Russland und Georgien am Rande eines bewaffneten Konflikts um Abchasien

Die Spannungen zwischen Russland und Georgien haben sich so zugespitzt, dass die Länder am Rande eines offenen bewaffneten Konflikts stehen.

Jede Seite beschuldigt die andere, die Spannungen und die Vorbereitung auf einen Krieg zu eskalieren, was die Region in neue blutige Konflikte zu stürzen droht. Seit den späten 1980er und beginnenden 1990er Jahren haben die Auseinandersetzungen auf dem Kaukasus Zehntausenden Menschen das Leben gekostet.

Das Zentrum der Auseinandersetzung ist im Moment Abchasien, ein kleines Gebiet im nordwestlichen Teil Georgiens an der Grenze zu Russland und entlang des Schwarzen Meeres gelegen. Die Mehrheit der Bevölkerung Abchasiens besitzt russische Pässe.

Die abchasische Seite behauptet, 1.500 Mann starke georgische Truppen seien ins Kodori-Tal an der Grenze der Republik verlegt worden und 2.000 in das Zugdidi-Gebiet. Russland behauptet, fast täglich würden Waffen an Georgien geliefert, speziell aus der Türkei.

Georgien beschuldigt Russland eine "schleichende Annexion" Abchasiens zu betreiben und seine Truppen dort zu konzentrieren. Anfang Mai erhöhte Russland sein Kontingent an so genannten Friedenstruppen in Abchasien von 2000 auf 3000 Mann, und rechtfertigte diese Maßnahme mit den militärischen Vorbereitungen Georgiens und mit Georgiens Absicht, der NATO beizutreten.

Die Situation hat sich dramatisch verschärft, seit am 20. April ein unbemanntes georgisches Aufklärungsflugzeug abgeschossen wurde. Georgien besteht darauf, es sei von einem russischen MiG-29-Kampfflugzeug zerstört worden, aber Moskau behauptet, es sei von den Streitkräften Abchasiens abgeschossen worden.

Ein paar Tage später wurde ein ähnliches georgisches Spionageflugzeug abgeschossen und am 4. Mai zwei weitere.

Am 27. April warnte Valery Kenyaikin, ein Beauftragter des russischen Außenministeriums, wenn die Angelegenheit zu einem bewaffneten Konflikt führe, dann sei Russland darauf vorbereitet, "militärische Mittel" einzusetzen, um seine Bürger zu verteidigen.

In den darauf folgenden Tagen blieb die Situation gespannt, obwohl Russland seine Propagandakampagne etwas gedämpft hat, um der Amtseinführung des neuen russischen Präsidenten Dimitri Medwedew mehr Platz einzuräumen.

Einer der jüngsten Vorfälle in dieser Auseinandersetzung ist die Erklärung des georgischen Außenministers vom 5. Mai, sein Land stelle die militärische Zusammenarbeit im Rahmen des Abkommens von 1995 zwischen den Staaten der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) ein. Dieser Pakt, der die Schaffung eines gemeinsamen Luftabwehrsystems vertraglich festlegte, wurde von den Staatsoberhäuptern von zehn Staaten der GUS unterzeichnet: Armenien, Aserbaidschan, Belarus, Georgien, Kasachstan, Kirgisien, Moldawien, Russland, Tadschikistan, der Ukraine und Usbekistan. Obwohl Georgiens Teilnahme an dieser Übereinkunft zum großen Teil symbolisch war, zeugt die Geste doch von der Tiefe des sich verschärfenden Konflikts.

Georgiens geopolitische Bedeutung

Die angespannten Beziehungen zwischen Russland und Georgien gehen auf den von den USA unterstützten Staatsstreich im Herbst 2003 zurück, bekannt als die "Rosen-Revolution". Im Verlauf dieser Ereignisse wurde der damalige georgische Präsident Eduard Schewardnaze - Außenminister der UdSSR während der Perestroika unter Gorbatschow - gezwungen zurückzutreten, und die Macht ging an eine Troika jüngerer Politiker über, die er gefördert hatte und die seine vertrautesten Schützlinge gewesen waren.

Michail Saakaschwili übernahm das Amt des Präsidenten, Zurab Zhwania wurde Premierminister und Nino Burjanadze Parlamentspräsident. Im Februar 2005 wurde Zhwania, der als erfahrener und sehr einflussreicher Politiker galt, unter bis heute ungeklärten und ziemlich seltsamen Umständen tot aufgefunden. Nach seinem Tod wurde die gesamte Macht in den Händen von Saakaschwili konzentriert, der sich als unterwürfiger Partner und im Grunde als Marionette der Vereinigten Staaten erwiesen hat.

Wegen seiner neoliberalen Politik des "freien Marktes" und der Protektion der Großunternehmen bei gleichzeitigen Angriffen auf den Lebensstandard der einfachen Bürger Georgiens war Saakaschwili gezwungen, sich mehr und mehr auf die politische und militärische Unterstützung des Westens zu verlassen, in erster Linie die der USA. Obendrein hat er sein Heil in immer aggressiverer nationalistischer Rhetorik gesucht. Ein zentraler Punkt darin ist die Losung von der Wiederherstellung der Kontrolle von Tiflis über die beiden abtrünnigen Regionen, die sich selbstständig gemacht haben - Süd-Ossetien und Abchasien.

Eine weitere historische Region Georgiens, Adscharien, die in den 1990er Jahren unter der Führung des Lokalpolitikers Aslan Abaschidse de facto unabhängig wurde, wurde im Frühjahr 2004 fast unblutig wieder unter die Kontrolle von Tiflis gebracht. Abaschidse wurde verbannt und laut Gerüchten versteckt er sich bis heute in Russland.

Von dem Zeitpunkt an, als Saakaschwili an die Macht kam, haben die Vereinigten Staaten seiner Regierung politische und militärische Unterstützung gegeben. Sie halfen speziell, die georgische Armee zu bewaffnen, auszurüsten und zu stärken. Diese war davor zum großen Teil eine Ansammlung eigenständiger Einheiten, die nur ihren Kommandeuren unterstanden.

Für die USA hat diese Unterstützung große Bedeutung. Laut der Doktrin, die in der nachsowjetischen Zeit von führenden Kreisen des Washingtoner Establishments ausgearbeitet wurde, sind die Region Zentralasien, das Kaspische Meer und der Kaukasus entscheidend für die globale geo-politische Vorherrschaft in der gegenwärtigen historischen Periode. Reich an Öl, Gas und Bodenschätzen, ist diese Region die Brücke zwischen Südostasien mit den Wachstumswirtschaften China und Indien und Europa - dem wichtigsten Konkurrenten der amerikanischen herrschenden Klasse.

Die Kontrolle über den Zugang zu den Bodenschätzen der Region und über ihre Verfügbarkeit für die Weltmärkte kann ein entscheidender Vorteil beim Kampf um geo-politische Vorherrschaft sein. Das trifft besonders in der heutigen Zeit zu, in der die amerikanische Wirtschaft immer mehr ihre führende Position in der Welt verliert und die kapitalistische Weltwirtschaft als Ganze in den Abgrund einer Wirtschaftskrise stürzt, wie es sie seit der großen Depression der 1930er Jahre nicht mehr gegeben hat.

Russland wiederum tritt als einer der aktiven Teilnehmer des sich verschärfenden geo-politischen Kampfs in Erscheinung. Es war während der Präsidentschaft Wladimir Putins in der Lage, einige der Positionen in der Weltarena zurückzuerobern, die es in den 1990er Jahren verloren hatte. Dabei konnte sich Russland auf seine Bodenschätze und auf enorme Profite stützen, die es wegen der extrem steigenden Preise für Rohstoffe einfährt. Außerdem verfügt Russland über die größte Militärmaschinerie in Eurasien und ein gewaltiges Arsenal an Atomwaffen.

Vorerst war Moskau in der Lage, die Kontrolle über die strategischen Öl- und Gas-Pipeline-Routen von Zentralasien und dem Kaspischen Meer bis nach Europa zu behalten, aber diese Situation könnte sich schnell ändern, wenn Staaten in der Region sich entscheiden, Projekte zu unterstützen, für die sich die Vereinigten Staaten und Europa stark machen.

Die Stärkung des militärischen und politischen Einflusses der USA im Kaukasus, der Ukraine und anderen Ländern Osteuropas ist ein entscheidendes Element in den Bestrebungen der amerikanischen herrschenden Klasse ihre geopolitischen Interessen gegen ihre Rivalen in Europa abzusichern. Die Pläne der USA, ein amerikanisches Raketenabwehrsystem mit Basen in Polen und Tschechien zu errichten, und ähnliche Vorschläge von Seiten der Türkei werden von Washingtons umfassendem Streben nach Hegemonie in dieser Region angetrieben.

Die aggressive Politik des amerikanischen Imperialismus ist der Hauptgrund für die schärfer werdenden Auseinandersetzungen auf dem Kaukasus. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass Russlands kriegerische Reaktion ausschließlich von den egoistischen Interessen der herrschenden oligarchischen und bürokratischen Clans im Kreml diktiert wird, deren Macht auf der rücksichtslosen Ausbeutung der russischen Arbeiterklasse und der Plünderung der Bodenschätze des Landes beruht.

Drohende Konfrontation mit der NATO

Die Auseinandersetzung auf dem Kaukasus nahm im März 2006 eine neue Richtung, als Russland wirtschaftliche Sanktionen gegen Georgien (und Moldawien) verhängte. Es wurde ein vollständiges Einfuhrverbot für georgisches Mineralwasser und Wein nach Russland verhängt; für diese Produkte war Russland traditionell der Hauptmarkt. Diese Sanktionen waren ein schmerzhafter Schlag gegen die georgischen agrarwirtschaftlichen Erzeuger, die bis heute nicht in der Lage waren, ihre Waren auf die Märkte anderer Länder umzuleiten. Die Verluste für die georgische Wirtschaft werden auf mehrere zehn, wenn nicht hunderte Millionen Dollar geschätzt.

Im Herbst desselben Jahres stoppte die russische Botschaft die Ausstellung von Visa an die Bewohner Georgiens - nachdem russische Armeeangehörige unter dem Verdacht der Spionage verhaftet worden waren. Der Kreml heizte außerdem eine chauvinistische Kampagne gegen georgische Unternehmer in Russland an.

Später hob Russland einige der Sanktionen und Einschränkungen wieder auf, aber insgesamt verdichtete sich die Atmosphäre von Misstrauen, Angst und gegenseitigen Beschuldigungen immer weiter.

Der unmittelbare Auslöser für das letzte Anwachsen der Spannungen ist der Plan, Georgien in die NATO aufzunehmen, was durch die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo im Februar dieses Jahres noch verschlimmert wurde. Die Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo durch den Westen schuf einen Präzedenzfall dafür, separatistische Regimes in Gebieten wie Abchasien und Süd-Ossetien in Georgien und Pridnestrovie in Moldawien zu legitimieren. Russland warnte, es könne auf die Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo mit der Anerkennung der Unabhängigkeit der drei oben genannten pro-russischen Regionen reagieren.

Bis jetzt hat der Kreml jedoch auf einen solchen Schritt verzichtet, obwohl die russische Staatsduma im März öffentliche darüber diskutiert hat und sich für eine Anerkennung der Unabhängigkeit Abchasiens und Süd-Ossetiens ausgesprochen hat. Diese Vorsicht wird von der Angst geleitet, dass eine Grenze in den russisch-amerikanischen Beziehungen überschritten werden könnte, was zu einer direkten geo-politischen und sogar militärischen Auseinandersetzung mit Washington führen könnte.

Unterdessen geht die Einmischung der USA auf dem Kaukasus und in Osteuropa weiter. Letzten Monat hat die Allianz auf einem NATO-Gipfel in Brüssel diskutiert, der Ukraine und Georgien einen Plan zur Aufnahme als Mitglied in die NATO vorzuschlagen. Obwohl die Entscheidung negativ ausfiel, wies die Mehrheit der Kommentatoren drauf hin, dass dies nur ein vorübergehender Aufschub sei.

Der Beitritt der Ukraine und Georgiens zur NATO würde die Gefahr eines bewaffneten Konflikts zwischen Russland und dem NATO-Block enorm erhöhen - mit unvorhersehbaren Folgen. Die Frage des Status’ von Abchasien ist eine der Meinungsverschiedenheiten, die den Keim für einen blutigen Konflikt in dieser Region in sich trägt.

Deshalb hat der Kreml es vorgezogen, die juristische Unabhängigkeit Abchasiens nicht anzuerkennen und stattdessen entschieden, die wirtschaftlichen Bindungen zu der Republik zu stärken. Am 6. März hob Russland die wirtschaftlichen Sanktionen gegen Abchasien auf, und am 6. April wies Präsident Putin die russische Regierung an, besondere Beziehungen mit Abchasien und Süd-Ossetien aufzunehmen, was im Wesentlichen einen Mechanismus in Gang setzte, diese Regionen in den sozialen und wirtschaftlichen Einflussbereich Russlands zu integrieren.

Die Zeitung Kommersant schrieb am 17. April, Putin "hat in der Tat ... die Aufnahme von Beziehungen mit den nicht anerkannten Republiken angeordnet, die dem Modell der Beziehungen zwischen dem föderalen Zentrum und den Regionen Russlands entsprechen".

Die führenden Länder des Westens haben Russlands Maßnahmen verurteilt. Auf einer Sitzung des UN-Sicherheitsrats vom 23. April sprachen sich die USA, Großbritannien und Deutschland für die Position der georgischen Regierung aus.

Vorläufig hat keins der NATO-Länder den Rückzug der russischen Friedenstruppen aus der Konfliktzone oder ihre Ersetzung durch andere Streitkräfte gefordert. Aber es wird weiter daran gearbeitet, die Weltöffentlichkeit auf die Möglichkeit eines bewaffneten Konflikts mit Russland vorzubereiten.

Die Senatoren Joseph Biden (Demokrat aus Delaware) und Richard Lugar (Republikaner aus Indiana) - der erste Vorsitzender und der zweite Sprecher der Minderheit im Senatsausschuss für auswärtige Angelegenheiten - haben kürzlich erklärt, der Versuch, Moskau zu überreden, sei fehlgeschlagen. Sie erklärten, die Zeit sei jetzt gekommen, in der transatlantischen Gemeinschaft Einheit und Entschlossenheit zu zeigen. Die NATO solle auf ihrem nächsten Gipfel im Dezember dieses Jahres beschließen, Georgien und der Ukraine Aufnahmepläne anzubieten. "Wenn wir nicht bald handeln, wird eine friedliche Lösung der Krise unmöglich werden", erklärten Lugar und Biden.

Das käme einem Ultimatum an den Kreml gleich, den Verlust seiner wichtigsten geo-politischen Positionen im "nahen Ausland" als vollendete Tatsache anzuerkennen.

Nicht weniger aggressiv ist die ideologische Kampagne der russischen Medien. Einer der führenden politischen Beobachter des Kremls, Mikhail Leontiev, erklärte letzten Februar in einem Radio-Interview: "Ich sehe enorme Veränderungen und Bedrohungen. Ich habe das Gefühl, Russland muss sich auf einen Krieg vorbereiten und nicht nur in der Nase bohren."

Er fügte hinzu: "Sie [die Amerikaner] wollen uns vernichten ... Wenn wir uns gut auf den Krieg vorbereiten, dann wird er vielleicht nicht stattfinden ... Aber wenn wir uns schlecht vorbereiten, dann wird er sicherlich kommen."

Siehe auch:
Was haben die "Demokratiebewegungen" in Serbien und Georgien gebracht?
(9. Dezember 2004)
Pulverfass Kaukasus
(23. September 2004)
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