Gibt es in der Bevölkerung einen Linksruck?

Ein Briefwechsel zum Ergebnis der Hessenwahl

Die Redaktion der WSWS hatte als Antwort auf den Artikel "Massiver Linksruck in der Bevölkerung" folgenden Leserbrief erhalten:

Ich empfinde die Einschätzung der Wahlen durch Ulrich Rippert höflich formuliert sehr gewagt. Ein massiver Linksruck sei das, schreibt er. Und dann wird nach der zweifelhaften Überschrift das Ergebnis der Linken besprochen. Es entsteht dabei der Eindruck, Rippert hält die Wahl dieses Aufgusses von Kulturverfall für links. Dem ist hoffentlich nicht so.

Dass diese Partei gewählt wurde zeigt die politische Naivität des Volkes, deren Grundlage immer noch die Ideologie des Sozialreformismus der Nachkriegszeit ist, das Festhalten an den bestehenden kapitalistischen Verhältnissen und die Abscheu gegen den Kasernenhofsozialismus.

Das Ergebnis in Hessen ist ein Anti-Koch Ergebnis und daran zeigt sich ebenfalls wie oberflächlich und vor allem zufällig das politische Verständnis der Menschen zur Zeit noch ist. Wie Rippert selbst schreibt, waren es außerdem die Bessergestellten, die zur SPD schwenkten. Was ist da als Linksruck zu deuten?

Ein Linksruck wäre es gewesen, wenn die PSG Stimmenzuwächse gehabt hätte. Darüber geht Rippert jedoch hinweg. Ist es selbstverständlich, dass die PSG keine hat, sondern im Gegenteil sogar rund 250 Stimmen verlor? Eine Analyse der Wahl müsste doch hier ansetzen und nicht beim Linksruck zu Gunsten der SED oder SPD.

Spätestens seit 1998, seit Rot-Grün und dem massiven Sozialabbau, sind die Verhältnisse in Deutschland so, dass eine Partei wie die PSG sich zunehmend wie ein Fisch im Wasser fühlen könnte. Das sind zehn lange Jahre.

Liegt es an der Unreife der Arbeiterklasse, dass die PSG immer noch am Boden klebt? Solche Erklärungen sollte man weiträumig umgehen. Die kennen wir aus der DDR zur Genüge.

Wenn ich eine Einschätzung der Wahl geben darf: Es ist der PSG bisher nicht gelungen in Teilen der Bevölkerung auch nur Ansatzweise Neugier auf Marxismus und Sozialismus, geschweige denn eine marxistische Kultur zu erzeugen.

Darüber gilt es nachzudenken, wenn man ehrlich ist, Verantwortung empfindet und weiß, dass die Geschichte den Marxisten nicht unbegrenzt Zeit lässt. Dem derzeitigen Linksruck können nämlich auch andere Rucks folgen, so wie das Bewusstsein der Menschen derzeit geformt ist und der offizielle politische Mechanismus arbeitet.

Freundliche Grüße

S.R.

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Liebe S.R.,

in Ihrem Brief an die Redaktion weisen Sie unsere Einschätzung zurück, dass die hessische Landtagswahl vom 27. Januar einen massiven Linksruck der Bevölkerung zum Ausdruck bringe. Stattdessen bewerten sie den Stimmenzuwachs der Linkspartei als Ergebnis der "politischen Naivität des Volkes", das an der "Ideologie des Sozialreformismus der Nachkriegszeit" und "an den bestehenden kapitalistischen Verhältnissen" festhalte. Sie behaupten, von einem wirklichen Linksruck könne man erst dann reden, wenn es der PSG gelinge, Teile der Bevölkerung zumindest ansatzweise vom Sozialismus zu überzeugen und ihren eigenen Stimmenanteil zu steigern. Dies habe die PSG aber bisher nicht geschafft.

Diese Auffassung zeugt von einem weitgehenden Unverständnis der tiefgehenden gesellschaftlichen und politischen Veränderungen, die wir derzeit durchleben, und muss zwangsläufig zu sehr pessimistischen und demoralisierten politischen Schlussfolgerungen führen. Folgt man Ihren Argumenten, dann ist eine Linksentwicklung der Arbeiterklasse ausschließlich als Ergebnis der subjektiven Anstrengungen unserer Partei denkbar. Sie muten uns damit eine Herkulesaufgabe zu, die sich angesichts ihrer eigenen pessimistischen Einschätzung des Bewusstseinsstands der Arbeiterklasse unmöglich erfüllen lässt. Sie hüten sich zwar davor zu sagen, was wir an unserer Politik ändern sollen. Es ist aber unschwer zu erkennen, dass Sie mit ihrer Kritik unsere gesamte politische Perspektive in Frage stellen.

Unsere Meinungsverschiedenheiten beziehen sich also nicht nur auf die Einschätzung des Ergebnisses der Hessenwahl. Es geht auch um theoretische und politische Standpunkte, die Sie völlig blind gegenüber den gegenwärtigen Veränderungen im Klassenkampf machen.

Als Marxisten verstehen wir den Klassenkampf als objektiven Prozess. Das gesellschaftliche Sein bestimmt das gesellschaftliche Bewusstsein, und nicht die Propaganda unserer Partei. Unsere Aufgabe besteht darin, in der Arbeiterklasse für ein Verständnis der internationalen politischen Veränderungen, ihrer eigenen Stellung in der Gesellschaft und der Aufgaben, die sich daraus ergeben, zu kämpfen.

Das stand im Mittelpunkt unseres Wahlkampfs in Hessen. Unser Wahlprogramm analysierte die Auswirkungen der Krise des globalen Finanzsystems, des Niedergangs des US-Imperialismus, der Zunahme von internationalen Konflikten und Kriegen und bewies die Unmöglichkeit, zu einer Politik der sozialen Kompromisse zurückzukehren. Es legte ein internationales, sozialistisches Programm vor, das es der Arbeiterklasse ermöglicht, als unabhängige Kraft ins politische Geschehen einzugreifen.

Der Wahlkampf war äußerst erfolgreich. Wir machten Tausende Arbeiter und Jugendliche mit unserem Programm vertraut und bereiteten sie so auf die unvermeidlichen kommenden Klassenkämpfe vor. Wir traten systematisch der Linkspartei entgegen, die sich bemüht, die wachsende Radikalisierung der Bevölkerung aufzufangen und in harmlose Kanäle zu lenken. Immer wenn wir auf Veranstaltungen der Linkspartei sprachen und den linken Phrasen ihres Wahlprogramms die rechte Realpolitik der Berliner Linkspartei gegenüberstellten, brach ihre linke Fassade wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Das war nicht nur für die Wähler in Hessen äußerst lehrreich, sondern auch für die Leserschaft der WSWS in anderen Ländern, in denen die Linkspartei als Erfolgsmodel dargestellt wird.

Die Stimmenzahl, die auf die Liste der PSG entfiel, ist dem gegenüber zweitrangig. Dass sie gering ausfiel, ist nicht überraschend. Angesichts der starken Polarisierung der Wahl suchten viele Wähler nach einer Möglichkeit, Koch abzuwählen, und stimmten - trotz Sympathien für unser Programm - für die Linkspartei oder die SPD. Als marxistische Partei ist unsere Arbeit nicht auf ein graduelles Anwachsen im Rahmen des parlamentarischen Systems ausgerichtet, sondern zielt darauf ab, die Arbeiterklasse auf die raschen und sprunghaften Veränderungen der politischen Entwicklung vorzubereiten, die oft sehr unerwartet stattfinden.

Aus ihrem Brief spricht ein völliges Unverständnis dieser Fragen. Er unterschätzt die Schärfe der politischen Lage und ist von einem hohen Maß an Selbstgefälligkeit und Überheblichkeit gegenüber der Arbeiterklasse geprägt.

Die Lebensbedingungen von Millionen Arbeitern und ihren Familien haben sich in den vergangenen Jahren dramatisch verschlechtert. Seit Monaten dominieren in den Medien Berichte über eine rasant wachsende Verelendung am unteren Ende der Gesellschaft bei gleichzeitiger hemmungsloser Bereicherung an der Spitze. Dazu kommen immer neue Hiobsbotschaften über die Auswirkungen der internationalen Finanzkrise und die Ausweitung der Kriegseinsätze der Bundeswehr. Das hat tiefe Spuren im Bewusstsein der Massen hinterlassen. Das zeigt sich unter anderem am Niedergang der Sozialdemokratie, die völlig diskreditiert ist und massenhaft Mitglieder und Wähler verliert, an der breiten Unterstützung, die der Arbeitskampf der Lokführer im vergangenen Jahr fand, oder an der Radikalisierung in der anstehenden Tarifrunde.

Auch die Entstehung der Linkspartei und ihre jüngsten Wahlerfolge müssen in diesem Zusammenhang verstanden werden. Die Linkspartei ist kein verzerrter Ausdruck der Radikalisierung der Abeiterklasse, sondern ein gezielter Versuch eines Teils der Bürokratie von SPD, PDS und Gewerkschaften, eine solche Radikalisierung im Keim zu ersticken. Oskar Lafontaine, der vor neun Jahren seine politischen Ämter hinschmiss und Schröder das Feld überließ, ist in die Politik zurückgekehrt um zu verhindern, dass sich die wachsende Unzufriedenheit zu einer unabhängigen Klassenbewegung auswächst.

Um diese Aufgabe zu erfüllen, muss sich die Linkspartei aber einen linken, antikapitalistischen Anstrich geben. Daher ist ihre Behauptung, Grundlage der Stimmabgabe für die Linkspartei sei das Festhalten an den bestehenden kapitalistischen Verhältnissen, falsch. Wer diese Verhältnisse bewusst verteidigen wollte, votierte für die SPD oder die CDU, die sich offen zu ihnen bekennen. Die Stimmabgabe für die Linkspartei wurde dagegen von vielen Wählern als Möglichkeit betrachtet, der SPD einen Denkzettel zu verpassen und sich gegen die rechte Politik von Agenda 2010 und Hartz IV auszusprechen.

Es liegt uns fern, die Illusionen zu beschönigen, die mit einer solchen Stimmabgabe für die Linkspartei verbunden sind. Aber diese Illusionen wurzeln nicht sehr tief. Anders als etwa in den siebziger Jahren, als Zehntausende in die SPD strömten und sich aktiv an den Wahlkämpfen Willy Brandts beteiligten, verzeichnet die Linkspartei keinen nennenswerten Zuwachs. Die Unterstützung für sie beschränkt sich weitgehend auf die Wahlurne. Die Wahlversammlungen der Linkspartei waren in der Regel klein. Sie glichen Altherrenrunden, deren Teilnehmer sich aus der gemeinsamen Arbeit in SPD und Gewerkschaften seit Jahrzehnten kannten. Gäbe es nicht die Bemühungen von Gruppen wie "Linksruck" und "Voran", der Linkspartei frisches Blut zuzuführen, wären in ihren Reihen kaum jüngere Gesichter anzutreffen.

Die Linkspartei lebt zu einem großen Teil davon, dass niemand sie von links angreift. Ein wichtiger Erfolg unserer eigenen Wahlkampagne bestand darin, dass wir dies durchbrochen haben.

Die massiven Verluste der hessischen CDU und ihres Spitzenkandidaten Roland Koch machen deutlich, wie sehr sich die Stimmung der Bevölkerung verändert hat. Vor neun Jahren war es Koch noch gelungen, die Wahl mit Hilfe einer ausländerfeindlichen Kampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft zu gewinnen. Diesmal hatte seine Hetzkampagne gegen jugendliche Immigranten den gegenteiligen Effekt. Sie löste eine Welle der Empörung aus und sein Vorsprung in den Umfragen schmolz in kürzester Zeit dahin.

Die herrschende Elite hat - im Gegensatz zu Ihnen - die Bedeutung dieses Ergebnisses sehr gut verstanden. Kochs verheerende Niederlage hat einen Schock ausgelöst. Innerhalb von Union und SPD sind heftige Flügelkämpfe über die Frage entbrannt, wie man auf den Linksruck in der Bevölkerung reagieren soll. Es vergeht kein Tag, an dem sich nicht ein Politiker zu Wort meldet, der - wie Seehofer in der CSU, Rüttgers in der CDU oder Beck in der SPD - einem sozialeren Auftreten das Wort redet, oder - wie Huber in der CSU, Steinbrück in der SPD oder Westerwelle in der FDP - für einen harten Konfrontationskurs eintritt. Die inhaltlichen Differenzen sind dabei gering. Es geht allein um die Frage, wie man der sozialen Opposition Herr werden kann.

Ein Teil der Medien - darunter die Frankfurter Rundschau, die Süddeutsche Zeitung und die Zeit - treten mittlerweile offen für die Einbindung der Linkspartei in die Regierungsverantwortung ein, um zu verhindern, dass sich die gesellschaftlichen Konflikte zu einer außerparlamentarischen Bewegung gegen das kapitalistische System entwickeln. Die Zeit forderte die SPD unter der Überschrift "Links wagen!" auf, sie müsse "endlich aufhören die Linkspartei im Westen zu dämonisieren". Die Süddeutsche Zeitung fragte: "Wer hat Angst vorm roten Mann?", um anschließend den Politikwissenschaftler Josef Esser mit den Worten zu zitieren: "Das sind alles honorige und engagierte Leute... die könnten alle genauso in der SPD sein."

Noch ein letzter Punkt. Wiederholt sprechen Sie von der "politischen Naivität des Volkes", dem "oberflächlichen und vor allem zufälligen politischen Verständnis der Menschen" und der Gefahr, dass "so wie das Bewusstsein der Menschen derzeit geformt ist", dem derzeitigen Linksruck auch "andere Rucks" folgen könnten. Soll heißen: Angesichts der Naivität und Manipulierbarkeit der Massen braucht nur ein rechter Demagoge aufzutauchen, und schon folgen ihm die Massen.

Diese Argumentation hat eine lange Tradition. Theoretiker der Frankfurter Schule haben aus der Tragödie des 20. Jahrhunderts zutiefst pessimistische Schlussfolgerungen gezogen. Für sie war der Sieg der Nazis vor 75 Jahren und der anschließende Terror, einschließlich des Holocaust, vor allem ein Beweis für die Unfähigkeit der Arbeiterklasse, dem Rückfall in die Barbarei Einhalt zu gebieten und eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen. Die Theoretiker der DDR vertraten sehr ähnliche Standpunkte und leiteten daraus ihr Recht ab, die Arbeiterklasse in allen Fragen zu bevormunden, zu terrorisieren und jede selbstständige Regung der Arbeiter im Keim zu ersticken. Die Verantwortung von Stalinismus und Sozialdemokratie, die vor Hitler kapitulierten, obwohl die Arbeiterklasse kampfbereit hinter ihnen stand, wurde von beiden ausgeblendet.

Unserer Partei - die Vierte Internationale - ist der lebendige Beweis dafür, dass es eine Alternative zum Stalinismus gab. Die physische Vernichtung der Trotzkisten und die damit verbundene politische Enthauptung der Arbeiterklasse durch die stalinistische Bürokratie war eine der wesentlichen Grundlagen für den Sieg der Faschisten. Diese historischen Fragen gewinnen angesichts der gegenwärtigen schnellen Veränderung der politischen Situation und der wachsenden Radikalisierung in der Arbeiterkasse und vieler Jugendlicher wieder große Bedeutung. Unser politisches Eingreifen im Hessenwahlkampf war ein wichtiger Schritt, um den Einfluss der PSG in der kommenden politischen Entwicklung zu stärken.

Mit sozialistischen Grüßen,

Ulrich Rippert

Siehe auch:
Massiver Linksruck in der Bevölkerung
(29. Januar 2008)
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