Unabhängigkeitserklärung des Kosovo destabilisiert Europa

Gestern erklärte das kosovarische Parlament die Unabhängigkeit der Provinz Kosovo von Serbien. Damit ist ein weiterer Krieg auf europäischem Boden näher gerückt. Der Schritt wurde von den USA und den europäischen Mächten vorbereitet und ermutigt, obwohl man sich sehr wohl darüber im Klaren war, dass dies die Spannungen mit Russland verschärft.

Der kosovarische Ministerpräsident Hashim Thaci erklärte: "Die Unabhängigkeit des Kosovo ist die letzte Etappe in der Auflösung des ehemaligen Jugoslawien". Der serbische Ministerpräsident Vojislaw Kostunica dagegen nannte den Kosovo einen "falschen Staat". Es wird erwartet, dass die einseitige Ablösung des Kosovo Anerkennung von Seiten der USA und der EU findet. Serbien und Russland lehnen den Schritt entschieden ab, weil er in ihren Augen eine offene Verletzung internationalen Rechts darstellt.

Der Kosovo war lange das Zentrum scharfer Konflikte zwischen der serbischen Regierung und separatistischen Kräften der ethnischen Albaner, die die Bevölkerungsmehrheit in der Provinz stellen. An der Spitze der Separatisten stand die Kosovo Befreiungsarmee (UCK). Diese Konflikte wurden von den Westmächten ausgenutzt, um Jugoslawien zu zerschlagen und ihre Vorherrschaft über diese Region zu sichern. Ihr Interesse an der Balkanregion erklärt sich aus der strategischen Kontrolle, die von hier aus über die Öl- und Gasvorkommen und sonstigen Bodenschätze in den ehemals sowjetisch dominierten Gebieten auszuüben ist.

Die UCK wurde insgeheim von den USA und Deutschland bewaffnet und ausgebildet, auch wenn sie gleichzeitig offiziell von den USA als Terrororganisationen eingestuft war, die sich durch Drogenhandel finanzierte. 1996 begann die UCK mit Angriffen auf serbische Polizeistationen im Kosovo, was zu einem militärischen Konflikt mit der serbischen Regierung unter Slobodan Milosevic führte. 1998 war die Provinz ethnisch gespalten. Mitte 1998 kontrollierte die UCK 25 bis 40 Prozent des Kosovo, bevor die serbische Armee die Gebiete zurückeroberte. Die sich abzeichnende Niederlage der UCK veranlasste die NATO im Jahre 1999 zur direkten Intervention; begründet wurde dieser Schritt damit, dass man angeblich ethnische Säuberungen und Gräueltaten von Seiten der serbischen Armee verhindern wollte.

Der Krieg endete am 10. Juni, nachdem 78 Tage lang Luftangriffe auf Serbien und die serbische Armee stattgefunden hatten. Am Ende der kriegerischen Auseinandersetzungen kam es zu einem Zusammenstoß zwischen britischen und russischen Einheiten auf dem Flughafen von Pristina.

Das Kosovo wurde der Kontrolle der Vereinten Nationen unterstellt. Die Regelungen widerspiegelten den intensiven Machtkampf um Einfluss in der Region zwischen den USA und der EU auf der einen und Russland auf der anderen Seite. Das Kosovo hat kaum mehr als zwei Millionen Einwohner, in der Mehrheit ethnische Albaner. Aber es blieb auch noch eine Minderheit von Serben, die selbst heute, nach mehrfachen Vertreibungsversuchen, immer noch 120.000 Köpfe zählt.

Die UN-Resolution 1244 vom 10. Juni 1999 ordnete an, dass sich die jugoslawischen Truppen aus der Provinz zurückziehen mussten und der Kosovo dem UN-Sicherheitsrat (dem auch Russland als permanentes Mitglied angehört) und seine Militärmission KFOR unterstellt wurde. Der Begriff "Unabhängigkeit" kam darin nicht vor. Die Resolution formulierte lediglich das allgemeine Ziel einer "Erleichterung eines politischen Prozesses mit dem Ziel, unter Berücksichtigung des Rambouillet-Abkommens den künftigen Status des Kosovo zu bestimmen" und einer "politischen Lösung der Kosovo-Krise". Die Präambel erwähnt ausdrücklich die "territoriale Unversehrtheit der Bundesrepublik Jugoslawien" und Artikel 10 ermächtigt den Generalsekretär, eine "zivile Präsenz" einzurichten, "unter der die Bevölkerung des Kosovo substantielle Autonomie innerhalb der Bundesrepublik Jugoslawien genießen kann".

Seitdem jedoch der Westen Milosevics Sturz im September 2000 herbeigeführt hat und Bush US-Präsident ist, drängen die Vereinigten Staaten auf die Unabhängigkeit des Kosovo. Im Juni letzten Jahres besuchte Bush Albanien und ließ Russland wissen, dass Unabhängigkeit wohl kaum über eine Blockadehaltung im Sicherheitsrat zu verhindern sei.

Dies ist nur ein Beispiel für die wachsenden Spannungen zwischen Moskau und Washington. Konflikte gibt es nicht weniger über die Frage, wer die Energiereserven im Mittleren Osten und Zentralasien kontrolliert, und über die US-Pläne, Raketenstellungen in Polen und eine Radarstation in Tschechien aufzustellen.

Die wichtigsten europäischen Staaten - Deutschland, Frankreich und Großbritannien - halfen Amerika, den Sicherheitsrat zu umgehen und letztlich eine begrenzte Unabhängigkeit des Kosovos auf der Grundlage des Vorschlags durchzusetzen, den der ehemalige finnische Präsident Martti Ahtisaari im Auftrag der UNO entwickelt hatte. Begrenzt ist die Unabhängigkeit durch Regelungen, die eine internationale Aufsicht ebenso vorsehen wie Obergrenzen für die Armee des Kosovo und Sicherheitsgarantien für die Serben und andere Minderheiten. Es ist dem Kosovo nicht erlaubt, sich einem anderen Staat - sprich: Albanien - anzuschließen.

Die EU hat schon eine 2.000 Mann starke Militär- und Justizmission für den Kosovo beschlossen, die ab Juni die Aufsichtsfunktion von der UN übernehmen soll. Das Personal der Mission trifft gestaffelt ein, aber am 1. Juni sollen 1.500 Polizisten vor Ort sein, unter ihnen Sondereinheiten zur Aufstandsbekämpfung, 250 Richter, Staatsanwälte und Zollbeamte. Sie kommen aus Deutschland, Italien und den USA. Die NATO-Truppen bleiben weiterhin in der Provinz stationiert.

In der Erklärung zur EU-Mission heißt es lapidar, dass die Unabhängigkeit des Kosovo vom Geist der Resolution 1244 gedeckt sei. "Sobald eine Einheit sich zu einem Staat im Sinne des internationalen Rechts entwickelt hat, kann eine politische Entscheidung getroffen werden, ihn anzuerkennen."

Der Schritt wurde von Russland und dem westlich orientierten serbischen Präsidenten Boris Tadic verurteilt, der erst vergangene Woche sein Amt angetreten hat und von nationalistischen Parteien bedrängt wird. Moskau und Belgrad betonen, dass Serbien ein souveräner Staat ist, der einer Unabhängigkeit des Kosovo nicht zugestimmt hat. Es gibt keine UN-Resolution, die eine Unabhängigkeit des Kosovo von Serbien billigt, und deswegen wird diese als unrechtmäßig verurteilt.

Der russische Außenminister Sergei Lawrow erklärte am 12. Februar: "Es geht hier um die Unterhöhlung des gesamten internationalen Rechts, um die Unterhöhlung der Prinzipien, die mit großer Anstrengung, unter Schmerzen, Opfern und Blutvergießen in Europa errungen und als Grundlage des Völkerrechts niedergelegt wurden.

Es geht um die Unterhöhlung der Prinzipien, auf denen die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) beruht, um die Prinzipien, die in den Gründungsdokumenten der UNO niedergelegt sind."

Das russische Außenministerium erklärte am Freitag, es werde eine Unabhängigkeitserklärung des Kosovo in Bezug auf die nach Unabhängigkeit von Georgien strebenden Regionen Abchasien und Südossetien "berücksichtigen". Eine Unabhängigkeit des Kosovo "setzt eine Revision der allgemein anerkannten Normen und Prinzipien des Völkerrechts voraus", die für separatistische Bewegungen von Moldawien bis Indonesien von Bedeutung sind, hieß es aus Moskau.

Kurz vorher hatte Präsident Wladimir Putin im Kreml auf seiner letzten Jahrespressekonferenz als Präsident erklärt, dass eine Unabhängigkeitserklärung "unrechtmäßig, unbedacht und unmoralisch" wäre.

Putin argumentierte, der Kosovo falle in die gleiche Kategorie wie separatistische Konflikte in Teilen der ehemaligen Sowjetunion, so zum Beispiel in Abchasien, Südossetien und Transnistrien. Er warnte, Russland könne sich zu handeln gezwungen sehen. "Andere Länder verfolgen ihre Interessen. Es scheint uns angemessen, wenn auch wir nach unseren Interessen schauen. Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht und wir wissen, was wir zu tun haben", drohte er.

Schon wachsen die Befürchtungen, dass Russland jetzt separatistische Forderungen unterstützt, die Amerika verbundene Staaten wie Georgien und Ukraine destabilisieren würden. Darüber hinaus herrscht Angst, dass die Entwicklung im Kosovo separatistische Bestrebungen in ganz Europa beflügeln könnte.

Serbiens Außenminister Vuk Jeremic warnte vor einem Präzedenzfall, der zu "einer unkontrollierten Kaskade von Abspaltungen" führen könne.

"Sollte Serbien gegen seinen Willen geteilt werden... dann könnte die Folge eine Eskalation vieler schwelender Konflikte, die Neuentfachung zahlreicher ruhender Konflikte und der Anlass für den Ausbruch wer-weiß-wie-vieler neuer Konflikte sein", warnte er.

Serbien droht, eine Blockade gegen den Kosovo zu verhängen und die Strom- und Telefonleitungen in die Region zu kappen. Aber Moskaus Reaktion ist weit wichtiger und beschwört einen direkten Konflikt mit den USA herauf.

In Begleitung des ukrainischen Präsidenten Viktor Juschtschenko sagte Putin vergangene Woche in Moskau, Russland müsse möglicherweise seine Raketen auf die Ukraine richten, wenn das Land in die NATO eintrete und der Stationierung der amerikanischen Raketenabwehr zustimmen sollte. "Schon der Gedanke, dass Russland als Antwort seine Atomraketen auf die Ukraine richten müsste, ist erschreckend. Das ist, was uns Sorgen macht", sagte Putin.

Die amerikanische Außenministerin Condoleezza Rice verurteilte die russische "Einschüchterung von Nachbarn". Sie erklärte, "die verwerfliche Sprache Moskaus" sei "völlig unakzeptabel", und fügte hinzu, Washington sei "der Unabhängigkeit und Souveränität der Ukraine und anderer Staaten verpflichtet, die vormals zur Sowjetunion gehörten".

Vor diesem Hintergrund muss die Initiative zur Unabhängigkeit des Kosovo beurteilt werden. In Wirklichkeit entsteht dort lediglich ein Protektorat des Westens. Es wird von der EU verwaltet, aber als Brückenkopf für eine breitere, von den USA geführte Offensive gegen das erstarkende Russland benutzt, das von den wachsenden Einnahmen aus dem Öl- und Gasgeschäft profitiert. In jeder Hinsicht stellt sie eine große Gefahr für die Bevölkerung Europas und der Welt dar.

Serbien erklärt, nicht militärisch im Kosovo eingreifen zu wollen, während der Ex-UCK-Führer Thaci verspricht, die Rechte der Minderheiten zu schützen und "allen Bürgern Sicherheit" zu bieten. Beide Beteuerungen sind wenig wert.

Die 16.000 Mann starke NATO-Truppe bereitet sich schon auf Konflikte vor. Ungefähr die Hälfte der serbisch-stämmigen Bevölkerung lebt südlich des Flusses Ibar in Enklaven inmitten der überwiegend albanisch-stämmigen Mehrheit. Die übrigen leben in überwiegend serbisch geprägten Gebieten im Norden, wo auch noch etwa 5.000 ethnische Albaner leben. Im Nordteil der geteilten Grenzstadt Mitrovica haben serbische Führer angekündigt, ihr eigenes Parlament einzuberufen, dass sich nur Belgrad verpflichtet fühlt. Die Truppen haben Betonbarrieren errichtet und Stacheldraht gezogen.

Obwohl Großbritannien schon in Afghanistan und dem Irak unter Druck steht, werden wahrscheinlich bis zu 1.000 zusätzliche Soldaten in den Kosovo geschickt. Das letzte verbliebene Reservebataillon wurde in Alarmbereitschaft versetzt. Dem britischen Daily Telegraph sagte Generalmajor Martin Rutledge, der für die Polizeiaktion im Kosovo verantwortlich ist: "Wenn wir da falsch heran gehen, dann kann es passieren, dass wir die Lage in den nächsten Monaten deutlich destabilisieren. Ich glaube nicht, dass das übertrieben ist. Wir spielen mit ziemlich hohem Einsatz."

Der Telegraph merkt an, dass in den letzten neun Jahren "die militärischen Ambitionen der ehemaligen UCK-Führer neutralisiert wurden, indem man ihre Kommandeure in das Kosovo Schutz Corps (KPC) integriert hat - eine Zivilverteidigungstruppe, die als eine Art Feuerwehr fungiert und teilweise bewaffnet ist."

Diese Truppe soll nach der Unabhängigkeit halbiert werden. "Wenn wir ihr Vertrauen verlieren, dann haben sie reichlich Gelegenheit, sich in die Büsche zu schlagen und Dinge zu tun, die uns nicht gefallen", sagte Rutledge. "Sie wissen jedenfalls, wo die Waffen sind und wie sie daran kommen. Deswegen ist es ganz wichtig, sie mit Würde aufzulösen... In diesem Umfeld reichen ein paar wenige Leute aus, dass etwas Unerwünschtes eintritt."

Die Furcht vor Auseinandersetzungen mit Russland und der Ausbreitung separatistischer Bestrebungen hat zu Spannungen in Europa geführt. Griechenland, Spanien, Zypern, die Slowakei, Portugal, Malta, Bulgarien und Rumänien haben sich gegen eine Unabhängigkeitserklärung ausgesprochen. Einige der 27 EU-Staaten werden heute wohl formell ihre Ablehnung eines unabhängigen Staates Kosovo zu Protokoll geben.

Simon Tisdall von der britischen Tageszeitung Guardian sieht sich anlässlich dieser Situation veranlasst, vor "einem Moment großer Gefahr für Europa zu warnen... Die UN ziehen sich zurück und das Kosovo wird praktisch zu einem EU-Protektorat und unter die kostenträchtige und möglicherweise dauerhafte Aufsicht der Europäischen Union gestellt. Ob die EU-Länder - gespalten, von Natur aus entschlussschwach und unter dem Druck zahlreicher andere Anforderungen an Militär und Nation-Buildung (wie in Bosnien, dem Tschad, dem Libanon und in Afghanistan) - dieser Aufgabe gerecht werden, muss sich erst noch herausstellen."

Siehe auch:
Marxismus gegen Nationalismus - eine Podiumsdiskussion zum Kosovo
(28. November 2006)
Die USA, Europa und die Katastrophe auf dem Balkan
( 5. Juli 2001)
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