Kundgebung in Frankfurt gegen Sozialabbau

Jahrzehntelang galten die Stadt Frankfurt und das Rhein-Main-Gebiet als Wirtschaftsstandort ersten Ranges: Wer hierher kam, konnte fast mühelos Arbeit und Auskommen finden. Heute sieht es anders aus. Vor allem ist die Region von einer beispiellosen Polarisierung geprägt.

Die meisten Traditionsbetriebe - wie die Adlerwerke, VDM oder Naxos - sind geschlossen oder - wie die Hoechst AG oder die Opelwerke - umstrukturiert und personell völlig ausgedünnt worden. Während zahlreiche Banken- und Konzernzentralen Steuergeschenke in Millionenhöhe kassieren und die Gehälter ihrer Spitzenmanager vervielfachen, leben in der Finanzmetropole 70.000 Einwohner, das sind elf Prozent, vom Arbeitslosengeld II, dem sogenannten "Hartz IV"-Geld.

Jedes vierte Schulkind ist von Armut betroffen. Hunderte Rentner, Behinderte, Langzeitarbeitslose sind von Mangelernährung und Verwahrlosung bedroht. Öffentliche Einrichtungen wie sozialer Wohnungsbau, Krankenhäuser, Büchereien und Schwimmbäder werden finanziell ausgeblutet oder geschlossen, Busbetriebe, Bildungszentren, der soziale Wohnungsbau und sogar städtische Schulhäuser privatisiert.

Kundgebung am Römerberg

Am Samstag, den 17. November rief der Sozialverband des VdK (Verein der Kriegsopfer, Behinderten und Rentner) zu einer Kundgebung auf dem Frankfurter Römerberg auf. Gut zwei Monate vor der hessischen Landtagswahl lauteten die Forderungen: "Deutliche Erhöhung der Hartz IV-Sätze, kostenfreie öffentliche Gesundheitsversorgung, spürbare Erhöhung der Renten, Rücknahme des Renteneintritts mit 67 Jahren, kostenfreie Bildung für alle."

Trotz der offensichtlichen Brisanz dieser Themen folgten dem Aufruf nur ein paar Hundert Menschen. Die Initianten, unter ihnen der VdK, Gewerkschaftsgruppen, Attac, Die Linke, DKP, mehrere Sozialverbände etc., konnten bei den Betroffenen kein breites Interesse wecken. Die Redner kamen über Kritik an den sozialen Missständen nicht hinaus.

Diese Kritik schloss zwar CDU und SPD gleichermaßen mit ein, war aber völlig perspektivlos und lief auf die Forderung hinaus, mehr "Druck von unten" auszuüben. Auf wen? Im Wesentlichen auf die gleichen Politiker, die für die ganze Misere verantwortlich sind.

Der VdK bekommt als bundesweite und parteilose Interessenvertretung von Rentnern, Behinderten und Sozialhilfeempfängern die Empörung vor Ort zur Zeit hautnah mit. Eine "schreiende Ungerechtigkeit" nannte der VdK-Vertreter Walter Ofer die Rente mit 67, ein Produkt der rot-grünen Regierung Schröder. Sie führe entweder zu massiven Rentenkürzungen bei denen, die vorzeitig in Rente gehen müssen, oder zum frühen Tod alter Arbeitnehmer. "Den Stress werden die meisten gar nicht so lange durchhalten", wie Ofer sagte.

Aber in der Praxis wissen die Organisatoren letztlich kein anderes Mittel, als im Januar in Hessen die CDU-Alleinregierung von Roland Koch abzuwählen und durch ein Bündnis aus SPD, Grünen und Die Linke zu ersetzen. Dies zeigte sich deutlich an der Auswahl der Redner: Neben Vertretern des VdK, des Stadtschülerrats und des "Rhein-Main-Bündnisses gegen Sozialabbau" sprach der Spitzenkandidat für Die Linke, Willi van Ooyen. Außerdem hatte man sich nicht gescheut, auch einen SPD-Politiker - Roger Podstatny, IG-Chemie Betriebsrat in einem Hoechst-Nachfolgebetrieb und Frankfurter SPD-Kandidat für die Hessenwahl - als Redner auf die Bühne zu bitten.

Die Partei für Soziale Gleichheit, die bei der Hessenwahl auf der Grundlage eines internationalen und sozialistischen Programm kandidiert, verteilte ihre Wahlerklärung, die mit den Worten beginnt: "Die Programme von SPD und CDU sind austauschbar, das zeigt allein schon die Tatsache, dass sie im Bund gemeinsam regieren. Sollte Andrea Ypsilanti (SPD) im Januar den derzeitigen hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch (CDU) ablösen, würde sich politisch nichts ändern."

Lokführerstreik

Ein Thema polarisierte offensichtlich die Teilnehmer und gewerkschaftlichen Organisatoren: der Lokführerstreik. Während alle anwesenden Arbeitslosen, Arbeiter oder Angestellten auf Nachfrage die streikenden Lokführer lebhaft unterstützten, vermieden die Sprecher das Thema ganz oder gingen nur sehr vage darauf ein. An den Infoständen, wo Verdi- und DKP-Mitglieder standen, reagierte man mit eisigem Schweigen auf jede Erwähnung des Streiks. Kein Wunder: Die Gewerkschaftsführer und der DKP-Vorstand haben den Streik heftig angegriffen, boykottieren ihn oder betreiben aktiven Streikbruch.

Einige Sprecher erhielten großen Beifall, als sie - sehr kurz - auf den Lokführerstreik eingingen. Rainer Roth (KLARtext), der in seinem Beitrag ausführlich die Auswirkungen von Hartz IV-Regelsätzen auf Schulkinder und Jugendliche erläuterte, erhielt Applaus, als er die Lokführer einmal kurz erwähnte. Er sagte: "Wer sich mehr erkämpfen will, gilt als unsolidarisch gegenüber jenen, die kuschen. So versucht man Rentnerinnen und Rentner gegen Erwerbslose aufzuhetzen, und alle Lohnabhängigen gegen die Lokführer."

Der Sprecher der Linken, Willi van Ooyen, sprach sich für den Lokführerstreik aus, ohne jedoch zu erwähnen, dass dieser Streik in seiner eigenen Partei für heftigen Streit sorgt, weil eine Fraktion der Linken ihn offen ablehnt. Van Ooyen sagte: "Gegen die Klage zum Beispiel, die Lokomotivführer verursachten durch ihren Streik wirtschaftliche Verluste, ist zu sagen: Ein Streik führt dann und nur dann zum Ziel, wenn er Wirkung zeigt, wenn die Profite so beeinträchtigt werden, dass Lohnerhöhungen das geringere Übel sind."

Darauf ging van Ooyen sofort wieder zu weniger verfänglichen Themen über und hielt sich an die allgemeinsten Plattitüden: "Millionen sind stärker als Millionäre", etc. Er sagte: "Zusammen mit der Mehrheit der Bevölkerung werden wir keine Kompromisse eingehen. Hartz IV, Rente mit 67, Privatisierungen und militärische Aufrüstungen müssen weg." Für dieses Ziel wolle er "gemeinsam mit Gewerkschaften, Kirchen, Verbänden, und natürlich mit der Linken" kämpfen. Dass die Gewerkschaften eine Schlüsselrolle beim Sozialabbau spielen, überging er geflissentlich.

Der SPD-Vertreter ging in seinem Beitrag überhaupt nicht auf die Lokführer ein.

Stimmen der Teilnehmer

Das Thema Lokführerstreik stieß bei den Kundgebungsteilnehmern auf großes Interesse und Anteilnahme. Das erfuhren Reporter der WSWS und Wahlhelfer der Partei für Soziale Gleichheit (PSG), die mit zahlreichen Anwesenden darüber sprachen und eine Erklärung zur Unterstützung der Lokführer verteilten.

Helga Erben, die mit dem Sozialverband Deutschland hergekommen war, sagte: "Ich bin für die Lokführer, auch wenn der Streik Probleme für Pendler schafft. Aber wenn sich die Bundestagsabgeordneten, die Diäten von 7.000 Euro kassieren, fast zehn Prozent Diätenerhöhung genehmigen können, dann frage ich mich, warum man den Lokführern, die heute 1.400 oder 1.500 Euro in der Tasche haben, nicht ebenfalls mehr Geld geben kann. Das ist einfach kein Verhältnis."

Ulrich B., Postbeamter, Attac- und Gewerkschaftsmitglied, der sich seit einigen Wochen überlegt, aus der Gewerkschaft auszutreten, freute sich über den Lokführerstreik: "Wenn die Lokführer Erfolg haben, dann wird das ein schwerer Schlag ins Gesicht der DGB-Gewerkschaften. Das wäre mal Zeit, so wie die sich beim Telekom-Abschluss benommen haben. Damals hat Verdi den streikenden Telekom-Kollegen einen miesen Abschluss aufgezwungen.

Ich selbst bin seit vierzig Jahren Mitglied. Ich wollte vor vier Wochen schon austreten. Der Grund war der Tarifabschluss bei der Telekom. Aber jetzt bei der Eisenbahn, da passt der Spruch: ‚Alle Räder stehen still’. Das wäre bei der Telekom auch möglich gewesen: Es gibt so viele Angelpunkte, die Leuten wie René Obermann schnell echt ans Geld gegangen wären, und das ist einfach nicht wahrgenommen worden. Meiner Meinung nach können Gewerkschaftsführer wie Hansen von der Transnet einpacken. Sie sind einfach zu stark mit der Sozialdemokratie und der jetzigen Regierung verquickt."

Ulrich ging auf die DKP ein, die den Lokführern in den Rücken fällt, und sagte: "Das entspricht ihrem Charakter und ihrer Tradition. Sie haben sich nicht geändert. Das war schon in der Postgewerkschaft so. Mir hat die DKP einmal Lehrgangsverbot erteilt, weil sie nicht mit meinem Demokratieverständnis übereinstimmten. Andere - z.B. KBW-Mitglieder - haben sie aus der Gewerkschaft ausschließen lassen."

Ein 57-jähriger Programmierer sprach sich für den Lokführerstreik aus und hob besonders den Umweltaspekt bei der Eisenbahn hervor: "Die Lokführer sollten Erfolg haben. Bei Frontal 21 habe ich gesehen, dass die Bahn unter Mehdorn zwei Drittel ihres Gewinns mit Autos [d.h. auf der Straße und nicht auf der Schiene] macht: das darf nicht sein! Nicht nur aus sozialen, auch aus Umweltgründen sollte die Bahn staatlich bleiben und gefördert werden."

SPD-Sieg würde nichts ändern

Nicole Mohr, eine junge, arbeitslose Erzieherin, sagte zum Lokführerstreik: "Das finde ich richtig gut, dass sie streiken. Es ist wichtig, dass erst mal Leute anfangen. Ich wünsche mir, dass viel mehr Leute anfangen, auch die Frauen, die Verkäuferinnen, Erzieherinnen, Friseusen, dass sie alle die Schere und den Griffel niederlegen und sagen: ‚So geht’s nicht weiter’. Das wäre vielleicht mal ein Anfang."

Nicole ist seit vier Jahren arbeitslos und muss vom sogenannten ‚Hartz IV’-Regelsatz leben. Sie sagte: "Ich nenne es nur ‚Arbeitslosengeld II’, denn den Namen jenes Kriminellen [Peter Hartz, der als VW-Arbeitsdirektor wegen Korruption verurteilt wurde] mag ich nicht ständig in den Mund nehmen und ihn damit auch noch ehren."

Nicole berichtete: "Man bekommt es irgendwann raus, wie man vom ALG II leben muss, um über die Runden zu kommen. Aber das ist eigentlich kein Leben mehr, eher ein Vegetieren. Für Freizeit bleibt nichts übrig. Es wird erwartet, dass man alle Hobbies aufgibt. Irgendwann konnte ich in der Freizeit nicht mehr mit meinen Freunden losziehen und zum Beispiel abends in eine Disco gehen. Dadurch habe ich meine Freundin verloren. Man fühlt sich so ohnmächtig und kriegt einen derartigen Frust, den man auch nirgendwo loswerden kann. Da kam ich drauf, dass ich politisch aktiv werden muss."

Nicole erzählte, dass ihr vor kurzem das Arbeitsamt eine Sperre verordnet habe: "Jetzt hat man mir die neuste ‚Diät’ verordnet, die heißt Sanktion. Es ist eine unfreiwillige Diät, sie greift am 1. Dezember - ein schönes Weihnachtsgeschenk. Das kam so: Ich sollte einen Ein-Euro-Job bei der GFFB [Gemeinnützige Frankfurter Frauen-Beschäftigungsgesellschaft] annehmen. Da sollte ich in der Kinderbetreuung arbeiten, wo alles nur über Ein-Euro-Jobbers läuft.

Ich habe Kritik daran geäußert, und darauf haben sie meinen Fall ans Arbeitsamt zurück gegeben. Sie drehten es so, als wäre ich es, die sich geweigert hätte, was nicht stimmt. Da wurde ich sanktioniert. Ich habe zwar Widerspruch eingelegt, aber das kann dauern, und in der Zwischenzeit wird mir das Geld gesperrt."

Zur Hessenwahl erklärte Nicole: "Das würde nichts ändern, wenn jetzt statt Koch einfach wieder die SPD drankäme. Dass SPD-Leute jetzt soziale Themen ansprechen, das ist nur Bluff. Sie wollen jetzt im Wahlkampf die Leute, die sie an die Linke verloren haben, wieder zurück gewinnen. Aber wenn sie gewählt würden, dann würden sie genau den gleichen Kurs weiter machen. Die SPD hat ja mit den sozialen Angriffen wie der Agenda 2010 selbst angefangen."

Siehe auch:
Unterstützt den Wahlkampf der Partei für Soziale Gleichheit!
(11. Oktober 2007)
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