumente einschließt, werden sie die lang erträumte globale Autorität erlangen."

Siehe auch:
Schäuble will europäischen Polizeistaat durchsetzen
(8. Februar 2007)
Die Sackgasse des europäischen Kapitalismus und die Aufgaben der Arbeiterklasse
(16. März 2006)
EU-Vertrag von Brüssel zeigt Zerrissenheit der Europäschen Union
(26. Juni 2007)
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