Belgien weiterhin ohne Regierung

Land am Rande der Spaltung

Sechs Monate nach der Parlamentswahl hat Belgien immer noch keine neue Regierung. Die politischen Spannungen spitzen sich derweil immer weiter zu.

Regionalistische Parteien nutzen die Krise, um ihren separatistischen Forderungen Gewicht zu verleihen. Das nährt Befürchtungen, das Land könne in Zukunft auseinander brechen. Einigen Pressekommentatoren zufolge könnte daraus ein neues (flämischsprachiges) Land, Flandern, hervorgehen.

Gegen diese Entwicklung gingen im vergangenen Monat 25.000 bis 35.000 Menschen auf die Straße, die auf einer Demonstration den Erhalt der nationalen Einheit Belgiens forderten. Eine Petition mit dieser Forderung wurde von einer hohen Staatsbeamtin formuliert und von den Gewerkschaften unterstützt. 150.000 Bürger haben sie unterschrieben. Die relativ kleine Protestaktion wurde mehrheitlich von frankophonen Teilnehmern getragen, aber ein Drittel der Teilnehmer waren Flamen. Viele schwenkten Nationalflaggen, bevor sie sich an dem Torbogen versammelten, der 1830 aus Anlass der Unabhängigkeit Belgiens von den Niederlanden im Cinquentenaire Park errichtet worden war, und die Nationalhymne sangen.

In der Presse werden die Versuche, eine Regierung zu bilden, inzwischen als kabarettreif bezeichnet. Teile der herrschenden Klasse reagieren zunehmend nervös auf die sich hinziehende Koalitionsbildung. Ein Zentralbanksprecher verwies letzte Woche auf die finanziellen Folgen, die bei einem anhaltenden Stillstand in der Regierungsbildung zu erwarten sind. Obwohl die alte Regierung unter Guy Verhofstadt die Amtsgeschäfte fortführt, steht es ihr nicht zu, einen neuen Haushalt vorzulegen. Guy Quaden äußerte sich besorgt, dass der ursprünglich erwartete Haushaltsüberschuss von 2,5 Milliarden Euro wegen der Krise möglicherweise nicht realisiert werden kann. Die Zentralbank prognostizierte für das nächste Jahr einen Überschuss von 0,2 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP), der für die Bedürfnisse einer älter werdenden Bevölkerung ausgegeben werden sollte.

Am Abend des 3. Dezember betraute König Albert II den bisherigen Ministerpräsidenten Verhofstadt damit, Gespräche mit allen Parteien aufzunehmen und eine neue Regierung zu bilden.

Belgien mit seiner Bevölkerung von ca. 10,5 Millionen wird zerrissen durch die konkurrierenden Interessen regionaler bürgerlicher Eliten und ihrer kleinbürgerlichen Anhängsel. Flandern, das flämischsprachige Nordbelgien, ist reicher als das französischsprachige Wallonien im Süden. Im Osten gibt es eine kleine deutschsprachige Minderheit. Die Hauptstadt Brüssel, eine vorwiegend französischsprachige Stadt inmitten einer flämischsprachigen Provinz, hat einen besonderen Status als zweisprachige Region.

Gewählt werden Parteien jeweils separat in den Sprachgebieten. Dann bilden sie Koalitionen, um die nationale Regierung zu bilden. Es gibt keine nationalen Parteien, obwohl die meisten Parteien durch Schwesternorganisationen in allen Sprachregionen präsent sind. Die Wahlen im Juni hatte ein Bündnis zwischen den rechten Flämisch-Christlichen Demokraten (CD&V) unter Yves Leterme und den gemäßigten Nationalisten von der Neuen Flämischen Allianz (NVA) gewonnen. Leterme wurde beauftragt, die neue Regierung zu bilden.

Die Verhandlungen scheiterten hauptsächlich an der Frage einer Ausweitung der flämischen Regionalautonomie. Die Christdemokraten und die Liberalen erhielten im ganzen Land zusammen 81 der 150 Abgeordnetenmandate - genug, um eine Regierung zu bilden, aber nicht genug, um die Verfassungsänderungen durchsetzen zu können, die für eine Erweiterung der Autonomie nötig wären.

Die heutige Situation ist dadurch entstanden, dass in den letzten 45 Jahren ständig die Befugnisse der Zentralregierung beschnitten und die Regionalautonomie erweitert wurden.

In den 1950er Jahren war Flandern noch überwiegend landwirtschaftlich geprägt. Der Reichtum des Landes war in Wallonien konzentriert, dem damaligen Zentrum der Schwerindustrie und die Industriearbeiterschaft. Später litt Wallonien schwer unter dem Niedergang seiner industriellen Basis, während sich in Flandern neue Technologien ansiedelten. Flandern trägt heute 60 Prozent zum BIP bei, Wallonien dagegen nur 24 Prozent. Die Arbeitslosigkeit im Süden ist ungefähr doppelt so hoch wie im Norden.

Flämische Separatisten wie der extrem rechte Vlaams Belang (vormals Vlaams Blok) wollen das Land entlang der Sprachengrenze teilen, um die Subventionen an den Süden zu stoppen. Im Verlauf der sich verschärfenden politischen Krise sind die Positionen von Vlaams Belang zum Allgemeingut geworden. Trotz ihrer angeblichen Opposition gegen die ultrarechten Nationalisten haben die anderen flämischen Parteien die separatistische und ausländerfeindliche Politik von Vlaams Belang übernommen.

Vor zwei Wochen schlug Leterme (der selbst mit der Forderung nach mehr Regionalautonomie in den Wahlkampf gezogen war) eine auf zwei Jahre angelegte "Versammlung" vor, um zu beraten, welche Befugnissen der Zentralregierung auf Regionalbehörden zu übertragen sind. Sein Vorschlag lief darauf hinaus, im nächsten Jahr den Entwurf für eine Verfassungsreform vorzulegen, bis dahin aber der Regierung freie Hand zu gewähren. Das wurde von seiner eigenen Partei und seinem möglichen Koalitionspartner abgelehnt. Letremes CD&V verlangte nachdrücklich, dass die künftige Regierung sich von vorneherein auf größere Autonomierechte in Steuerfragen, dem Gesundheitssystem und dem Verkehrswesen festlegen müsse, um ein Scheitern der Versammlung zu verhindern.

Die NVA fühlte sich durch die Krise gestärkt und erklärte, die Versammlung würde die Übertragung von Befugnissen nur verzögern oder verwässern. Dafür, so die Partei, werde sie kein Mandat von ihren Mitgliedern bekommen. Tatsächlich fürchtete die NVA, dass die Versammlung keine Garantie für eine regionale Kontrolle über Sozial- und Wirtschaftspolitik bietet, so zum Beispiel die Möglichkeit, niedrigere Unternehmenssteuern einzuführen und die eine flämische Sozialversicherung ins Leben zu rufen.

Die geplante Versammlung wurde von der wallonischen Schwesterpartei der CD&V unterstützt, der Demokratisch Humanistischen CDH (vormals Christdemokraten). Parteiführerin Joëlle Milquet zufolge, die in der flämischen Presse ursprünglich wegen ihres Widerstands gegen Letermes Plan attackiert worden war, bietet die Versammlung "ausreichend Sicherheiten für den Fortbestand der [belgischen] Föderation".

Wallonische Politiker sind in der Regel eher für die nationale Föderation als ihre flämischen Kollegen. Sie befürchten, dass eine Spaltung verheerende finanzielle Auswirkungen für ihre Region hätte. Gegenwärtig kommen 15 Prozent des wallonischen Regionaleinkommens aus Bundessteuern. Francis Delperee von der CDH sagte dem flämischsprachigen Fernsehen: "Wir haben immer gefordert, dass die Sozialversicherung Bundesangelegenheit bleibt."

Die Verhandlungen scheinen schon über diesen Punkt hinaus zu sein. Die CD&V hat vorgeschlagen, sich auf Sozial- und Wirtschaftspolitik sowie Haushaltsfragen zu konzentrieren, um einen erneuten Zusammenbruch der Gespräche zu verhindern. Das wurde aber rundweg abgelehnt.

Vor diesem Hintergrund hatte eine Staatsbedienstete aus Lüttich, Marie-Claire Houard, eine Petition im Internet publik gemacht. Sie fordert darin ein Ende der Geldverschwendung für "Streitpunkte, die nur eine kleine Minderheit interessieren", und von der Regierung, "unsere Nation und ihre Einheit zu respektieren".

Die Demonstration am 18. November in Brüssel, die von der Petition ausgelöst worden war, stand unter der Parole "Für die Einheit Belgiens". Die Organisatoren verlangten, keine Parteitransparente zu tragen, aber einige wallonische Politiker wie Milquet, der Führer der Sozialistischen Partei Elio Di Rupo und Vertreter der Grünen und der Liberalen waren zugegen. Flämische Politiker wurden nicht gesehen. Transparente unterstützten den konstitutionellen Monarchen Albert II, der in der aktuellen Krise Leterme bei der Bildung einer neuen Regierung gestützt hat. NVA-Chef Bart de Wever wurde auf einigen Transparenten mit Slobodan Milosevic verglichen.

Die auch von den Gewerkschaften unterstützte Petition stellt die nationale Einheit nicht nur dem Separatismus entgegen sondern auch dem Klassenkampf. Es heißt darin: "Die Solidarität der reichsten mit den ärmsten Bürgern ist genauso wie die Solidarität der reichsten mit den ärmsten Regionen ein Grundpfeiler unserer belgischen Gesellschaft." Eine solche bankrotte Perspektive hat der Mehrheit der belgischen Bevölkerung nichts zu bieten - ob französisch-, flämisch- oder deutschsprachig. Nach einer neueren Studie leben vierzehn Prozent in Belgien an oder unter der Armutsgrenze.

Die Krise in Belgien kann im bestehenden politischen System nicht gelöst werden, das den heutigen Nationalismus, den Regionalismus und die Ungleichheit selbst hervorgebracht hat.

Die Spaltungen zwischen flämischen und wallonischen Arbeitern wurden von den Gewerkschaften und ihren Anhängern in den radikalen Parteien geschürt. Nach dem Verrat des Generalstreiks von 1961 behauptete ein Teil der frankophonen Gewerkschaftsbürokratie, die flämischen Arbeiter seien wie ein Klotz am Bein und würden den wallonischen Arbeitern (die damals die militantesten waren) nur Nachteile bringen.

Der rechte Gewerkschafter André Renard, der eine wichtige Rolle gespielt hatte, die Streikbewegung zu sabotieren, kanalisierte die Enttäuschung der frankophonen Arbeiter in die Wallonische Volksbewegung. Diese kämpfte für den Bundesstaat. Die Spätfolgen davon kann man heute betrachten. 1965, drei Jahre nach Renards Tod, wurde eine eigene Wallonische Arbeiterpartei gegründet, was die wallonischen Arbeiter von ihren flämischen Kollegen trennte.

Nur ein sozialistisches Programm kann letztlich die Arbeiter vereinen, nicht nur über die Sprachbarrieren in Belgien hinweg sondern auf dem ganzen europäischen Kontinent, im Kampf für die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa.

Loading