Berliner Finanzsenator Sarrazin hetzt gegen Hartz-IV-Empfänger

Der Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD) hat sich nicht nur als rücksichtsloser Haushaltssanierer einen Namen gemacht, sondern auch als Provokateur, der mit geradezu sadistischer Freude die Ärmsten der Armen angreift. Doch nun hat er sich selbst übertroffen.

Am 10. Februar veröffentlichte das Berliner Boulevardblatt BZ einen von Sarrazin zusammengestellten Drei-Tages-Speiseplan, der beweisen soll, dass der Hartz-IV-Regelsatz von 4,25 Euro pro Tag für Lebensmittel über dem Nötigen liegt. Mit Akribie rechnet Sarrazin vor, dass man sich bereits mit 3,76 Euro bzw. 3,98 Euro "völlig gesund, wertstoffreich und vollständig ernähren" könne. Der Finanzsenator (Monatsgehalt: 11.500 Euro) untermauert seinen Vorschlag mit praktischen Erfahrungen am eigenen Leib - alles in Allem eine "gute Nachricht", so Sarrazin.

Nach dem absurden Essensplan Sarrazins besteht eine der drei täglichen Mahlzeiten für einen Ein-Personenhaushalt aus einer Bratwurst für 38 Cent, 150 Gramm Sauerkraut für 12 Cent und Kartoffelbrei für 25 Cent, zusammen mit Gewürzen und Öl für noch mal 20 Cent. Das Frühstück wird mit zwei Brötchen, 25 g Marmelade, 20 g Butter, einer Scheibe Käse und einem Apfel als ausreichend bemessen. Damit würde der für Ernährung vorgesehene Anteil von 128 Euro des 347-Euro-Regelsatzes um ein Gutes unterboten - vorausgesetzt man würde stets die preisgünstigste Variante der verschiedenen Discounterangebote nutzen und kochen.

Folgt man diesen hanebüchenen und weltfremden Anweisungen, entpuppt sich der Speiseplan, selbst wenn man die langfristigen Folgen derart billiger Nahrungsmittel auf die Gesundheit ausblendet, als lebensbedrohlich. Die bei seiner Einhaltung laut Tagesspiegel durchschnittliche Energiezufuhr von rund 1550 kcal unterböte nämlich die von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung erstellte minimale Menge von 3000 kcal pro Tag bei leichter körperlicher Betätigung, was binnen vier Wochen zu gravierenden Konsequenzen führen würde. In Kombination mit der angesetzten Tagesmenge von 0,75 l Flüssigkeit muss wohl schon früher mit auftretenden Mangelerscheinungen gerechnet werden.

Den ohnehin schon niedrigen Regelsatz mit der ausschließlichen Fokussierung auf die Ernährung noch unterbieten zu wollen, spricht eine eindeutige Sprache. Der Finanzsenator reduziert damit menschliche Bedürfnisse in einer reichen Gesellschaft auf die ursprünglichste Form der Nahrungsaufnahme und erhebt das reine Überleben zum Maßstab der sozialen Sicherung.

Allen Menschen, denen es nicht gelingt, sich mit dem Regelsatz "völlig gesund, wertstoffreich und vollständig" zu ernähren, soll eingetrichtert werden, sie seien daran selbst schuld. Sie seien wohl nicht in der Lage, ordentlich zu wirtschaften, kurz: es mangele ihnen letztendlich nur an Disziplin. Sarrazins Worte bedienen sich so einem Kernargument rechter Ideologie.

Eine Banane statt eines Apfels, Schnitzel statt Bratwurst, frische Kartoffeln statt Kartoffelbrei und Brokkoli statt Sauerkraut, womöglich geräucherter Schinken oder abends gar ein Glas Wein - dies alles erklärt Sarrazin für 600.000 Hartz-IV-Empfänger allein in Berlin zum Luxus.

Seine Ignoranz treibt er mit dem Satz auf die Spitze, es sei eine "völlig falsche Richtung", die Menschen, die von Hartz IV leben, "künstlich unter die Armutsgrenze zu reden". Der Sozialdemokrat stellt damit die von der EU definierte relative Armutsgrenze infrage, wonach derjenige als arm gilt, dem weniger als 60 Prozent des jährlichen Durchschnittseinkommens zur Verfügung stehen. Derzeit liegt dieser Wert bei 9.370 Euro pro Person und Jahr, also weniger als der Finanzsenator im Monat einstreicht.

Zudem mag in dieser Definition der relativen Armut die physische Unversehrtheit gewährleistet sein, das sozio-kulturelle Existenzminimum wird aber deutlich unterschritten. Von einer Teilhabe am gesellschaftlichen Leben kann mit diesem Geld keine Rede sein. Doch die hält Sarrazin offensichtlich nicht für notwendig, wenn nicht sogar für unerwünscht, und steuert mit seinem Speiseplan aktiv dagegen.

Kritik weist er weit von sich. Im Gegenteil, in seinen Erwiderungen auf Kritik legt er noch nach. In der rbb-Fernsehsendung "klipp und klar" behauptete er: "Wenn man sich das anschaut, ist das kleinste Problem von Hartz-IV-Empfängern das Untergewicht." Das ist schon dreist. Er verkehrt so Ursache und Wirkung der Armut.

Nicht die Armen sind schuld, dass sie sich nur schlecht ernähren können. Die rot-rote Koalition hat in den letzten Jahren die Grundlage der Massenarmut in Berlin regelrecht geschaffen und die Armen zu schlechter Ernährung verdammt. Berlin stellt mit 335.000 Hartz-IV-Haushalten den höchsten Prozentsatz deutschlandweit. Kein Bundesland zählt auch nur annähernd so viele Ein-Euro-Jobs wie Berlin, wo es 39.000 davon gibt. Mit der umfangreichen Einführung von Ein-Euro-Jobs wurde ein System geschaffen, um tarifliche Vollzeitarbeit zu ersetzen und die Löhne zu drücken. Berlin war das erste Bundesland, das aus der Tarifgemeinschaft der Länder austrat, um eine Kürzung der Gehälter im Öffentlichen Dienst um 12 Prozent bei gleichzeitiger Erhöhung der Arbeitszeit auf 42 Stunden durchzusetzen.

Berlin brilliert also in mancher Hinsicht mit staatlich verordneter Verarmung. Sarrazin macht dagegen die Armen selbst für ihre prekäre Lebenssituation verantwortlich und entwirft ein Bild von übergewichtigen Asozialen, die ihr Geld in überflüssige Luxusgegenstände stecken, nicht verantwortungsvoll handeln können und durch ihre ungesunde Lebensweise am Ende noch das Gesundheitssystem belasten. Wieso also Kalorien verschwenden, die anscheinend sowieso nicht in produktiven Tätigkeiten verbraucht werden?

Dass Sarrazins Äußerungen angesichts der sozialen Lage in Berlin Programm sind, zeigt sich auch in der halbherzigen Distanzierung von Seiten des regierenden Bürgermeisters Klaus Wowereit. Der hat zwar mit Hinweis auf Sarrazins Einkommen diese "Einzelmenüvorschläge" als überflüssig betitelt, aber steht hinsichtlich früherer Kommentare mit Sarrazin ganz auf einer Linie.

In seiner im letzten September erschienenen Autobiografie fragte sich Wowereit im Zusammenhang mit Hartz IV, "ob das, was wir manchmal Armut nennen, nicht auch ein wenig mit der verloren gegangenen Fähigkeit zu disziplinierter und mathematisch korrekter Haushaltsführung zu tun hat". Den Mangel, den Hartz-IV-Empfänger erleiden, stellt er in direkten Zusammenhang mit Ausgaben für Alkohol, Lotto, Handy, Bezahl-Fernsehen (andere kulturelle "Luxusgüter" kommen wohl für sozial Schwache nicht in Frage) usw. - alles Dinge also, auf die Partylöwe Wowereit den Armen offensichtlich jeglichen Anspruch abspricht.

Sarrazin kann so provokant auftreten, weil er den gesamten Berliner Senat hinter sich weiß. Die Sozialsenatorin Heidi Knake-Werner (Linke) und die sozialpolitische Sprecherin der Bundes-Linken Katja Kipping haben sich zwar empört. Doch welchen Wert hat Kritik, die sich hinter der Koalitionsdisziplin versteckt? Während Sarrazin bestimmt, wo gespart werden muss, setzt Knake-Werner diese Kürzungen um - seit Jahren. Daher erachtete auch niemand innerhalb der Linken Rücktrittsforderungen oder ein Infragestellen der rot-roten Koalition für nötig.

Schaut man sich das Verhalten der Berliner Linken jenseits verbaler Kritik an, so hat sie immer treusorgend alle Kürzungen der gemeinsamen Regierungspolitik mitgetragen, obwohl sie in diametralem Gegensatz zu den offiziellen Forderungen der Linken stehen, und sie mit Sachzwängen und bestehenden Bundesgesetzen gerechtfertigt.

In Wahrheit steht die Verachtung gegenüber den Armen, die Sarrazin so offen ausspricht, hinter den Sozialkürzungen der Berliner Regierung. Die Argumentation mit "äußeren Sachzwängen", derer sich insbesondere die Linke nur zu gerne und ausreichend bedient, um den sozialen Kahlschlag zu legitimieren, ist pure Täuschung. Mit ihrer Reaktion auf die Ausfälle Sarrazins - zu nichts verpflichtendem Geheul - hat sich die Linke vollends aus ihrer Defensiv-Argumentation katapultiert, wonach gegen die Kürzungen aufgrund von Sachzwängen und Bundesgesetzen nichts zu machen sei. Mit ihrem Stillhalten gegenüber Sarrazin zeigt sie ihr wahres Gesicht als Steigbügelhalter rechter Politik und trägt aktiv dazu bei, das nötige ideologische Rüstzeug für deren Umsetzung zu liefern.

Siehe auch:
Zynismus gegenüber den Armen in Berlin
(24.Oktober 2004)
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