Die Streikbewegung im Öffentlichen Dienst erfordert eine neue politische Perspektive

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Die bundesweiten Warnstreiks im öffentlichen Dienst, der Streik der Berliner Verkehrsarbeiter und der nach wie vor ungelöste Tarifkampf der Lokführer haben sich zur größten Streikbewegung seit Jahrzehnten entwickelt.

Es geht in dieser Auseinandersetzung um weit mehr als um Lohnprozente und verbesserte Arbeitsbedingungen. Obwohl die Streiks für viele Menschen lange Wartezeiten und große Unannehmlichkeiten mit sich bringen, genießen sie außerordentlich große Unterstützung in der Bevölkerung. Die Meisten halten es für überfällig, dass endlich jemand dem sozialen Kahlschlag und der Umverteilung von unten nach oben entgegentritt. Was als Tarifkampf seinen Anfang nimmt, kann schnell darüber hinauswachsen und sich zu einer Volksbewegung gegen die gesellschaftlichen Zustände entwickeln.

In den vergangenen anderthalb Jahrzehnten wurde im öffentlichen Sektor jeder dritte Arbeitsplatz, insgesamt 2,2 Millionen, abgebaut. Während die Arbeitshetze zunimmt und von den Beschäftigten immer mehr gefordert wird, gehen die Einkommen zurück. Die öffentlichen Arbeitgeber stützen sich bei ihrem sozialen Kahlschlag auf die europäische Dienstleistungsrichtlinie, die den Druck durch Billiglöhne stark erhöht. Kommunale Betriebe sind teilweise privatisiert worden und die deutlich niedrigeren Löhne und schlechteren Arbeitsbedingungen der privaten oder halb-privaten Gesellschaften werden wie Brechstangen benutzt, um Sozialdumping durchzusetzen.

Bevor die Lokführer im Sommer vergangenen Jahres ihren Tarifkampf begannen, waren die ohnehin niedrigen Löhne innerhalb von zwei Jahren um zehn Prozent gesunken. Nicht anders ist es bei den Beschäftigten der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG). Mit dem Abschluss des Tarifvertrags Nahverkehr (TV-N) vor zwei Jahren haben sich die Arbeitsbedingungen drastisch verschlechtert. Die Mitarbeiter mussten auf bis zu zwölf Prozent ihres Gehaltes verzichten. Gleichzeitig wurde das Weihnachtsgeld gekürzt und das Urlaubsgeld gestrichen. Neu Eingestellte erhalten weniger als zwei Drittel des bisherigen Gehalts.

Dieser Abbau in den kommunalen Betrieben und Verwaltungen geht Hand in Hand mit einer Welle von Massenentlassungen in der Privatwirtschaft. Siemens baut 7.000 Stellen ab, BMW kündigt den Abbau von 8.000 Arbeitsplätzen an, Nokia schließt sein Werk in Bochum und verlagert die Produktion nach Rumänien, Telekom hat 50.000 Beschäftigte in eine betriebseigene Billigfirma ausgegliedert, mit niedrigeren Löhnen und schlechteren Arbeitsbedingungen. Nahezu täglich werden neue Entlassungen und weiterer Sozialabbau angekündigt.

Gleichzeitig geben viele Unternehmen Rekordgewinne bekannt, und die Bereicherung in den Chefetagen nimmt groteske Formen an. Porsche-Chef Wiedeking kassierte im vergangenen Jahr 54 Millionen Euro, Deutsche Bank-Chef Ackermann 13 Millionen, Bahnchef Mehdorn 3,2 Millionen. Die Einkommen der Vorstandschefs der Dax-Unternehmen stiegen seit 2002 um 62 Prozent. Die Löhne und Einkommen der unteren Gesellschaftsschichten sind dagegen seit 1992 preisbereinigt um 13 Prozent gesunken.

Eine korrupte Finanzoligarchie plündert die Gesellschaft aus, weigert sich Steuern zu zahlen, lebt in Saus und Braus und predigt Verzicht. Alle etablierten Parteien liegen ihr zu Füßen. Durch die Unternehmenssteuerreform 2007 wurden die Körperschaftssteuer für Gewinne der Kapitalgesellschaften von 25 auf 15 Prozent und die Steuern auf Gewinne aus Zinsen und Dividenden von 44 auf 26 Prozent gesenkt. Das führt in diesem Jahr zu geschätzten Steuerausfällen von 10 Milliarden Euro. Nun erklären Regierungsvertreter, die öffentlichen Kassen seien leer, es gebe keinen Spielraum für Lohnerhöhungen im öffentlichen Dienst.

Lehren aus den Streiks von 1974 und 1992

Die gegenwärtige Streikbewegung ist der Beginn einer Gegenoffensive nach Jahren des sozialen Abbaus. Damit sie Erfolg hat, ist es notwendig, eine kritische Bilanz zu ziehen.

Die gegenwärtige Lage ist nicht vom Himmel gefallen. Sie ist das Ergebnis jahrelanger sozialpartnerschaftlicher Zusammenarbeit der Gewerkschaften mit den Arbeitgebern. Ohne die tatkräftige Unterstützung von Verdi hätten die Löhne und Arbeitsbedingungen nicht auf das gegenwärtige Niveau gesenkt werden können. Und die Steuergeschenke an die Reichen, die die öffentlichen Kassen geleert haben, sind weniger durch Union und FDP vergeben worden, als durch SPD und Grüne.

Die beiden letzten großen Streiks im öffentlichen Dienst liegen Jahrzehnte zurück.

1974 erkämpfte die Gewerkschaft Öffentlicher Dienst Transport und Verkehr (ÖTV) - eine der Vorläuferorganisationen von Verdi - mitten in der Rezession eine Lohnerhöhung von 11 Prozent. Nachdem die Arbeiter die Regierung von Willy Brandt (SPD) 1971 gegen das Misstrauensvotum der CDU/CSU verteidigt und die SPD im darauf folgenden Jahr das beste Wahlergebnis ihrer Geschichte erzielt hatte, setzten viele Arbeiter große Hoffnungen in die SPD und forderten höhere Löhne und bessere Lebensbedingungen. Im Winter 1973/74 befanden sich zeitweilig zehn Millionen Arbeiter im Lohnkampf.

Bundeskanzler Brandt hatte sich deutlich gegen eine zweistellige Lohnerhöhung ausgesprochen, war aber nicht in der Lage, die Lohnbewegung zurückzudrängen. Deshalb wurde er bald darauf durch Helmut Schmidt (SPD) abgelöst, der sich auf die Gewerkschaftsbürokratie stützte, um die Lohnoffensive zurückzuschlagen. Schmidt band zu diesem Zweck 15 hochrangige Gewerkschaftsfunktionäre als Minister oder Staatssekretäre in die Regierungsverantwortung ein. Die Enttäuschung über die Rechtsentwicklung der SPD unter Schmidt ebnete der CDU den Weg an die Macht, und die Kohl-Regierung konnte sich dann 16 Jahre halten (1982-1998).

Schon Mitte und Ende der achtziger Jahre nahmen die sozialen Konflikte wieder deutlich zu, doch dann kam die deutsche Wiedervereinigung, und gestützt auf eine ideologische Kampagne über den angeblichen Triumph der kapitalistischen Marktwirtschaft konnte sich die Kohl-Regierung ein weiteres Jahrzehnt halten.

Der Zusammenbruch der DDR und der andern stalinistischen Regime in Osteuropa und der Sowjetunion war alles andere als ein Triumph des Kapitalismus oder ein "Sieg von Freiheit und Demokratie", wie die offizielle Propaganda glauben machte. In Wirklichkeit hatte die Globalisierung der Produktion und die rapide Entwicklung neuer Technologien im Transport- und Kommunikationssystem den national orientierten stalinistischen Regimes ihre Existenzgrundlage entzogen. Diese Entwicklung war aber nicht auf den Osten beschränkt, sondern untergrub auch die Politik des Sozialreformismus, was eine rapide Rechtsentwicklung der SPD und der Gewerkschaftsbürokratie zur Folge hatte - eine Entwicklung, die in ausnahmslos allen Ländern stattfand.

In Deutschland wurde das 1992 im zweiten großen Streik im öffentlichen Dienst sichtbar. Obwohl sich dem Streik der ÖTV damals auch die Beschäftigten von Bahn, Post und Polizei sowie die Deutsche Angestellten-Gewerkschaft (DAG) anschlossen und 330.000 Arbeiter und Angestellte tagelang im Ausstand waren, setzte die ÖTV-Vorsitzende Monika Wulf-Mathies (SPD) einen faulen Kompromiss durch. Die ÖTV-Führung wollte die Kohl-Regierung unter keinen Umständen in Gefahr bringen.

In einer Urabstimmung stimmten die Gewerkschaftsmitglieder mehrheitlich gegen das Verhandlungsergebnis, doch die ÖTV-Spitze unterzeichnete den Abschluss trotzdem. Belohnt wurde Monika Wulf-Mathies zwei Jahre später mit dem Posten einer EU-Kommissarin für Regionalförderung. Seit 2001 leitet sie den Zentralbereich Politik und Umwelt der Deutschen Post World Net AG, mit 380.000 Beschäftigten einer der größten Logistik-Konzerne der Welt.

Rot-Grün und die Rechtswende der Gewerkschaften

Als SPD und Grüne 1998 die Kohl-Regierung ablösten, konnten sie auf den Rückhalt der DGB-Gewerkschaften zählen. Die Dienstleistungsgewerkschaften, die sich 2001 zu Verdi zusammenschlossen, bildeten ein wichtiges Rückgrat der rot-grünen Bundesregierung. So weit sie sich an Protesten und Demonstrationen gegen Hartz VI und die Agenda 2010 beteiligten, taten sie dies, um die Situation unter Kontrolle zu halten und einen ernsthaften Kampf gegen die Schröder-Regierung und ihre unsoziale Politik zu verhindern. Im Herbst 2005 schloss Verdi den TvöD (Tarifvertrag öffentlicher Dienst) ab, der für die Beschäftigten der Länder, der Kommunen und des Bundes drastische Verschlechterungen der Einkommen und Arbeitsbedingungen gebracht hat.

Als sich vor Jahresfrist 50.000 Arbeiter und Angestellte der Telekom gegen die Ausgliederung in eine betriebseigene Billiglohnfirma zur Wehr setzten, beschränkte Verdi den Streik auf symbolische Protestaktionen, willigte in die Ausgliederung ein und zwang die Beschäftigten, vier Stunden wöchentliche Mehrarbeit bei gleichzeitiger Lohnsenkung zu akzeptieren.

Bei der IG Metall und allen anderen DGB-Gewerkschaften ist es nicht anders. Überall haben Gewerkschaftsfunktionäre und Betriebsräte ihre Unterschrift unter Knebelverträge gesetzt, die Lohsenkung und Sozialabbau zum Inhalt haben. Gemeinsam haben die DGB-Gewerkschaften ein regelrechtes Tarifkartell errichtet, das wie eine Zwangsjacke für die Arbeiter funktioniert. Das mussten vor allem die Lokführer in den vergangenen Monaten erleben.

Die Hauptforderung der Lokführergewerkschaft (GDL) war und ist ein "eigenständiger Tarifvertrag". Die ursprüngliche Lohnforderung von 31 Prozent war überhaupt erst möglich geworden, nachdem die GDL die Tarifgemeinschaft mit der DGB-Gewerkschaft Transnet und der Beamtenvereinigung GDBA aufgekündigt hatte. Denn dies Organisationen hatten in den vergangenen Jahren drastischen Lohnsenkungen und dem Abbau von Sozialstandards zugestimmt.

Kaum hatten die Lokführer ihren Arbeitskampf begonnen, handelte Transnet mit Rückendeckung des DGB offen als Streikbrecher und zwar in übelster Form. Als eine Art "Hausgewerkschaft" wird Transnet vom Bahnvorstand finanziell unterstützt und steht über die SPD in engem Kontakt zur Regierung. Transnet-Chef Norbert Hansen (SPD) hat heftige Attacken gegen die GDL gerichtet und mit Bahnchef Hartmut Mehdorn vereinbart, jede Art von Eigenständigkeit der GDL zu verhindern. Unter allen Umständen soll das DGB-Tarifkartell aufrecht erhalten werden.

Trotz des enormen Drucks vom Bahnvorstand, Transnet, DGB und Regierung haben die Lokführer bisher nicht nachgegeben. Ihr Kampf wurde als Auftakt einer Rebellion gegen den ständigen Sozialabbau gewertet und findet unter vielen Arbeitern und in der Bevölkerung Zustimmung. Die Übertritte von Transnet, Verdi und anderen DGB-Gewerkschaften in die GDL häufen sich.

Angesichts dieser Situation sah sich Verdi gezwungen, linke Töne anzuschlagen. Die Gewerkschaft hat in den vergangenen Tagen die Warnstreiks deutlich ausgeweitet. Man sollte sich deshalb aber keine falschen Illusionen machen. Es ging Verdi darum, Dampf abzulassen und die Kontrolle zu behalten, um dann durch einen mehr oder weniger faulen Kompromiss die Kämpfe abzuwürgen. Inzwischen ist ein Schlichtungsverfahren eingeleitet worden, und bis in den April herrscht wieder Friedenspflicht. Bis dahin wird der Verdi-Vorstand alles tun, um die weiterhin streikenden Lokführer und Beschäftigten der Berliner Verkehrsbetriebe zu isolieren und die Kampfkraft im öffentlichen Dienst zu untergraben.

Eine Frage der Perspektive

Es darf nicht zugelassen werden, dass Verdi die Initiative behält und die Bewegung abwürgt. Selbst wenn die Streikenden, anders als in den letzten Jahren, mit ein paar Lohnprozenten abgespeist würden, wäre angesichts rapider Preissteigerungen kaum etwas gewonnen. Hinzu kommt, dass mittlerweile ein großer Billiglohnsektor besteht und die öffentlichen wie die privaten Unternehmen über vielfältige Möglichkeiten verfügen, Tarifvereinbarungen zu umgehen, oder wieder rückgängig zu machen.

Die gegenwärtige Streikbewegung muss zum Ausgangspunkt für den Aufbau einer politischen Bewegung gemacht werden, die sich gegen die herrschenden Elite und ihr Gesellschaftssystem wendet, das alle Lebensbereiche dem Profitprinzip und der persönlichen Bereicherung einer Minderheit unterordnet. Mit anderen Worten: Es ist notwendig sich auf einen langen und systematischen politischen Kampf einzustellen.

Jede Gewerkschaft und jede Partei, die heute den Rahmen der kapitalistischen Profitwirtschaft akzeptiert, ist zum Scheitern verurteilt. Nur wer die Problem an der Wurzel anpackt und eine Gesellschaft anstrebt, die die Bedürfnisse der Bevölkerung höher stellt als die Profitinteressen der Wirtschaft, kann einen Weg vorwärts aufzeigen.

In der gegenwärtigen Streikbewegung erfordert dies eine strikte Kontrolle über die Streikleitung, Verhandlungskommission und alle Gewerkschaftsgremien. Keine Geheimverhandlungen und Absprachen hinter dem Rücken der Streikenden!

Dazu müssen Aktionskomitees aufgebaut werden, um die Gewerkschaften zu kontrollieren und eine gezielte Zusammenarbeit mit Arbeitern oder Angestellten aus der Privatindustrie, aber auch Studenten und anderen Teilen der Bevölkerung aufzubauen. Solche Aktionskomitees sollten an die Tradition der Arbeiterräte anknüpfen, die Anfang des vergangenen Jahrhunderts bestanden und damals eine wichtige Rolle spielten. Diese Aktionskomitees müssen die Solidarität, die in großen Teilen der Bevölkerung existiert, weiterentwickeln und organisieren.

Der Aufbau von Verteidigungs- und Solidaritätskomitees muss mit der Diskussion über eine neue Perspektive verbunden werden. Diese muss vom internationalen Charakter der modernen Produktion und den gemeinsamen Interessen aller Arbeiter weltweit ausgehen. Und sie muss für eine sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft eintreten. Die gesellschaftlichen Interessen müssen Vorrang vor den Profitinteressen der Konzerne haben.

Die Partei für Soziale Gleichheit wird einen solchen Kampf mit aller Kraft unterstützen. Als internationale Partei werden wir die Verbindung zu den Arbeitern in anderen Ländern aufbauen, in denen viele Arbeiter und ihre Familien vor denselben Problemen stehen und vergleichbare Kämpfe führen oder geführt haben.

Nehmt Kontakt auf mit der Redaktion der World Socialist Web Site (WSWS) und diskutiert diese Fragen mit Kollegen.

Siehe auch:
Streikende BVG-Beschäftigte sagen ihre Meinung
(6. März 2008)
Berliner Verkehrsarbeiter streiken gegen rot-roten Senat
( 5. März 2008)
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