Die Weltkrise des Kapitalismus und die Perspektive des Sozialismus

Teil 5

Wir veröffentlichen hier den fünften und letzten Teil des Berichts, den Nick Beams auf der internationalen Schule des Internationalen Komitees der Vierten Internationale und der International Students for Social Equality in Sydney, Australien, vom 21. bis 25. Januar hielt. Beams ist Mitglied der internationalen Redaktion der World Socialist Web Site und Nationaler Sekretär der Socialist Equality Party Australiens.

Welche Bedeutung hat diese Analyse für die Entwicklung unserer Perspektiven?

Bedeutet der Aufschwung in der Kurve der kapitalistischen Entwicklung seit 1992, dass die sozialistische Revolution zumindest für die vorhersehbare Zukunft von der Tagesordnung zu streichen ist?

Oder bringt nicht andererseits ein solcher Aufschwung neue Spannungen und Widersprüche in das kapitalistische Weltsystem, die dann die objektive Grundlage für eine neue Periode politischer Erhebungen und revolutionärer Kämpfe bilden?

Beginnen wir unsere Analyse dieser Frage mit der Feststellung, dass ein Aufschwung in der Kurve der kapitalistischen Entwicklung eine soziale Revolution nicht ausschließt. Im Gegenteil, der Erste Weltkrieg von 1914 und die Russische Revolution von 1917 fanden am Ende eines Aufschwungs der kapitalistischen Entwicklung statt, der Mitte der 1890er Jahre eingesetzt hatte. Zu Beginn dieses Prozesses hatte Eduard Bernstein die Veränderungen in der Wirtschaft festgestellt und daraus geschlossen, dass die Revolution nicht länger eine realistische Perspektive sei und der Sozialismus nur das Ergebnis einer Reihe von Reformen sein könne. Diese Perspektive hat sich als vollkommen falsch erwiesen!

Auch die Bewegung der Arbeiterklasse von 1968 bis 1975, die unter einer anderen Führung durchaus eine soziale Revolution hätte hervorbringen können, fand nach dem längsten Aufschwung in der Geschichte des Weltkapitalismus statt. Die Bewegung brach, wie wir schon früher festgestellt haben, zu einem Zeitpunkt aus, an dem die Theoretiker der Neuen Linken, wie Marcuse, zum Schluss gelangt waren, die Arbeiterklasse sei so gründlich in das kapitalistische Ordnungsgefüge integriert, dass sie zumindest in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern nicht länger in der Lage sei, eine revolutionäre Rolle zu spielen. Auch diese Perspektive erwies sich als vollkommen unhaltbar.

Nach dieser Feststellung dürfen wir uns nicht in Phrasen verlieren oder einfach ein Plus setzen, wo andere ein Minus anbringen. Wir müssen die Veränderungen der objektiven Bedingungen nüchtern einschätzen, ihre Auswirkungen untersuchen und uns auf die politischen Entwicklungen vorbereiten, die sich daraus ergeben.

Wenn wir die Aussichten des Kampfs für den Sozialismus analysieren wollen, müssen wir und mit dem von Trotzki so bezeichneten kapitalistischen Gleichgewicht befassen. Der Kapitalismus, erklärte Trotzki, erzeugt ein Gleichgewicht, zerstört es, stellt es wieder her, um es erneut zu zerstören. Er wies dabei auf drei Schlüsselfaktoren hin: die ökonomische Entwicklung, die Klassenbeziehungen und die Beziehungen zwischen den kapitalistischen Staaten. Lasst uns nacheinander diese Faktoren untersuchen und sie zum Zweck der Analyse voneinander trennen, aber im Gedächtnis behalten, dass sie alle miteinander reagieren und interagieren.

Was die Sphäre der Wirtschaft angeht, so ist klar, dass ihre Ausdehnung während der letzten fünfzehn Jahre eine höchst instabile Lage geschaffen hat - verstärktes Wirtschaftswachstum in einigen Regionen, wenngleich, wie im Fall Chinas, auf unsicherem Fundament, verbunden mit weit reichenden Veränderungen in der Wirtschaftsstruktur der am weitesten entwickelten kapitalistischen Länder.

Amerika, die immer noch stärkste kapitalistische Macht und der größte Binnenmarkt, hat ein derartig hohes Defizit in seiner Zahlungsbilanz angehäuft, dass es auf den Zufluss von 75 Prozent der Rücklagen der gesamten Welt angewiesen ist, um weiter funktionieren zu können. In den letzten fünfzehn Jahren (wenn wir zurückgehen bis zum Zusammenbruch des Aktienmarkts 1987 sind es 20 Jahre) hielt eine Reihe spekulativer Blasen die amerikanische Wirtschaft am Laufen. Jetzt ist ein Stadium erreicht, in dem die Stabilität des Finanzsystems ernsthaft bedroht ist.

Der Umstrukturierungsprozess, der in den 1980er Jahren einsetzte und sich aufgrund der Globalisierung seit Beginn der 1990er Jahre bis heute beschleunigt, hat das Gesicht des amerikanischen Kapitalismus verändert.

Der Aufstieg des amerikanischen Kapitalismus im 20. Jahrhundert ging mit der Vorherrschaft seiner Industrie einher. Am Ende des 20. Jahrhunderts jedoch macht der Sektor Finanzwirtschaft, Versicherungswesen und Immobilienwirtschaft 20 Prozent der US-Wirtschaft aus, während die Industriegüterproduktion im Vergleich dazu nur noch bei 14,6 Prozent liegt.

In seinem Buch American Theocracy (Der amerikanische Gottesstaat) schreibt Kevin Phillips: "Die Gewinne des Finanzsektors sind Mitte der 1990er Jahre an denen der Produktion vorbei geschossen und gewinnen seither an Vorsprung. 2004 rühmten sich die Finanzkonzerne, fast 40 Prozent aller US-Gewinne zu erzielen. Der Finanzsektor kontrolliert in diesem Jahr ein Viertel der amerikanischen Börsenwerte, während es 1980 nur 6 Prozent und 1990 erst 11 Prozent waren. Historisch gesehen ist diese Veränderung so folgenschwer wie die Einführung der Eisenbahnen, von Eisen und Stahl und die Ablösung der Landwirtschaft in den Jahrzehnten nach dem Bürgerkrieg." (Kevin Phillips , American Theocracy, New York 2006, S. 265f)

Diese weit reichenden Veränderungen in der amerikanischen Wirtschaft bedeuten nicht einfach nur den Aufstieg der Finanzwirtschaft gegenüber der Industrie, sondern beinhalten eine grundlegende Verwandlung der Arbeitsweise des Finanzsystems selbst.

Während des Nachkriegsbooms akkumulierte das Finanzkapital Profite, indem es der Industrie Kredite zur Verfügung stellte und andere Formen des Bankgeschäfts betrieb sowie Hypotheken für den Eigenheimbau gewährte. Es bestand also eine ziemlich direkte Beziehung zwischen dem Herauspressen von Mehrwert aus der Arbeiterklasse und der Aneignung eines Teils davon durch das Finanzkapital. Heute funktioniert das anders. Die Profite des Finanzkapitals entstehen weniger durch eine direkte Aneignung von Mehrwert als durch die Veränderung von Kurswerten - d.h. durch Finanzmarktgeschäfte.

Was hat zu dieser Veränderung geführt? Im Wesentlichen waren es der Fall der Profitrate in den 1970er Jahren und die Tatsache, dass sich die Profitraten in den 1980er Jahren nicht ausreichend erholen konnten. Mit anderen Worten: Der Abschwung in der kapitalistischen Entwicklungskurve führte nicht nur zu Veränderungen in der Industriestruktur und zu einer Offensive gegen die Arbeiterklasse, sondern auch zu einer Umstrukturierung des Finanzkapitals.

Eine neuere Studie zeigt die Entwicklungslinien dieses Prozesses folgendermaßen auf:

"Nach dem Gewinnrückgang der Geschäftsbanken in den Vereinigten Staaten in den 1980er Jahren wurden die Regeln, denen Banken bei Geldanlagen und der Gewährung von Kurzzeitkrediten unterworfen waren, gelockert, um einen größeren Spielraum für Aktivitäten auf dem Kapitalmarkt zu schaffen, insbesondere für die Gründung von Tochtergesellschaften, die früher keine solchen Geschäfte getätigt hatten."

Der Autor bemerkt, dass Abschnitt 20 des Glass-Steagall-Gesetzes*) von 1933 ein derartiges Engagement verhindert habe, diese Hindernisse jedoch während der 1980er Jahre aus dem Weg geräumt wurden.

"Auf diese Weise dient das Bankensystem, das aus der Immobilienkrise der 1980er Jahre hervorging, nicht mehr in erster Linie der Unternehmensfinanzierung, noch hängen seine Einnahmen in erster Linie von der Nettoverzinsung ab. Grundlagen des Systems sind nun die Fähigkeit der Banken, durch den unmittelbaren Handel mit Sicherheiten, Aktien etc. Gewinne zu erwirtschaften, sowie Tochtergesellschaften, die Provisionserträge einbringen.

Dieses System hat eine neue Art von Bankgeschäften hervorgebracht, die als ‘Originate and Distribute’ bezeichnet werden. Damit maximieren die Banken ihre Einnahmen aus der Neukreditvergabe. Sie verwalten diese Darlehen bilanzextern in Tochtergesellschaften und verbriefen bei deren Weiterveräußerung die Sicherheiten für die Kredite und deren Rückzahlung." (Jan Kregel Minsky , Cushions of Safety, Levy Institute Public Policy Brief No. 93, 2008, S. 10-11) .

Der Gewinn der Bank basiert bei diesem Modell auf der Veräußerung der selbst vergebenen Kredite und nicht auf Zinsgewinnen aus ihrem Darlehensbestand - d.h. auf der Zinsspanne zwischen vergebenen und aufgenommenen Krediten.

Im System "Originate and Distribute" wird der Umfang der Kreditvergabe dadurch bestimmt, wie viele Kredite weiterveräußert werden können - d.h. durch die Nachfrage nach verbrieften Krediten auf dem Finanzmarkt. Bei niedrigem Zinsniveau blieb die Nachfrage hoch, wobei die Finanzmärkte auf die Vergabe immer neuer und risikobehafteter Kredite drängten.

Die niedrigen Zinsen, die für dieses System so entscheidend waren, hingen wiederum davon ab, dass die Inflationsrate trotz sich ausweitender Kreditvergabe niedrig blieb. Dies war möglich durch die Einbeziehung Chinas, Indiens und der früheren stalinistischen Länder in den Weltmarkt.

Jetzt gibt es klare Anzeichen, dass die Zeit der niedrigen Inflation ans Ende gekommen ist, und dies schafft größere Probleme für die Wirtschaftspolitik.

Die bevorzugte Methode, mit welcher der frühere Vorsitzende der amerikanischen Notenbank Fed, Alan Greenspan, Rezessionstendenzen begegnete und die Verluste aus Finanzkrisen aufzufangen pflegte, waren Zinssenkungen und das Anheizen der Finanzmärkte. Aber das Ansteigen der Inflation schafft jetzt größere Probleme.

Wie der aktuelle US-Notenbankchef Ben Bernanke in seiner Rede vom 10. Januar deutlich machte, will die Fed alles Erdenkliche unternehmen, um einer Rezession entgegenzuwirken. Aber andererseits nimmt der inflationäre Druck zu und jede "Andeutung einer möglichen Inflation" würde "das Aufrechterhalten der Preisstabilität sehr verkomplizieren und die Flexibilität der Zentralbankpolitik beeinträchtigen, künftig einer Wachstumsdelle entgegenwirken zu können."

Dies ist kein kurzfristiges Problem. In seiner jüngst erschienenen Autobiografie erklärt Greenspan, dass er während seiner Amtszeit begünstigt war, weil er wegen des deflationären Drucks, den der Eintritt Chinas in den Weltmarkt mit sich brachte, sich bei der Zinssenkung keine Gedanken um die Auswirkungen auf die Inflation machen musste. In späteren Interviews deutete er an, dass seine Nachfolger wohl weniger Glück hätten, da die Preise und der inflationäre Druck unvermeidlich steigen würden.

Es ist klar, dass es an der ökonomischen Front bedeutende Faktoren gibt, die das relative Gleichgewicht der vergangenen Periode zu stören drohen. Die für die Geldpolitik Verantwortlichen stehen vor Widersprüche, durch die sich sinkende Profitraten ankündigen könnten. Durch geringere Kosten für Arbeitskraft und Kapitalbeschaffung konnte in den vergangenen 15 Jahre ein gewisses Niveau der Profitrate erhalten werden, doch nun spricht einiges dafür, dass der kapitalistische Aufschwung sein Ende findet.

Die zweite Schlüsselfrage ist das Verhältnis der großen kapitalistischen Mächte untereinander. Der Aufschwung in der kapitalistischen Wirtschaft, der zu einem Wachstumsschub seit dem Jahr 2000 geführt hatte, erweist sich als ein in hohem Maße destabilisierender Prozess.

Der Aufstieg Chinas und anderer Mächte wie Russland stört das alte Gleichgewicht, das nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden ist. Ähnliches gab es schon in einer früheren Periode, als gegen Ende des 19. Jahrhunderts durch den Aufstieg Deutschlands, Japans und der USA das Gleichgewicht durcheinander geriet, das bis dahin durch Großbritannien und sein Weltreich aufrechterhalten worden war. Das Ergebnis war in diesem Fall eine drei Jahrzehnte umspannende Kriegsperiode. Ein neues Gleichgewicht wurde erst unter der Vorherrschaft der USA 1945 geschaffen. Es gründete sich nicht so sehr auf die amerikanische Militärmacht, sondern vor allem auf wirtschaftliche Überlegenheit der Vereinigten Staaten. Jetzt ist diese wirtschaftliche Machtposition untergraben. Dies ist ganz ersichtlich anhand einer bemerkenswerten Zahl: Die amerikanische Wirtschaft hat heute den gleichen Anteil an der Weltwirtschaft wie 1940.

Der amerikanische Imperialismus versucht jetzt, dem Verlust seiner wirtschaftlichen Dominanz entgegenzuwirken und seine globale Position mit militärischen Mitteln aufrechtzuerhalten. Dies steht historisch hinter dem Ausbruch des US-Militarismus, der sich von seiner blutigsten Seite zurzeit im Irak zeigt, aber global agiert. Von der Arktis bis zum Nahen Osten, in Zentralasien, Afrika, Osteuropa und auf dem Balkan gibt es zahlreiche Konfliktherde, wo die Interessen zweier oder mehrerer kapitalistischer Mächte aufeinanderprallen.

Wenn wir auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts zurückblicken, dann ist klar, dass die Pax Americana, die nach dem Zweiten Weltkrieg, nach drei Jahrzehnten kriegerischer Auseinandersetzungen errichtet wurde, von entscheidender Bedeutung für die Stabilisierung des kapitalistischen Weltsystems war. Jetzt ist der Niedergang des amerikanischen Kapitalismus der explosivste Faktor in den internationalen Beziehungen - nicht zuletzt da alte und neu aufstrebende Mächte bereitstehen, die Weltmacht zu beerben.

In der Struktur der Weltwirtschaft hat es eine große Veränderung gegeben. Vor fünfzehn Jahren betrug der Anteil der G7-Volkswirtschaften an den globalen ökonomischen Aktivitäten annähernd 70 Prozent (nominell). Jetzt entfallen auf sie nur noch 62 Prozent der ökonomischen Aktivitäten und 43 Prozent auf der Basis der Kaufkraftparität.

Lasst uns jetzt zur Frage kommen, welches Verhältnis die Klassen zueinander einnehmen.

Das überragende Merkmal des gesellschaftlichen Lebens in allen entwickelten kapitalistischen Ländern ist die wachsende soziale Ungleichheit. Die Zahlen für die Vereinigten Staaten sind am drastischsten, aber keineswegs singulär. Sie stehen für eine allgemeine Entwicklung.

Wie Dave North in seinem einleitenden Bericht zur Mitgliederversammlung der SEP (USA) feststellte: "Neueste Untersuchungen von Edward N. Wolff vom Levy Economics Institute of Bard College belegen das enorme Ausmaß der sozialen Ungleichheit in den Vereinigten Staaten. Die statistischen Daten, die die Verteilung von Vermögen und Einkommen betreffen, belegen den außergewöhnlich hohen Grad der gesellschaftlichen Schichtenbildung. Das oberste Prozent der Bevölkerung besitzt 34,3 Prozent des Vermögens aller Haushalte der USA, die nächsten vier Prozent 24,6 Prozent und die nächsten fünf Prozent 12,3 Prozent. Zusammen genommen besitzen die reichsten 10 Prozent etwa 71 Prozent des Volksvermögens. Die darauf folgenden 10 Prozent besitzen gerade mal 13,4 Prozent des Volksvermögens, das dritte Quintil [Fünftel] 3,8 Prozent und die untersten 40 Prozent der Haushalte 0,2 Prozent!

Lässt man Grundstücks- und Wohneigentum außer Acht, dann ist die gesellschaftliche Teilung noch stärker. Das oberste Prozent aller Haushalte besitzt 42,2 Prozent des Vermögens (ohne Immobilien), die obersten 10 Prozent knapp 80 Prozent und die unteren 80 Prozent 7,5 Prozent. Die ärmsten 40 Prozent besitzen minus 1,1 Prozent des Vermögens ohne Immobilien.

Was das Einkommen angeht, so erzielt das oberste Prozent 20 Prozent des Gesamteinkommens, die obersten 10 Prozent bekommen 45 Prozent, die unteren 80 Prozent 41,4 Prozent. Auf die ärmsten 40 Prozent entfallen nur 10,1 Prozent des Einkommens."

Diese Studie enthält noch einige andere Zahlen, die die Bedeutung dieser Entwicklung verdeutlichen. In den ersten Jahren dieses Jahrhunderts konnten wir einen steilen Anstieg bei der Verschuldung der Privathaushalte beobachten. Das Durchschnittsvermögen, das einem Haushalt zur Verfügung steht, sank in den Jahren von 2001 bis 2004 um 0,7 Prozent. So etwas fand früher nur in Zeiten der Rezession statt. Das Durchschnittsvermögen ohne Grundstücks- und Wohneigentum fiel von 2001 bis 2004 um 27 Prozent. Das Durchschnittseinkommen sank von 2000 bis 2003 um ungefähr sieben Prozent.

Wenn man einen längeren Zeitraum betrachtet, dann ist das durchschnittliche Vermögen der ärmsten 40 Prozent der Bevölkerung von 1983 bis 2004 um 59 Prozent gesunken. In der gleichen Zeit hat sich das reichste Prozent nicht weniger als 35 Prozent des Gesamtanstiegs beim Eigenkapital angeeignet. Das reichste Hundertstel erlangte 42 Prozent des Vermögenszuwachses, wenn man Grundstücke und Häuser nicht einrechnet, und vom Gesamtzuwachs bei den Einkünften erhielt es 33 Prozent. Die den Vermögenswerten nach mittleren drei Fünftel der Bevölkerung erlebten von 2001 bis 2004 einen gewaltigen Anstieg der Verschuldung. Im Verhältnis zu den Einkünften wuchs ihre Verschuldung von 100,3 auf 141,2 Prozent; gleichzeitig verdoppelte sich die Verschuldungsrate im Verhältnis zum Eigenkapital, nämlich von 31,7 auf 61,6 Prozent.

Die Ausrichtung der amerikanischen Wirtschaft auf das Finanzkapital - ein Prozess, der sich in anderen kapitalistischen Ländern ebenfalls abgespielt hat - war der zentrale Mechanismus, durch den das Vermögen an die oberen Einkommen umverteilt wurde. Diese Entwicklung beruhte auf niedrigen Zinsen und der Ausweitung des Kreditwesens, wodurch es zu einem Wachstum der Vermögenswerte kam und mit Hilfe finanzieller Transaktionen enorme Gewinne akkumuliert werden konnten. Diese niedrigen Zinsen waren hingegen nur möglich, weil sich die Integration Chinas und anderer Billigproduzenten in den kapitalistischen Weltmarkt deflationär auswirkte.

Das erklärt den Zusammenhang zwischen dem Anwachsen der sozialen Ungleichheit und der Herausbildung einer sozialen Schicht, die ein unmittelbares materielles Interesse daran hat, dass sich die Herrschaft des "freien Marktes" unter der Oberhoheit der USA in jedem Winkel der Erde ausbreitet.

Wie David North in Nach der Schlächterei: Politische Lehren aus dem Balkankrieg schreibt, gibt es eine Schicht in den entwickelten kapitalistischen Ländern, die direkt vom Imperialismus und Militarismus profitiert. Diese soziale Schicht ist kein Produkt der Bush-Regierung. Ihr Ursprung liegt weiter zurück.

Bill Clinton spielte am Vorabend der Bombardierung Serbiens im April 1999 auf die wirtschaftlichen Grundlagen des amerikanischen Imperialismus an. Er sagte: "Wenn wir starke wirtschaftliche Verhältnisse haben wollen, dann muss es uns möglich sein, überall auf der Welt zu verkaufen. Europa hat da eine Schlüsselstellung.... Darum allein geht es im Kosovo."

Der Auslandskorrespondent der New York Times drückte es noch etwas drastischer aus: "Die verdeckte Hand des Marktes wird nie funktionieren ohne eine verdeckte Faust - McDonalds kann keine Geschäfte machen ohne McDonnell Douglas, den Erbauer der F-15. Und die verdeckte Faust, die die Welt sicher macht für die Technologien aus dem Silicon Valley nennt man das Heer der USA, die Luftwaffe, die Marine, das Marine Corps...Ohne das Amerika, das seine Pflicht erfüllt, gibt es kein America Online." (New York Times Magazine, 28. März, 1999).

Der Verlauf der objektiven Entwicklung, den wir aufgezeigt haben, bildet die Grundlage für das Aufbrechen von Klassenkonflikten und grundlegende Veränderungen in der politischen Orientierung der Arbeiterklasse. Alles deutet auf den Beginn einer neuen Periode revolutionärer Kämpfe hin.

Unsere Aufgabe ist es, die notwendigen politischen Vorbereitungen zu treffen, um den Herausforderungen gewachsen zu sein.

Zum Schluss meiner Ausführungen komme ich auf einige dieser Entwicklungen im Gebiet der politischen Ökonomie zu sprechen.

Der Wissenschaftler David Harvey hat einige Bücher zur politischen Ökonomie geschrieben und seine Werke enthalten wichtige Erkenntnisse. Aber wie so vieles, was man mangels besserer Begriffe "akademischen Marxismus" nennen könnte, wird die Geschichte des Kampfs für den Marxismus in der Arbeiterklasse darin vollkommen falsch dargestellt und entstellt.

In seinem Buch Der neue Imperialismus greift Harvey ein Thema auf, das er die "klassische Ansicht" der marxistischen Linken nennt: Die Lohnarbeiter als entscheidende Kraft historischen Wandels. Das Proletariat als alleinige Kraft der historischen Transformation anzusehen, so Harvey, ignoriere soziale Bewegungen wie den Feminismus und die Umweltbewegung und diese "zielgerichtete Konzentration eines großen Teils der marxistisch und kommunistisch inspirierten Linken auf proletarische Kämpfe unter Ausschluss aller anderen war ein verhängnisvoller Fehler." (Harvey, David, Der neue Imperialismus, Hamburg 2005, S. 168).

Harveys Ansicht nach ist genau dies für die Rückschläge nach dem Ende des Nachkriegsbooms verantwortlich. Das wirkliche Problem aber liegt nicht da, wo Harvey es auszumachen glaubt, sondern in der Führung der Arbeiterbewegung und ihrem Verrat der Kämpfe in den Jahren von 1968 bis 1975, wodurch die Bourgeoisie ihre Offensive der letzten 30 Jahre beginnen konnte.

Harveys Ansichten erinnern an die Vorstellungen, die früher Marcuse vertrat. Gerade zu einem Zeitpunkt, wo die Entwicklung der globalen kapitalistischen Produktion zu einer atemberaubenden Anwachsen des Proletariats geführt hat - der Klasse, die ganz unabhängig von der verrichteten Tätigkeit vom Besitz an Produktionsmitteln ausgeschlossen ist und für ihr Auskommen arbeitet - vertritt er eine Umorientierung auf neue soziale Bewegungen.

Harvey setzt eine Hinwendung zur Arbeiterklasse mit gewerkschaftlichem Kampf für höhere Löhne gleich. Tatsächlich hat der Marxismus eine derartige Auffassung jedoch immer abgelehnt. Marxisten betonten stets, dass die sozialistische Bewegung nur auf der Grundlage eines politischen Kampfes aufzubauen ist, der sich gegen alle Formen von Unterdrückung richtet.

Man muss nur an Lenins Bemerkung erinnern, dass der revolutionäre Führer als "Volkstribun" kämpfen müsse, "der es versteht, auf alle Erscheinungen der Willkür und Unterdrückung zu reagieren, wo sie auch auftreten mögen, welche Schicht oder Klasse sie auch betreffen mögen, der es versteht, an allen diesen Erscheinungen das Gesamtbild der Polizeiwillkür und der kapitalistischen Ausbeutung zu zeigen, der es versteht, jede Kleinigkeit zu benutzen, um vor aller Welt seine sozialistischen Überzeugungen und seine demokratischen Forderungen darzulegen, um allen und jedermann die welthistorische Bedeutung des Befreiungskampfes des Proletariats klarzumachen." (Lenin, W.I.: Ausgewählte Werke, Berlin 1970, Band 1, Was tun? III, e, S.212f)

Was schlägt Harvey anstelle eines solchen Kampfes vor? Zwar stellt er fest, dass der Rückgriff auf den Militarismus ein verzweifelter Versuch der USA ist, ihre weltweite Vorherrschaft aufrecht zu erhalten, doch dann schreibt er: " Die einzig mögliche, wenn auch befristete Antwort auf dieses Problem innerhalb der Regeln einer kapitalistischen Produktionsweise ist eine Art von neuem ‘New Deal’ mit weltweitem Einflussbereich. Das würde bedeuten, die Logik der Kapitalzirkulation und -akkumulation von ihren neoliberalen Kräften zu befreien, die Staatmacht in die Richtung erweiterter Eingriffs- und Umverteilungsmöglichkeiten umzuformulieren, die Spekulationsmacht des Finanzkapitals einzuschränken und die überwältigende Macht von Oligopolen und Monopolen (insbesondere den ruchlosen Einfluss des militärisch-industriellen Komplexes), alles von den Bedingungen des internationalen Handels bis hin zu dem, was wir in den Medien sehen, lesen und hören, zu diktieren, zu dezentralisieren oder demokratisch zu kontrollieren. Der Effekt wäre die Rückkehr zu einem abgemilderten ‘New Deal’-Imperialismus, die zustande kommen würde durch die Koalition kapitalistischer Mächte, die Kautsky sich vor langer Zeit vorstellte." (Harvey, a.a.O., S. 202)

"Natürlich", so fährt er fort, "warten noch viel radikalere Lösungen hinter den Kulissen, aber die Entwicklung eines neuen ‘New Deal’, innenpolitisch wie international angeführt von den USA und Europa, ist angesichts der dagegen in Anschlag gebrachten überwältigenden Kräfte der Klassen und speziellen Interessen in der momentanen Situation sicherlich ein ausreichend harter Brocken." (Harvey, a.a.O., S. 204)

Die Verwüstungen, die das Finanzkapital und die neoliberale Doktrin des "freien Marktes" angerichtet haben, lassen zahllose Rufe nach einer Rückkehr zu regulierten Verhältnissen laut werden.

Nach den Worten eines anderen Autors ist es Zeit, "eine starke Haltung" einzunehmen und sichtbar einzugreifen, aber dies nicht mehr auf Nationalstaaten beschränkt - das sei offensichtlich unzureichend - sondern im Weltmaßstab. "Die Zeit ist reif, einen weltweiten Sozialvertrag zu schließen mit ausreichendem Spielraum für alle... Der historische Moment ist gekommen, dass die sichtbare Hand **) die Kontrolle übernimmt und die Marktbeziehungen umstrukturiert und sie wieder in das Leben der Menschen integriert." (Wim Dierckxsens, The Limits of Capitalism, London, 2000, S. 126-127)

Die französischen politischen Ökonomen Dumenil und Levy, die mit der ATTAC-Bewegung zusammenarbeiten, lassen keinen Zweifel an dem reformistischen Charakter ihrer politischen Ansichten, obwohl sie immer wieder auf Marx Bezug nehmen. Sie behaupten, dass ihre Analyse der kapitalistischen Krisen am Ende des 20. Jahrhunderts "die Diagnose von Keynes bestätigt: Die Kontrolle über die makroökonomische Situation und die Finanzinstitutionen darf nicht in privaten Händen gelassen werden, das heißt in denen des Finanzkapitals."

Weiter heißt es dort: "Diese keynesianische Sicht auf die Geschichte des Kapitalismus, einschließlich seiner gegenwärtigen Probleme, ist sehr vernünftig. Man kann nur bedauern, dass die politischen Bedingungen der letzten Jahrzehnte die neoliberale Offensive nicht stoppen konnten, um im Kontext anderer gesellschaftlicher Allianzen eine alternative Politik an ihre Stelle zu setzen - einen anderen Weg, die Krise zu managen. [...]

Sollte Keynes seines Reformismus wegen von denjenigen angeklagt werden, die immer noch von einer revolutionären Zukunft träumen? [...] Keynes Werk ist zweifellos das eines Reformisten. Seine brillanten, offenen, aber gesellschaftlich beschränkten Perspektiven sind trotzdem die einzige Alternative zu einem radikaleren Weg, von dem wir seit Jahrzehnten wissen, dass er in jeder Hinsicht ein Fehlschlag ist." (Duménil, Gérard; Lévy, Dominique , Capital Resurgent, Cambridge, Mass.Harvard University Press, 2004 , S. 201ff).

Andere Autoren wir Panitch und Gindin von der New York University, die mit der Zeitschrift Socialist Register zusammenarbeiten, gehen davon aus, dass der amerikanische Imperialismus sich noch lange nicht im Niedergang befindet. Er werde vielmehr die Krisen des kapitalistischen Weltsystems aufhalten und managen. "In China, in Nordamerika und überall sonst", schreiben sie, "bleibt es die zentrale Frage für Sozialisten, wie der richtige Widerstand zu entwickeln ist, um den Kapitalismus zu verändern". Der Kampf für seinen Sturz sei eindeutig von der Tagesordnung gestrichen.

Die radikale kanadische Autorin Naomi Klein erklärt, ihr jüngstes Buch mit dem Titel Die Schock-Strategie stelle die zentrale und beliebteste Behauptung der offiziellen Geschichte in Frage - "dass der Triumph des deregulierten Kapitalismus aus Freiheit geboren war, dass ungezügelte freie Märkte und Demokratie Hand in Hand gehen." Stattdessen zeige sie, "dass die Geburtshelfer dieser fundamentalistischen Form von Kapitalismus", wie sie der rechte Ökonom des 'freien Marktes' Milton Friedman und die so genannte Chicago School propagierten, "die brutalsten Formen von Gewalt waren, die man sowohl einer Bevölkerung kollektiv als auch einer Person individuell antun kann." (Klein, Naomi, : Die Schock-Strategie: Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus, Frankfurt am Main, 2007, S. 34)

Aber Klein verneint ausdrücklich, "dass alle marktwirtschaftlichen Systeme zur Gewalt tendieren." Sie schreibt: "Natürlich ist eine Marktwirtschaft, die nicht mit solcher Gewalt durchgesetzt werden muss und keinen solchen ideologischen Purismus verlangt, absolut im Bereich des Möglichen." (Klein, a.a.O., S. 36) Es könne einen freien Markt für Konsumgüter geben, kombiniert mit freier öffentlicher Gesundheitsversorgung, öffentlichen Schulen und einem großen Segment der Wirtschaft in der Hand des Staates und mit Gesetzen, die von den Konzernen verlangen, dass sie anständige Löhne zahlen und die Rechte der Gewerkschaften respektieren, sowie einer Verteilung des Reichtums, um die drastischen Ungleichheiten zu mildern.

"Keynes hatte nach der Weltwirtschaftskrise genau diese Art von gemischter, geregelter Wirtschaft vorgeschlagen, die zum New Deal und zu ähnlichen Veränderungen überall auf der Welt führten. Und um genau dieses System von Kompromissen, Regeln und Kontrollen in einem Land nach dem anderen systematisch wieder zu demontieren, wurde Friedmans Gegenrevolution gestartet." (Klein, a.a.O., S. 37) In einem Interview zu ihrem Buch, machte Klein deutlich, dass sie eine keynesianische "gemischte Wirtschaft" befürwortet, weil diese "realistisch" sei.

Aber nichts ist unrealistischer als die Vorstellung, es sei möglich, das Rad der Geschichte zurückzudrehen und eine Version des Nachkriegsbooms für das 21. Jahrhundert zu erfinden.

Vor allem ignorieren die Befürworter derartiger Vorschläge die Tatsache, dass der Boom nicht aufgrund keynesianischer Politik entstand, sondern verbunden war mit großen Veränderungen in der Struktur des Weltkapitalismus, die nicht zuletzt ein Ergebnis der Gewalt und der Zerstörungen infolge des zweiten Weltkriegs waren. Und mit dem Zusammenbruch des Booms - einer Folge objektiver Prozesse - waren die keynesianischen Methoden nicht mehr in der Lage, die darauf folgende Krise zu mildern. In einigen Fällen verschlimmerten sie die Krise sogar, und so trugen sie dazu bei, dass innerhalb der Mittelklasse eine gesellschaftliche Basis für Angriffe gegen die Arbeiterbewegung entstand.

Und darüber hinaus: Auch wenn sich eine bedeutende Bewegung für soziale Reformen in der Weise herausbilden würde, wie Klein und andere Befürworter des Keynesianismus es vorschlagen, so würde diese sehr rasch auf den Widerstand einer fest verwurzelten Elite stoßen, die entschlossen und mit allen Mitteln ihre Interessen verteidigt.

Die Leute, die derartige politische Vorschläge machen, wollen 'Realisten' sein. Sie grenzen sich ab von Marxisten, denen zufolge der einzige Weg vorwärts in der Mobilisierung der Arbeiterklasse für einen politischen Kampf gegen die kapitalistische Ordnung besteht und die für sozialistisches Bewusstsein als Grundlage dieser Perspektive kämpfen.

Tatsächlich aber folgen diese Leute dem gleichen Weg wie die Radikalen, die Marx vor mehr als 150 Jahren kritisiert hat. Statt objektive Prozesse und Entwicklungen zu untersuchen und das notwendige politische Programm daraus abzuleiten, arbeiten sie eine Reihe von Maßnahmen aus, die ihnen am angenehmsten und bequemsten sind, und preisen diese als allgemeine Lösung an.

Die Perspektive der sozialistischen Revolution und die Neuorganisation der Weltwirtschaft ist keine in weiter Ferne liegende Perspektive. Eine Untersuchung der objektiven wirtschaftlichen Entwicklungen und Tendenzen zeigt, dass sie die einzige realisierbare Grundlage für die Arbeiterklasse und gesamte Menschheit ist, um auf die sich verschärfende Krise der kapitalistischen Weltordnung und auf die Katastrophen, die sie hervorbringt, zu reagieren. Unser Ziel besteht darin, wichtige theoretische und politische Fragen zu klären, um das notwendige politische Bewusstsein zu entwickeln und dadurch diesen Kampf voranzubringen.

Ende

Anmerkungen des Übersetzers:

*) Der aus den Jahren 1932 und 1933 stammende Glass-Steagall Act diente der Eindämmung der Inflation während der Großen Depression. Das Gesetz schreibt unter anderem den Goldstandard sowie die Trennung von Geschäftsbanken und Investmentbanken vor.

**) sichtbare Hand (visible Hand): Anspielung auf Adam Smith, den Theoretiker des freien Marktes, der mit unsichtbarer Hand die Verteilung der Güter regele.

Siehe auch:
David North: Einleitender Bericht zur Internationalen Redaktionskonferenz der WSWS
(8. März 2006)
Loading