Verdi unterschreibt Ausverkauf des Verkehrsarbeiterstreiks in Berlin

Stimmt in der Urabstimmung mit Nein!

Die Redaktion der World Socialist Web Site fordert alle BVG-Beschäftigten auf, den von Verdi vorgelegten Tarifabschluss sorgfältig zu prüfen und bei der Urabstimmung abzulehnen.

Vor acht Wochen hatten die knapp 8.000 Verdi-Mitglieder bei der BVG zu fast 97 Prozent für einen unbefristeten Streik gestimmt. Die Urabstimmung war mit einer Lohnforderung von 12 Prozent (Neueingestellte), beziehungsweise 9 Prozent (Langzeitbeschäftigte), mindestens aber 250 Euro brutto mehr im Monat verbunden.

Gemessen an dieser Forderung ist der jetzt unterzeichnete Tarifvertrag ein Schlag ins Gesicht der BVG-Beschäftigten, die mit Unterbrechungen zwei Monate lang gestreikt und große Entbehrungen auf sich genommen haben. Dieser längste Arbeitskampf in der Geschichte der BVG hatte auch in der Bevölkerung große Unterstützung, doch Verdi weigerte sich von Anfang an, einen konsequenten Kampf gegen die Berliner Landesregierung aus SPD und Linkspartei zu führen. Immer wieder wurde der Streik in entscheidenden Momenten reduziert und von Seiten der Gewerkschaft regelrecht sabotiert.

Auch der Zeitpunkt der Bekanntgabe des Tarifabschlusses war wohl kalkuliert. Verdi wollte unbedingt einen gemeinsamen Kampf der Verkehrsarbeiter und der Landesbeschäftigten in Berlin verhindern. Während der BVG-Streik abgewürgt wurde und die Verkehrsarbeiter zum Wochenbeginn die Arbeit wieder aufnahmen, werden ab nächster Woche die 60.000 Mitarbeiter der Berliner Behörden, des Senats, der Polizei und einiger anderer öffentlicher Einrichtungen alleine streiken.

Der Abschluss

Der jetzige Tarifvertrag gilt rückwirkend ab 1. Januar 2008 für zwei Jahre. Verdi ist bemüht, über den wahren Inhalt der Vereinbarung möglichst viel Verwirrung zu verbreiten. In Presseberichten wird versucht, das Ergebnis nach Kräften schön zu reden. Es heißt da, der Senat sei gezwungen worden, weit mehr auszugeben, als er wollte. Das Landesunternehmen BVG müsse nun in den nächsten zwei Jahren mit 28,3 Millionen Euro zusätzlichen Personalkosten rechnen, 4,3 Millionen Euro mehr als ursprünglich geplant.

Zu einer gestaffelten Lohnerhöhung von durchschnittlich 4,6 Prozent für alle Beschäftigten komme eine Einmalzahlung von 500 Euro Brutto für jeden Mitarbeiter und eine Gutschrift von 36,5 Stunden auf ein Kurzzeitkonto.

"Wer verfolgt hat, wie hart die Auseinandersetzung insbesondere mit Finanzsenator Thilo Sarrazin gewesen ist, wird das Ergebnis anerkennen", sagte Gewerkschaftssprecher Andreas Splanemann am Wochenende der Berliner Zeitung. Und Thomas Tschetsche, der im Gesamtpersonalrat für die U-Bahn zuständig ist, fügte hinzu, selbst wenn noch länger gestreikt worden wäre, hätte sich nicht viel mehr durchsetzen lassen.

Ein genauer Blick auf das Tarifergebnis macht deutlich, dass derartige Aussagen Teil einer gezielten Desinformationskampagne sind.

Vor drei Jahren hatte Verdi mit der Verabschiedung des TV-N (Tarifvertrags Nahverkehr) drastischen Verschlechterungen der Lohn- und Arbeitsbedingungen zugestimmt. Die Arbeiter der BVG mussten auf bis zu zwölf Prozent ihres Gehalts verzichten. Gleichzeitig wurden das Weihnachtsgeld gekürzt, das Urlaubsgeld gestrichen und eine Spaltung der Belegschaft eingeleitet. Neu-Eingestellte, das heißt alle nach 2005 eingestellten Arbeiter, bekommen ebenso wie die Fahrer der BT (Berlin Transport) nur 1.650 Euro Brutto im Monat. Gegenüber den Alt-Beschäftigten bedeutete das eine Lohnsenkung von etwa 30 Prozent.

Bei dem jetzigen Tarifabschluss wurden die Niedriglöhne der Neueingestellten benutzt, um die Realeinkommen der Altbeschäftigten weiter abzubauen. Nach Angaben von Verdi bekommen Neueingestellte Anfang August dieses Jahres 100 Euro mehr. Gemessen am Brutto-Einkommen für Neueingestellte von 1.650 Euro seien das 6,1 Prozent, betont Verdi und feiert das als Erfolg.

Altbeschäftigte mit der höchsten Betriebszugehörigkeitsstufe bekommen nur 60 Euro mehr. Bei einem durchschnittlichen Bruttoeinkommen dieser Langzeitbeschäftigten von 2.400 Euro sind das nur 2,5 Prozent. Verdi fasst Neu- und Altbeschäftigte zusammen und errechnet daraus eine durchschnittliche Lohnerhöhung von 4,6 Prozent.

Der Taschenspielertrick besteht darin, dass das Verhältnis von Alt- und Neubeschäftigten nicht 50:50 sondern etwa 85:15 beträgt. Das heißt, die große Mehrheit der Langzeitbeschäftigten, von denen viele schon seit mehreren Jahrzehnten bei der BVG arbeiten, wird mit einer Lohnerhöhung abgespeist, die weit unter der offiziellen Inflationsrate liegt.

Der zweite Schönrechen-Trick von Verdi besteht in der Behauptung, jeder Beschäftigte erhalte zusätzlich eine Einmalzahlung in Höhe von 500 Euro. An dieser Einmalzahlung ist aber nichts "zusätzlich". Denn die Tariferhöhung gilt erst ab Anfang August. Mit den 500 Euro wird also der Zeitraum von Januar bis Juli abgedeckt. Umgelegt auf sieben Monate wären das 71 Euro monatlich. Auf einmal ausbezahlt, fließt ein beträchtlicher Teil dieser Summe erst Mal an den Fiskus, da sich das Bruttoeinkommen deutlich erhöht und durch die Steuerprogression geschmälert wird, so dass alle Beschäftigten für diese sieben Monate eine Lohnerhöhung zwischen 2 und 3 Prozent bekommen, je nach Steuerklasse.

Der dritte Teil der Mogelpackung lautet: Im nächsten Jahr gibt es noch mal 1 Prozent mehr für alle. Falsch! Von Januar bis einschließlich Juli 2009 gibt es gar nichts zusätzlich. Erst ab August 2009 kommt für die folgenden fünf Monate ein Prozent drauf. Aufs Jahr umgerechnet ergibt sich für 2009 damit eine lächerliche Erhöhung von etwa 0,4 Prozent. Angesichts einer jährlichen Inflationsrate, die bereits jetzt drei Prozent übersteigt und für Lebensmittel und Energiepreise weit höher liegt, ist das eine deutliche Reallohnsenkung.

Um dieses katastrophale Ergebnis gegenüber den Mitgliedern zu verschleiern und nach acht Wochen Arbeitskampf die Wut über einen solchen Ausverkauf zu dämpfen, wurde eine weitere, bisher in Tarifverträgen nicht bekannte Komponente vereinbart. Alle Verdi-Mitglieder erhalten eine Zeitgutschrift auf ihr Kurzzeitkonto in Höhe von 36,5 Stunden. Aber es fehlt nicht an Zeit, sondern an Geld. Seit der Einführung des TV-N vor drei Jahren hat die große Mehrheit der Beschäftigten Einkommenseinbußen von mehreren hundert Euro im Monat, von den finanziellen Verlusten während des zweimonatigen Streiks ganz zu schweigen.

Einige Verdi-Funktionäre behaupten, man müsse diese Zeitgutschrift mit dem Stundenlohn multiplizieren, um den realen Wert "in klingender Münze" zu verstehen. Doch das ist Betrug. Niemand kann diese Feierschicht zu Geld machen, und selbst die Kosten, die für die BVG daraus entstehen, werden durch Leistungseinschränkungen für die Fahrgäste gering gehalten.

Auch beim Gesamtvolumen der Kosten arbeitet Verdi mit einer gezielten Täuschung. Verdi übernimmt hier die Argumentation von Finanzsenator Sarrazin und verschweigt, dass in den 28,3 Millionen, um die sich die Personalkosten in den nächsten zwei Jahren angeblich erhöhen, die Arbeitgeberbeträge zur Sozialversicherung mit eingerechnet sind.

Trotz Streik liegt der Abschluss deutlich unter dem, was Verdi vor einigen Wochen für die Beschäftigten des Bundes und der Kommunen ausgehandelt hat.

Die größte Lüge, die Verdi gegenwärtig verbreitet, lautet: "Mehr war nicht drin!" Angesichts der Blockadehaltung von Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD) sei es nicht möglich gewesen, einen höheren Abschluss zu erreichen. In Wirklichkeit ist es genau umgekehrt. Sarrazin konnte nur deshalb derart unerträglich arrogant und provokativ auftreten, weil er sich der Unterstützung Verdis sicher war.

Seit Jahren arbeitet er im BVG-Aufsichtsrat aufs Engste mit den Verdi-Vertretern zusammen. Mit BVG-Personalchef Lothar Zweiniger verbindet ihn nicht nur die SPD-Mitgliedschaft. Zweininger hat seinen Aufstieg über die Gewerkschaft organisiert und ist noch immer Verdi-Mitglied.

Verdi-Chef Frank Bsirske spielte eine Schlüsselrolle bei der Durchsetzung des TV-N vor drei Jahren und hat in vielen anderen Bereichen den radikalen Sozialabbau des Berliner Senats unter Sarrazins Leitung unterstützt. Bsirskes Ehefrau, Bettina Jankovsky, übernahm vor einigen Jahren einen lukrativen Posten bei der BVG als Vorstandsreferentin. Sie verdient das Vielfache eines normalen Angestellten.

Verdi ist über zahlreiche Fäden mit der BVG-Geschäftsführung und dem Senat aus SPD und Linkspartei verflochten. Der miserable Tarifabschluss ist vor allem ein Ergebnis der Tatsache, dass Verdi nicht bereit war und nicht bereit ist, einen ernsthaften Arbeitskampf gegen den Senat zu führen.

Angesichts der Kampfbereitschaft unter den BVG-Beschäftigten, die nicht mehr bereit waren, die andauernden Einkommensverluste hinzunehmen und mit Gewerkschaftsaustritten drohten, hatte sich Verdi gezwungen gesehen, einen Arbeitskampf zu organisieren. Doch als der Streik nach knapp zwei Wochen Wirkung zeigte und die BVG über die Osterfeiertage richtig Geld gekostet hätte, brach die Gewerkschaft den Vollstreik ab und reduzierte die Forderungen drastisch, ohne dass Senat oder Geschäftsführung auch nur das geringste Zugeständnis gemacht hätten.

Das Fahrpersonal wurde aufgefordert, die Arbeit wieder aufzunehmen, während die Beschäftigten der Werkstätten, Technik und Verwaltung weiter streiken sollten. Diese Spaltung schwächte den Streik und erhöhte Schritt für Schritt den Druck auf die Fahrer, die angesichts ausfallender und überfüllter Busse mit aufgebrachten Fahrgästen konfrontiert waren. Schließlich rief Verdi in der vergangenen Woche die Busfahrer wieder in den Streik, während die U- und Straßenbahnen weiter fuhren.

Der miserable Abschluss ist nicht ein Ergebnis der Stärke des Senats, sondern der systematischen Sabotage durch Verdi. Während acht Wochen Streik wurde von Seiten der Gewerkschaft nicht eine einzige Kundgebung vor dem Roten Rathaus organisiert. Der Grund dafür ist sehr einfach: die Mehrheit der Verdi-Funktionäre sind Mitglieder der Senatsparteien SPD und Linkspartei und unterstützen deren Politik.

Viele Arbeiter sind wütend und empört über den Abschluss. Nicht wenige haben bereits gegen die Reduzierung des Streiks vor Ostern protestiert. Jetzt kommt es darauf an, diesen Widerstand zu bündeln und einen bewussten Kampf gegen die Sabotage von Verdi zu organisieren.

Verdi hat für die Zeit vom 19. bis 22. Mai eine Urabstimmung über den vorliegenden Tarifabschluss angekündigt. Die ungewöhnlich lange Zeit bis zur Abstimmung wollen die Verdi-Funktionäre nutzen, um den Widerstand gegen den Abschluss mundtot zu machen.

Arbeiter sollten ihrerseits die Zeit bis zur Abstimmung nutzen, um die Vereinzelung zu überwinden und einen gemeinsamen Kampf gegen den Abschluss und die opportunistische Politik der Gewerkschaft zu organisieren.

Der Streik war nicht umsonst. Er zeigte die Stärke und Kampfbereitschaft der Arbeiter und er beinhaltet wichtig politische Lehren. Die Entschlossenheit, mit der Verdi den Streik sabotiert hat, ist ein deutlicher Beweis für die Rechtswende der Gewerkschaften, die gegenwärtig in allen Ländern zu beobachten ist. Überall handeln die Gewerkschaften als Instrumente der Konzerne und Regierungen und setzen massive Lohnsenkungen und Sozialabbau durch.

Angesichts der tiefen wirtschaftlichen und sozialen Krise ist die herrschend Elite entschlossen, ihr System auf Kosten der Bevölkerung zu retten, und sieht in der Forderung nach annehmbaren Löhnen und menschenwürdigen Arbeitsbedingungen eine unmittelbare Bedrohung. Weil sich die Gewerkschaften mit ihrer Politik der Sozialpartnerschaft die Aufrechterhaltung der bürgerlichen Ordnung zum Ziel setzen, treten sie den berechtigten Forderungen der Arbeiter mit immer größerer Feindschaft entgegen. Es ist diese Verteidigung der kapitalistischen Verhältnisse, die sie mit der SPD und der Linkspartei verbindet.

Der Kampf gegen den Ausverkauf von Verdi steht daher in direktem Zusammenhang mit dem Aufbau einer neuen Partei, die für ein internationales sozialistisches Programm kämpft. Das ist das Ziel der Redaktion der World Socialist Web Site und der Partei für Soziale Gleichheit (PSG).

Die WSWS bietet allen BVG-Arbeitern an, mit der Redaktion Kontakt aufzunehmen, um Diskussionstreffen zu organisieren und den Widerstand gegen den faulen Verdi-Kompromiss zu koordinieren. Meldet Euch unter wsws@gleichheit.de.

Siehe auch:
BVG Streik in Berlin: Verdi wird nervös
(2. Mai 2008)
Verdi blockiert Streik der BVG-Beschäftigten gegen rot-roten Senat in Berlin: Chronologie eines Ausverkaufs
( 26. April 2008)
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