"Es geht schon lange nicht mehr nur um Löhne und Arbeitsbedingungen"

Interview mit Lokführer in Essen

In Essen sprach die World Socialist Website gestern mit streikenden Lokführern. Sie harrten auf ihrem Streikposten in der Kälte vor dem Hauptbahnhof aus. Das Bahnmanagement hatte ihnen verboten, in den Bahnhof zu gehen oder einen Aufenthalts- und Pausenraum zu betreten. Zum Hausverbot gesellt sich noch eine weitere Schikane der Bahn gegen die Streikenden.

Thomas Kersten: Unser Arbeitgeber, die Bahn, ist sehr pfiffig, wenn es darum geht, gegen uns zu schießen. Wir müssen uns auch bei Streik zum Dienst anmelden. Gleichzeitig melden wir uns dann streikend. Wir müssen aber auf Bereitschaft sein, da wir sofort antreten müssen, wenn es zu einer Einigung kommt. Auch wenn dies unwahrscheinlich ist, müssen wir hier oder zumindest in der Nähe sein. Und unter diesen Voraussetzungen hat die Bahn sämtliche normalen Dienstpläne außer Kraft gesetzt und uns so genannte Sonderdienste verordnet. Ich hätte heute normalerweise acht Stunden Dienst gehabt, von 20 Uhr bis 4 Uhr morgen früh. Jetzt habe ich von 16 Uhr bis 2 Uhr in der Frühe Dienst, das sind zwei Stunden mehr. Für mich heißt das, ich muss zwei Stunden länger hier in der Kälte stehen.

WSWS : Und das ist bei allen so?

Frederike Borchert: Bei allen Streikenden. Reine Schikane.

WSWS : Könnt ihr uns über die Streikbeteiligung hier im Westen berichten?

Thomas Kersten: Wir sind zufrieden mit der Reichweite des Streiks. Im Osten ist der Bahnverkehr zu 80 Prozent lahm gelegt, hier im Westen zu 50 bis 60 Prozent. Aber was heißt schon zufrieden. Die Bahn kann darauf stolz sein, denn der Streik ist von ihr gewollt. Wir würden lieber arbeiten, als hier in der Kälte zu stehen. Aber die Bahn will es ja nicht anders.

WSWS : Was haltet ihr von der ganzseitigen Zeitungsanzeige der Bahn, die am Donnerstag in allen größeren Tageszeitungen geschaltet war?

Sabine Vierlinger: Das ist lächerlich. Der Mehdorn schmeißt unser Geld zum Fenster raus. Unsere Löhne kann er nicht erhöhen, aber solche teuren Anzeigen bezahlen.

Thomas Kersten: Das ist skandalös. Mehdorn spricht mit unserem Geld uns über Dritte an. Er kann uns lieber auf einer großen Versammlung direkt ansprechen, anstatt das Geld für überteuerte Anzeigen zu vergeuden. Außerdem ist die Anzeige auch noch gelogen. Sie bieten uns kaum etwas an. Wir kämpfen seit Jahren um bessere Arbeitszeiten und bessere Löhne, nicht erst seit gestern. Alles ist schlechter geworden. Selbst während dieses Streiks hat unser Arbeitgeber es noch nicht mal geschafft, wenigstens unsere Arbeitsbedingungen zu verbessern. Die Dienstpläne sind verschlechtert worden. Wir kämpfen schon seit drei Jahren dafür, dass wir verbesserte Arbeitsbedingungen im Bezug auf den Wechsel- und Schichtdienst haben. Nichts ist seitdem passiert.

WSWS : Hat die unnachgiebige Haltung von Mehdorn und dem Bahnvorstand etwas mit der Bahn-Privatisierung zu tun?

Thomas Kersten: Meine persönliche Meinung ist, dass hier inzwischen ein politischer Kampf geführt wird. Es geht schon lange nicht mehr nur um Löhne und Arbeitsbedingungen. Ich bin eigentlich der Meinung, dass dies zwei verschiedene Sachen sind, Löhne und Privatisierung. Für Herrn Mehdorn ist es aber natürlich eine einzige Sache. Das sind für ihn Kosten - und unser eigener Tarifvertrag wird Kosten verursachen. Das ist Geld, das der Bahn dann verloren geht, wenn wir privatisiert werden. Das will er auf jeden Fall verhindern.

WSWS : Die Bundesregierung und alle Parteien stehen hinter ihm.

Thomas Kersten: Die Politiker, die sich darüber aufregen, dass wir unsere Rechte fordern, sollten sich um ihre Aufgaben kümmern, zum Beispiel darum, dass fast drei Millionen Kinder in Armut leben. Da hätten sie genug zu tun.

Stephan Hasse: Uns predigen sie Wasser und selbst trinken sie Wein. Die Diätenerhöhung war überhaupt kein Problem. Aber wenn wir Löhne haben wollen, mit denen wir unsere Familien ernähren können, dann geht das nicht?

WSWS: Verfolgt ihr den Streik in Frankreich?

Thomas Kersten: Natürlich verfolgen wir die Entwicklungen in Frankreich. Da geht es um die Frühverrentung. Ich unterstütze das. Ich würde als Wechseldienstler auch gerne mit 55 Jahren in Rente gehen können. Das ist eine Errungenschaft. Ich denke, wenn wir es so gemacht hätten wie die Kollegen in Frankreich und sofort in einen unbefristeten Streik getreten wären, hätten wir vielleicht schon einen Abschluss. Aber sehr wahrscheinlich kommt das ja noch, darüber wird schon in der nächsten Woche entschieden.

WSWS : Habt ihr mit anderen Arbeitern Kontakt?

Thomas Kersten: Ja, wir haben hier ein paar Diskussionen gehabt, aber eigentlich konzentrieren wir uns auf unseren Kampf. Die anderen Gewerkschaften reagieren natürlich zögerlich. Die haben Angst, dass so etwas wie bei der Bahn dann auch bei ihnen passiert, dass sich einzelne Berufsgruppen einzeln isolieren. Aber wir sind entschlossen durchzuhalten.

Jörg Biller: Wenn nötig streiken wir ein ganzes Jahr.

WSWS : Aber ihr benötigt gegen die Front aus Bahnvorstand, Bundesregierung, Medien und DGB-Gewerkschaften Unterstützung von anderen Arbeitern.

Thomas Kersten: Ja das ist richtig. Wir sehen die Notwendigkeit dafür. Das was heute uns passiert, ständige Lohnsenkungen und Verschlechterung der Arbeitsbedingungen, das kann morgen jeden anderen treffen. Das wissen auch viele. Deshalb erfahren wir auch viel Unterstützung von den Leuten, nur nicht von Organisationen, mit Ausnahme von euch und ein oder zwei anderen Organisationen. Man weiß ja auch, aus welcher Ecke die Sprüche gegen uns kommen. Das ist doch vor allem die SPD. Da braucht man nicht viel mehr zu sagen.

Aber die Bevölkerung steht immer noch hinter uns, das spüren wir hier. Es gibt auch viele, die uns spenden. Wir haben extra ein separates Konto eingerichtet.

Dirk Schmitz: Ja, wir brauchen die Unterstützung von anderen Arbeitern, das ist auf jeden Fall richtig. Wir würden auch gerne Kontakt zu anderen Arbeitern aufnehmen, aber wir haben im Moment keine Zeit, das zu organisieren.

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