Tarifabschluss im öffentlichen Dienst

Die Verteidigung der Einkommen erfordert eine neue Perspektive

Der Tarifabschluss für die gut zwei Millionen Beschäftigten des Bundes und der Kommunen, der am Montag in Potsdam bekannt gegeben wurde, erfüllt vor allem einen Zweck: Er soll verhindern, das sich die Tarifbewegung im öffentlichen Dienst und weiten Teilen der Privatwirtschaft zu einer breiten Bewegung gegen die Regierung auswächst und ihrer Politik der Umverteilung von unten nach oben ein Ende setzt.

Gemessen an den realen Einkommensverlusten, die die Beschäftigten von Bund und Kommunen in den vergangenen Jahren hinnehmen mussten, ist das Ergebnis von Potsdam nicht mehr als der sprichwörtliche Tropfen auf den heißen Stein. Die Gewerkschaft Verdi feiert es zwar als großen Erfolg, doch das ist Augenwischerei.

Die Tarifeinkommen steigen in diesem Jahr um einen Sockelbetrag von 50 Euro plus 3,1 Prozent. Im Durchschnitt macht das nach Angaben von Verdi 5,1 Prozent aus. Die ursprüngliche Forderung nach einem Sockelbetrag von 200 Euro, die Geringverdiener stärker begünstigt hätte, hat Verdi fallen gelassen. Im kommenden Jahr gibt es dann eine Einmalzahlung von 225 Euro und eine weitere Tariferhöhung um 2,8 Prozent. Diese wird aber durch die Verlängerung der Arbeitszeit in den westdeutschen Kommunen von 38,5 auf 39 Wochenstunden weitgehend kompensiert.

Im Verlauf von zwei Jahren steigen also die durchschnittlichen Einkommen um etwas mehr als fünf Prozent. Das gleicht bestenfalls die rasch steigende Inflationsrate aus, kompensiert aber in keiner Weise die Nullrunden der letzten dreieinhalb Jahre, geschweige denn den sozialen Kahlschlag, dem in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten im öffentlichen Sektor jeder dritte Arbeitsplatz zum Opfer gefallen ist.

Ein abgekartetes Spiel

Den öffentlichen Arbeitgebern war seit langem klar, dass sie in diesem Jahr nicht um ein Zugeständnis bei den Tariflöhnen herum kommen würden. Angesichts gestiegener Wachstumsraten, sprudelnder Steuerquellen, hohen Unternehmensgewinnen und exorbitanten Managergehältern war der angestaute Unmut der Beschäftigten des öffentlichen Diensts, die jahrelang Null- und Minusrunden hatten hinnehmen müssen, einfach zu groß. Der Gewerkschaft Verdi, die diese Minusrunden ausgehandelt hatte, liefen die Mitglieder in Scharen davon.

Selbst einige konservative Ökonomen hatten gewarnt, dass das Auseinanderklaffen von Wirtschaftswachstum und Kaufkraft zu Problemen bei der Binnennachfrage in der ohnehin stark exportabhängigen Wirtschaft führen werde. Und Kommunen mit hohen Lebenshaltungskosten, wie die Großstadt München, hatten inzwischen Mühe, zu den extrem niedrigen öffentlichen Gehältern noch Erzieherinnen, Lehrer, Polizisten oder Briefträger zu finden.

Aus Sicht der öffentlichen Arbeitgeber bestand also die Aufgabe nicht darin, eine weitere Nullrunde zu erzwingen, sondern die Tarifrunde so zu gestalten, dass die Kampfbereitschaft der Betroffenen ins Leere lief und der Abschluss relativ kostengünstig blieb. Das ist ihnen weitgehend gelungen. Die Kommunen belastet der Abschluss mit 9,5 Milliarden Euro jährlich. Das sind weniger als die 10 Milliarden Euro, die die Bundesregierung im vergangenen Jahr durch die Senkung der Körperschaftssteuer von 25 auf 15 Prozent den Kapitalgesellschaften in den Rachen warf.

Die Süddeutsche Zeitung kommentierte den von den Arbeitgebern als "schmerzhaften Kompromiss" bezeichneten Abschluss mit der Bemerkung, es seien "Schmerzen, über die sie sich eines Tages noch freuen könnten". Der Staat müsse "den Gewerkschaften geradezu dankbar sein, dass sie ihn endlich zu einer verbesserten Bezahlung seiner Beschäftigten gezwungen habe", und für die Gewerkschaft Verdi bedeute "die Lösung ein dringend benötigtes Erfolgserlebnis. Sie kann nun behaupten, mehr als acht Prozent herausgeholt zu haben."

Was die Süddeutsche nicht nennt, ist das aus Sicht der Bundesregierung wohl wichtigste Ergebnis des Abschlusses: Er hat der durch innere Konflikte geschwächten Großen Koalition eine große gesellschaftliche Konfrontation erspart, die wesentlich teurer als der Tarifabschluss gewesen wäre und die sie möglicherweise nicht überlebt hätte. Nun kann sie ihren Kurs der strikten Haushaltskonsolidierung und der Privatisierung öffentlicher Unternehmen ungefährdet fortsetzen.

Die Bundesregierung hat dies in erster Linie der Gewerkschaft Verdi zu verdanken, die alles in ihrer Macht Stehende tat, um eine offene Konfrontation mit der Regierung zu vermeiden. Durch die Erwartungen der Mitgliedschaft sah sich Verdi zwar gezwungen, wortradikal aufzutreten und in mehreren Bereichen zum Streik aufzurufen. Doch die Gewerkschaft sorgte gezielt dafür, dass die einzelnen Streiks voneinander isoliert blieben und es nicht zu einer gemeinsamen Bewegung der Millionen Beschäftigten im öffentlichen Sektor kam. Eine solche Bewegung hätte der Kontrolle der Gewerkschaftsführung leicht entgleiten und - ähnlich wie der Streik im öffentlichen Dienst 1974 - die Regierung ernsthaft in Bedrängnis bringen können. Das wollte Verdi um jeden Preis verhindern.

Vor allem Verdi-Chef Frank Bsirske scheute keine Anstrengung, um sicher zu stellen, dass ein Streik beendet oder unterbrochen wurde, bevor sich der nächste entzündete. Er eilte von Verhandlungskommission zu Verhandlungskommission und durchwachte zahlreiche Nächte, um den Ausbruch eines Flächenbrands zu unterdrücken.

Die Auseinandersetzung der Beschäftigten von Bund und Kommunen begann Verdi mit ungewöhnlich großen, bundesweiten Warnstreiks. Selbst mehrere Flughäfen wurden bestreikt, was direkte Auswirkungen auf den Flugverkehr hatte. Doch dieser geräuschvolle Auftakt diente lediglich dazu, Dampf abzulassen. Es war von vornherein klar, dass mit dem Eintritt in die Schlichtung wieder Friedenspflicht herrschen würde. Die so gewonnene Zeit nutzte Verdi dann, um durch neue Manöver eine Urabstimmung und einen vollen Streik zu verhindern.

Kaum hatte die Schlichtung bei Bund und Kommunen begonnen, schickte Verdi die Beschäftigten der Berliner Verkehrbetriebe (BVG) in den Arbeitskampf. Sie legten zwölf Tage lang den Berliner Nahverkehr lahm - und blieben dabei völlig isoliert. Verdi organisierte einen völlig passiven Streik, wies die Streikenden an, zu Hause zu bleiben, und veranstaltete nicht eine nennenswerte Demonstration oder Solidaritätsaktion. Schließlich blies sie den Streik unverrichteter Dinge wieder ab und ließ die ursprünglichen Forderungen fallen - gerade rechtzeitig bevor der Konflikt im öffentlichen Dienst mit Bekanntgabe des Schlichtungsergebnisses wieder aufflammte.

Maßgeblich zur Isolation der Berliner Verkehrsarbeiter trug auch der Tarifabschluss der Lokführergewerkschaft GDL bei, der auf Initiative des Bundesverkehrsministers pünktlich am Vorabend des BVG-Streiks erfolgte. Die S-Bahnen blieben damit in Betrieb, was die Wirksamkeit des Streiks deutlich einschränkte. Verdi hatte im vorangegangenen Jahr die streikenden Lokführer wiederholt attackiert und die Streikbrechergewerkschaft Transnet unterstützt.

Kaum war die Einigung für Bund und Kommunen in Potsdam unter Dach und Fach, rief Verdi dann die Briefzusteller zu Warnstreiks auf. Einen Tag später folgte die Ankündigung einer Urabstimmung im Einzelhandel, wo Verdi seit einem Dreivierteljahr einen "fast vergessenen" Tarifkonflikt führt. Und am 10. April will Verdi den öffentlichen Dienst in Berlin, das aus dem Kommunalen Arbeitgeberverband ausgetreten ist, zur Urabstimmung aufrufen - all das, nachdem die Auseinandersetzung bei Bund, Kommunen und Berliner Verkehrsbetrieben vorbei ist!

Kahlschlag im öffentlichen Dienst

Das Vorgehen von Verdi hat Methode. Die Gewerkschaft ist auf allen Ebenen - Bund, Ländern und Kommunen - eng mit den Regierungen und den Regierungsparteien verflochten und teilt deren Politik. Sie ist wie diese überzeugt, dass die öffentlichen Haushalte auf Kosten der Beschäftigten saniert werden müssen, und betrachtet sich als Bestandteil eines Tarifkartells, das darüber wacht, dass die Forderungen der Beschäftigten nicht ausufern.

Verdi-Funktionäre wechseln häufig die Seiten - von der Gewerkschaft in die Regierung und zurück. Frank Bsirske war Personalchef der Stadt Hannover, wo er für den Abbau von 1.000 der 16.000 Stellen sorgte, bevor er auf den Chefposten der Gewerkschaft wechselte. In den öffentlichen Verwaltungen und Arbeitgeberverbänden wiederum findet man zahlreiche Funktionäre, die ihre Karriere in der Gewerkschaft gemacht haben und nach wie vor deren Mitgliedsbuch besitzen.

Besonders deutlich wurde die Regierungsnähe von Verdi in der Zeit der rot-grünen Koalition. Die Durchsetzung von Schröders Agenda 2010 wäre ohne die tatkräftige Unterstützung von Verdi und der anderen DGB-Gewerkschaften nicht denkbar gewesen. Aber auch die Große Koalition, die Schröders Kahlschlagspolitik fortsetzt, genießt die volle Unterstützung von Verdi. Beide Regierungen haben den öffentlichen Dienst unter Mithilfe Verdis in einen Billiglohnsektor mit unerträglichen Arbeitsbedingungen verwandelt.

Zwei von drei Beschäftigten der Kommunen verdienen heute weniger als 2.500 Euro brutto im Monat. Der Abbau von insgesamt 2,2 Millionen Arbeitsplätzen hat zu einem Anwachsen der Arbeitshetze und höheren Anforderungen an die Beschäftigten geführt. Viele kommunale Betriebe sind privatisiert worden. Die Niedriglöhne der so entstandenen privaten oder halb-privaten Betreiber dienen nun als Brechstange, um auch im öffentlichen Bereich Sozialdumping durchzusetzen.

Vor drei Jahren unterzeichnete Verdi dann den TVöD (Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes), der einen drastischen Lohn- und Sozialabbau sowie Billiglohntarife zum Inhalt hatte. Viele Beschäftigte mussten auf bis zu zwölf Prozent ihres Gehaltes verzichten. Gleichzeitig wurde das Weihnachtsgeld gekürzt und das Urlaubsgeld gestrichen. Neu Eingestellte erhalten weniger als zwei Drittel des bisher üblichen Gehalts.

Die so eingesparten Milliarden sind über Steuersenkungen direkt an die Wirtschaft und die Wohlhabenden weiter gereicht worden.

Die rot-grüne Regierung hat schon im Jahr 2000 die weitestgehende Steuerreform seit Bestehen der Bundesrepublik verabschiedet. Viele Unternehmen und Millionäre zahlten danach überhaupt keine Steuern mehr. Die Bereicherung in den Chefetagen nahm groteske Formen an. Porsche-Chef Wiedeking kassierte im vergangenen Jahr 54 Millionen Euro, Deutsche Bank-Chef Ackermann 14 Millionen, Bahnchef Mehdorn 3,2 Millionen. Die Einkommen der Vorstandschefs der Dax-Unternehmen stiegen seit 2002 um 62 Prozent. Die Löhne und Einkommen der unteren Gesellschaftsschichten sanken dagegen seit 1992 preisbereinigt um 13 Prozent.

Das hat die Große Koalition nicht daran gehindert, 2007 eine weitere Unternehmenssteuerreform nachzuschieben. Sie senkte die Körperschaftssteuer auf Gewinne von Kapitalgesellschaften von 25 auf 15 Prozent und die Steuern auf Gewinne aus Zinsen und Dividenden von 44 auf 26 Prozent.

Politische Aufgaben

Dieser soziale Kahlschlag soll auch in Zukunft fortgesetzt werden. Die Auswirkungen der internationalen Finanzkrise werden die Angriffe auf die arbeitende Bevölkerung sogar noch beschleunigen. Diese Krise hat deutlich gemacht, wie marode das gesamte kapitalistische System bereits ist. Die Milliardenverluste aus Spekulationsgeschäften werden auf die Bevölkerung abgewälzt. Eine korrupte Finanzoligarchie plündert die Gesellschaft aus, weigert sich Steuern zu zahlen, lebt in Saus und Braus und predigt Verzicht. Und alle etablierten Parteien einschließlich der Gewerkschaften liegen ihr zu Füßen.

Das gilt nicht nur für Union und SPD, die zusammen die Bundesregierung stellen, und für die Grünen, die sich immer offener zu einer neoliberalen Wirtschaftspartei mausern, sondern auch für die Linkspartei. Nirgendwo ist die Verflechtung zwischen Verdi und Regierung so eng wie im Land Berlin, wo SPD und Linkspartei zusammen den Senat stellen, und nirgendwo sonst geht der Kahlschlag im öffentlichen Dienst weiter als in Berlin, wo die Gehälter in Absprache mit Verdi massiv gesenkt wurden.

Es ist heute unmöglich, Einkommen, Arbeitsplätze und demokratische Rechte zu verteidigen, ohne von diesen Organisationen zu brechen.

In der gegenwärtigen Streikbewegung müssen Streikleitung und Verhandlungsführung Verdi aus der Hand genommen werden. Der Tarifabschluss von Potsdam muss abgelehnt werden. Es darf keine Geheimverhandlungen und Absprachen hinter dem Rücken der Streikenden geben. Dazu müssen Aktionskomitees aufgebaut werden, die eine gezielte Zusammenarbeit mit Arbeitern oder Angestellten aus der Privatindustrie, aber auch mit Studenten und anderen Teilen der Bevölkerung aufbauen. Solche Aktionskomitees sollten an die Tradition der Arbeiterräte anknüpfen, die Anfang des vergangenen Jahrhunderts bestanden und damals eine wichtige Rolle spielten. Diese Aktionskomitees müssen die Solidarität, die in großen Teilen der Bevölkerung existiert, weiterentwickeln und organisieren.

Voraussetzung ist eine neue politische Perspektive. Die Praxis des rot-roten Berliner Senats straft die Behauptung der Linkspartei lügen, man könne den Kapitalismus sozial zähmen, ohne die Verfügungsgewalt der großen Konzerne und Banken über die Produktionsmittel anzutasten. Der Niedergang des öffentlichen Diensts kann nur gestoppt werden, wenn die gesellschaftlichen Interessen Vorrang vor den Profitinteressen der Konzerne haben. Das erfordert eine sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft. Die großen Konzerne und Banken müssen in gesellschaftliches Eigentum überführt und unter die demokratische Kontrolle der arbeitenden Bevölkerung gestellt werden.

Eine sozialistische Perspektive muss vom internationalen Charakter der modernen Produktion und den gemeinsamen Interessen aller Arbeiter weltweit ausgehen. Die Partei für Soziale Gleichheit baut eine neue Partei auf, die für eine internationale sozialistische Perspektive kämpft. Als deutsche Sektion der Vierten Internationale steht sie in engster Verbindung zu ihren Bruderparteien in anderen Ländern, in denen Arbeiter und ihre Familien vor denselben Problemen stehen und vergleichbare Kämpfe führen oder geführt haben.

Nehmt Kontakt auf mit der Redaktion der World Socialist Web Site (WSWS) und diskutiert diese Fragen mit Kollegen.

Siehe auch:
Berliner Nahverkehr: Verdi reduziert den Streik und bietet faulen Kompromiss an
(18. März 2008)
GDL gibt politischem Druck nach und würgt Lokführerstreik ab
( 15. März 2008)
Die Streikbewegung im Öffentlichen Dienst erfordert eine neue politische Perspektive
( 8. März 2008)
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