Arbeitsloser hungert sich auf Hochsitz zu Tode

Der Tod des 58-jährigen arbeitslosen Hans-Peter Z., der sich auf einem einsamen Hochsitz im Wald zu Tode hungerte, ist eine persönliche Tragödie und eine gesellschaftliche Anklage. Er sagt mehr über den Zustand der Gesellschaft aus als alle frommen Reden der Berufspolitiker und Studien zu Armut und Arbeitslosigkeit.

Der ausgemergelte Leichnam wurde Anfang letzter Woche auf einem Hochsitz in einem Waldgebiet nahe dem niedersächsischen Solling von zwei Jägern entdeckt. Hans-Peter Z. hatte schon über zwei Monate tot dort gelegen. Zuvor hatte er laut Polizeibericht über mindestens 24 Tage hinweg seinem Leben ein Ende bereitet, indem er nicht mehr aß und nur wenig trank. Seinen Leidensweg hielt er in einem Tagebuch fest.

Die Art und Weise seines Todes und das Tagebuch legen nahe, dass Hans-Peter Z. mit seinem Freitod ein Zeichen setzen wollte. So ruhig und still er den bislang zugänglichen Presseberichten zufolge lebte, so ruhig und still ist er aus dem Leben geschieden. Selbst wenn er "nur" auf sein persönliches Schicksal aufmerksam machen wollte: es ist eng verwoben mit gesellschaftlichen Missständen, die durch seinen Selbstmord schlagartig offenbar werden.

Ein "bürgerliches" Leben

Hans-Peter Z. wird im April 1949 in Schleswig-Holstein geboren. Als er die Schule beendet, verpflichtet er sich für zwölf Jahre als Zeitsoldat bei der Bundeswehr. Er absolviert eine Lehre zum Bürokaufmann, heiratet und wird Vater einer Tochter. Wie viele andere auch zieht es ihn nach der Wiedervereinigung 1990 nach Ostdeutschland, der Geschäfte wegen. Die neuen Bundesländer haben viel Konsum nachzuholen.

Als Selbständiger initiiert und organisiert er zunächst erfolgreich Messen. Lange Zeit kann er sich und seiner Familie damit ein Leben ermöglichen, das für viele Zeitungsredakteure nach "stabilen bürgerlichem Leben aussieht". Doch die ständigen Reisen - er kommt, wenn überhaupt, nur an den Wochenenden nach Hause zu seiner Familie - scheinen einen hohen Preis einzufordern. Zuerst zerbricht seine Ehe, später zusätzlich die Beziehung zu seiner Tochter.

Ungefähr zur Jahrtausendwende beginnt er als Vertreter einer Firma, die Hängestühle herstellt, zu arbeiten. Sein Chef, für den er zu Messen in ganz Deutschland reist, hat ihn gut in Erinnerung. Hans-Peter Z. ist "extrem zuverlässig, loyal und ehrlich. Wenn auch nur die kleinste Gefahr bestand, dass er am Morgen zu spät zu einem Termin kommt, ist er schon am Abend vorher hingefahren."

Inzwischen lebt er in Badendorf, einem kleinen Dorf bei Lübeck. In dem Mehrfamilienhaus, in dem er wohnt, fällt er kaum auf. Nachbarn beschreiben ihn als zurückhaltend, gepflegt, als einen, "der montags früh geschniegelt aus dem Haus ging und freitags spät wiederkam".

Doch schon drei Jahre später verliert Hans-Peter Z. wieder seinen Job. Das Unternehmen schränkt ab Oktober 2003 seine Messepräsenzen ein, der inzwischen 54-jährige Bürokaufmann wird nicht mehr gebraucht. In diesem Alter einen Job zu ergattern, ist schwierig. 2003 arbeiteten nur etwa 40 Prozent aller über 50-Jährigen. Jeder vierte Arbeitslose gehört dieser Altersgruppe an.

Fortan versucht Hans-Peter Z. wiederum, wie viele andere auch, sich als Freiberufler durchs Leben zu schlagen. Diesmal jedoch erfolglos. Er hat Geldprobleme, kann seine Miete nicht mehr zahlen. Als er eine Hotel-Rechnung nicht begleichen kann, gibt er eine falsche Adresse an. Ein paar Tage später meldet er sich selbst bei der Polizei.

Eine neue Liebe zerbricht. Zu dieser Zeit leidet Hans-Peter Z. unter Depressionen und spielt zum ersten Mal mit Selbstmordgedanken. Er begibt sich jedoch in eine Klinik in psychiatrische Behandlung. Seine Wohnung wird wegen der ausstehenden Miete geräumt. Hans-Peter Z. kommt Anfang 2006 bei Freunden in Seelze bei Hannover unter.

Auch in diesem einfachen Nachkriegs-Mehrfamilienhaus fällt er lange niemandem auf. Um die Jahreswende 2006/2007 bezieht er dann eine kleine möblierte Zweizimmerwohnung in Hannover. Er lebt nun völlig zurückgezogen. Er liest viel und fährt Rad. Er lebt inzwischen von Arbeitslosengeld 1. Seinem Vermieter wie den Beratern bei der örtlichen Arbeitsagentur erzählt er immer wieder zuversichtlich von seinen Bewerbungen. Doch dem 58-Jährigen werden von windigen Geschäftsleuten nur Jobs als freie Vertreter angeboten. Hans-Peter Z. lehnt alle Angebote ab, darauf will er sich nicht mehr einlassen.

Ein Sachbearbeiter der Arbeitsagentur kann ihm auch nicht helfen. Er solle eine Frührente erwägen. Hans-Peter Z. ist empört: "Ich bin doch kein Rentenanwärter." Er sei optimistisch, hoffe nach wie vor auf eine feste Stelle.

Im Oktober 2007 jährt sich jedoch seine Arbeitslosigkeit. Hans-Peter Z. muss einen Antrag auf Arbeitslosengeld 2 (Hartz IV) stellen. Der ehemalige erfolgreiche Geschäftsmann ist auf Sozialhilfeniveau gesunken. Für sein Leben wird ihm die Arbeitsagentur ab nun 347 Euro im Monat zahlen. Hans-Peter Z. stellt keinen Hartz-IV-Antrag.

Ob er im November letzten Jahres tatsächlich einen Job in Köln in Aussicht hat, oder ob er das nur erzählt, weil er in Wirklichkeit schon den Entschluss gefasst hat, sein Leben zu beenden, ist unbekannt. Auf jeden Fall kündigt er seine Wohnung in Hannover und berichtet seinem Hauswirt euphorisch von einer neuen Anstellung in Köln. Endlich hätten seine Bewerbungen Erfolg gehabt, und das sogar in seiner alten Branche, im Messebau. Hans-Peter Z. zahlt seine letzte Miete, hinterlässt ein paar Kartons im Keller und sagt, er werde sie später abholen.

Das ist das letzte Lebenszeichen von Hans-Peter Z.

Mitte November setzt er sich auf sein Fahrrad und radelt von seiner kleinen Wohnung ins etwa 100 Kilometer entfernte niedersächsische Mittelgebirge nach Solling. Mit einem Rucksack und einem Wasserkanister trat er seine letzte Reise an.

Irgendwo lässt er sein Fahrrad stehen und geht zu Fuß weiter. Als er den Hochsitz besteigt, muss er entschlossen sein, ihn nicht mehr lebend zu verlassen. In seinem Notizbuch dokumentiert er detailliert jeden Tag bis zu seinem Tod

Er schreibt auf, wie seine Organe langsam ihren Dienst versagen, seine Haut eintrocknet, wie er abmagert, sein Körpergefühl dahinschwindet und der Verstand nachlässt. Einmal will ein Junge auf den Hochsitz klettern - doch der Vater ruft ihn zurück. Anfang Dezember verliert er das Gefühl für die Tage. Am 6. Dezember registriert er noch einmal, dass heute Nikolaus sein muss. Er isst nichts, trinkt nur gelegentlich etwas Wasser. Am Ende bittet er, seine Aufzeichnungen der Tochter zu übergeben. Der letzte Eintrag datiert vom 13. Dezember. Sein letzter Wunsch ist es, auf hoher See bestattet zu werden. Mindestens 24 Tage, rekonstruiert später die Polizei, muss Hans-Peter Z. auf dem Hochsitz gelegen haben, bis er starb.

Über zwei Monate liegt er tot im Hochsitz. Dann wird er Anfang letzter Woche von zwei Jägern gefunden. Vermisst wurde Hans-Peter Z. nicht.

Der 58-Jährige schien alle Tugenden verinnerlicht zu haben, die die Unternehmer von ihren Beschäftigten erwarten. Er arbeitete nicht, um zu leben. Er lebte, um zu arbeiten. Als die Gesellschaft ihm, der Zeit seines Lebens für seinen Unterhalt selbst aufgekommen ist, Arbeit verwehrt, stürzt für ihn eine Welt ein. Er hielt sich mit 58 Jahren weder für überflüssig, noch für einen "Rentenanwärter". Für Almosen in Form des Arbeitslosengeldes 2 und die damit einhergehenden Schikanen von Billiglohnarbeit und Kürzungen war er zu stolz.

So wie die Gesellschaft ihm Arbeit und Auskommen verwehrt, verwehrt er seinem Leben Wasser und Nahrung. In seinem Sterben zeigt er dieselbe Disziplin, die ihn in seinem Arbeitsleben ausgezeichnet hat. "Man muss schon sehr diszipliniert sein, um seinem Leben auf diesem Weg ein Ende zu setzen", sagt Professor Michael Manns von der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH).

Wenn das vorhandene Fett aufgezehrt sei, baue die Muskulatur ab. Gleichzeitig mangele es dem Körper an Vitaminen, Eiweiß und Elektrolyten, so Manns. Die Harnsäure steige an, es könnten sich Nierensteine bilden und Koliken auslösen. "Die Mangelerscheinungen führen zu Herz-Kreislauf-Schwächen, das Blut konzentriert sich, und der Körper trocknet aus." Der Betroffene erleide eine allgemeine Schwäche, habe starke Bauch- und Magenschmerzen. Die Muskeln würden schwächer, bis der Betroffene bewusstlos werde. Schließlich käme es zum Herzversagen.

Hans-Peter Z. hat all diese Schmerzen erlitten und sich am Ende zum Sterben gelegt, als wenn er schliefe. Die zwei Jäger fanden ihn auf dem Rücken liegend, die Beine angewinkelt, die Hände hinter dem Kopf verschränkt.

Sein Tod ist eine persönliche Tragödie, aber noch mehr eine Anklage an die unmenschliche Behandlung der (insbesondere Langzeit-) Arbeitslosen, die von der rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder (SPD) mit der Hartz-Gesetzgebung eingeführt wurde. Ältere Arbeitslose, die ihr Leben lang gearbeitet haben, sinken im Falle der Arbeitslosigkeit in kürzester Zeit auf Sozialhilfe-Niveau herab.

Mit dem Hartz-IV-Bezug beginnen dann aber erst die Schikanen. Die Betroffenen müssen haarklein all ihr Hab und Gut offen legen. Alles Ersparte muss erst einmal aufgebraucht werden. Eine Drei-Zimmer-Wohnung oder ein Auto sind einem allein stehenden "Langzeitarbeitslosen" nur im Ausnahmefall angemessen. Ständig müssen die Arbeitslosen sich bei den so genannten Job-Centern melden und vorsprechen, müssen jegliche Arbeit annehmen, auch Billiglohn-Jobs, für die sie weit überqualifiziert sind. Wenn sie einen Job ablehnen oder zu einem Termin nicht erscheinen, hagelt es Leistungskürzungen. Kurz: Nach der Hartz-Gesetzgebung arbeitslos zu sein, ist eine einzige Demütigung.

Dabei wird Hans-Peter Z. kein Einzelfall sein. Viele der über 50-Jährigen werden aufgrund des ständig steigenden physischen und psychischen Drucks und der rasanten Entwicklung der Technologie aus dem Arbeitsleben aussortiert und sinken ab in Hartz IV. Wenn dann auch noch zwischenmenschliche Probleme hinzukommen oder durch diese Situation hervorgerufen werden, ist es bemerkenswert, dass es bislang nicht noch häufiger zu Freitoden gekommen ist. Immerhin sind fast eine Million der über 50-Jährigen arbeitslos, die meisten von ihnen länger als ein Jahr, beziehen also Hartz-IV-Gelder.

In welchem Zustand sich diese Gesellschaft befindet, zeigt auch das inzwischen entbrannte Wettbieten um die Tagebuchaufzeichnungen von Hans-Peter Z. Laut Medienberichten wurde der Tochter schon eine fünfstellige Summe für das Tagebuch ihres Vaters angeboten. Auch ein Regisseur und ein Schriftsteller hätten Interesse bekundet. Bevor sich Letztere an das Tagebuch von Hans-Peter Z. wagen, sollten sie in der Weltliteratur nachlesen, und zwar bei Arthur Millers "Tod eines Handlungsreisenden". Darin scheitert die Hauptfigur, Willy Loman, an der amerikanischen Gesellschaft der 1940er Jahre.

Siehe auch:
Große Koalition bläst zum Angriff auf Hartz IV-Empfänger
(2. Juni 2006)
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