Erdbeben in China enthüllt tiefe soziale Kluft

Das massive Erdbeben, das am 12. Mai die chinesische Provinz Sichuan erschüttert hat, ist eine gigantische menschliche Tragödie. Die offizielle Zahl der Todesopfer beträgt inzwischen 40.000 und steigt weiter an. Viele Menschen liegen noch unter den Trümmern begraben. Laut Schätzungen von Premierminister Wen Jiabao ist das betroffene Gebiet 65.000 Quadratkilometer groß und umfasst 66 Städte und 44 Provinzen. Die Hälfte der 20 Millionen Einwohner in diesem Gebiet ist direkt vom Erdbeben betroffen.

Chinesisches Militär und Polizei sind dabei, zu den weiter entfernten Gebieten durchzudringen, einschließlich der Stadt Wenchuan im Epizentrum des Bebens, aber schlechtes Wetter und zerstörte Straßen haben verhindert, dass Räumfahrzeuge und schweres Gerät dorthin gebracht werden können. Wen hat Fallschirm-Abwürfe und den Einsatz von 90 weiteren Hubschraubern für die am schlimmsten betroffenen Provinzen angeordnet. Bisher war die Hilfe, die 20 Hubschrauber gebracht haben, unzureichend. Die Zahl der eingesetzten Soldaten wurde auf 100.000 erhöht. Allerdings wird die Zeit knapp, da Soldaten und Zivilisten nur primitive Werkzeuge und ihre bloßen Hände einsetzen, um eingeschlossene Opfer zu finden und zu befreien.

In Fernsehberichten war die Stadt Yingxiu zu sehen, die dem Erdboden gleichgemacht wurde und praktisch von der Landkarte verschwunden ist. Rettungskräfte haben nur 2.300 Überlebende gefunden - von einer Gesamtbevölkerung von 10.000. Die Hälfte der Überlebenden ist schwer verletzt. Abgesehen von den Schwierigkeiten bei der Rettung der Menschen fehlt es Zehntausenden Obdachloser an einem Dach über dem Kopf und an den nötigsten Hilfsgütern. Gestern Nachmittag befahl die Stadtverwaltung von Mianyang nach Warnungen vor einem größeren Nachbeben 700.000 Einwohnern, alle Häuser zu verlassen.

Associated Press berichtete: "Obdachlose standen an den Straßen und bettelten um Hilfe. Die Menschen bereiteten sich auf eine dritte Nacht in einem wachsenden, mit Abfall übersäten Flüchtlingslager vor. In der Stadt Hanwang, die in einer der schwer betroffenen Regionen liegt, hofften Überlebenden, von vorbeifahrenden Autos Almosen zu erhalten, und rempelten sich gegenseitig an, als ihnen ein Beifahrer Flaschen mit Wasser reichte."

Das siebenstöckige Hanwang-Krankenhaus stürzte ein. Das überlebende medizinische Personal richtete sich in der Einfahrt einer Reifenfabrik ein, um eine medizinische Grundversorgung anzubieten. Zhao Xiaoli, eine 25-jährige Krankenschwester, erklärte gegenüber Associated Press : "Ich bin völlig betäubt. Am ersten Tag starben Hunderte von Kindern, als eine Schule einstürzte. Die übrigen, die dann kamen, hatten schwere Verletzungen. Wir konnten so wenig für sie tun."

Es gab eine große Welle der Anteilnahme in ganz China und weltweit, sowie Hilfsangebote für die Opfer des Erdbebens. Einfache Menschen in vielen chinesischen Städten standen Schlange, um Blut und Geld zu spenden und den Überlebenden zu helfen.

Das Erdbeben ist zwar eine Naturkatastrophe, aber das Ausmaß an Zerstörung und Tod hat dennoch die abscheuliche Wirklichkeit einer irrationalen gesellschaftlichen Ordnung gezeigt, die den privaten Profit über die Sicherheit und das Wohlergehen der Menschen stellt. Angesichts der minderwertigen Gebäude in den armen Städten und Dörfern und der krassen Ungleichheit zwischen reich und arm wächst die Empörung.

Mindestens neun Schulen und zwei Krankenhäuser sind in Sichuan eingestürzt. Der Tod der Schulkinder hat die Wut auf die "Tofu"-Gebäude konzentriert - minderwertige Bauten, die von außen gut aussehen, aber innen wie geronnenes Soja-Tofu sind. Die begrenzten Sicherheitsvorschriften werden oft durch betrügerische Absprachen zwischen Bauträgern und Beamten unterlaufen. Ein Online-Kommentar, den die Los Angeles Times gestern zitierte, fragt: "Warum sind so viele Schulen eingestürzt, aber alle Regierungsgebäude sind in Ordnung? Das ist empörend!"

Dr. Tian hat die Verletzten der Juyuan-Mittelschule aus der Stadt Dujiangyan behandelt, wo eingestürzte Gebäude 900 Schüler unter sich begraben haben. Er erklärte gegenüber der Zeitung Australian : "Das ist reine Korruption - sie müssen minderwertigen Zement und Stahl benutzt haben ... Die Leichenhalle ist voller Kinderleichen. Es ist die Hölle auf Erden."

Ein Lehrer, der das Glück hatte zu entkommen, erklärte: "Die Schule hat mindestens seit dem Jahr 2000 Gesuche an die lokale Verwaltung geschickt, damit die Gebäude sicherer gemacht werden, aber sie haben nichts getan." Ein weiteres Mitglied des Lehrkörpers sagte: "Sie [die zwei Hauptgebäude] wurden aus vorgefertigten Zementtafeln gebaut, die zwischen Stahlstangen eingefügt wurden. Im Vergleich zu vor Ort gefertigten Betonwänden aus Zement waren diese Mauern sehr brüchig."

Im Unterschied dazu haben die großen transnationalen und chinesischen Unternehmen, die in Sichuan tätig sind, das Beben zum größten Teil unbeschädigt überstanden, ausgenommen Bergwerke und Stromversorger. Japanische Fabriken in Chengdu, wie die Toyota-Automobil-Fabrik und die Yamaha-Anlage für elektronische Bauelemente wurden, zur Sicherheit geschlossen, aber es waren kaum Schäden zu verzeichnen. US-Betrieben wie dem Intel-Montagewerk erging es genauso. Wal-Mart schloss drei Geschäfte. Microsoft und Motorola meldeten kleinere Schäden. Chinas größter Reis-Kuchen-Produzent, hat sieben Fabriken geschlossen, aber keine wurde beschädigt.

Die Anwesenheit dieser namhaften Unternehmen in Sichuan zeigt, dass immer mehr ausländisches Kapital ins Innere Chinas eindringt, auch wenn die Investitionen im Vergleich zu den Küstenregionen noch relativ gering sind. Zum Schutz des Eigentums großer Investoren wurden Bauvorschriften eingeführt, während andere Bauten ausgeklammert wurden.

William Gormley, ein früherer Manager von Pratt & Whitney, eines in den USA beheimateten Herstellers von Flugzeugmotoren, erklärte gegenüber der Los Angeles Times: "Als das Joint Venture 1996 in Chengdu gebaut wurde, bestanden die chinesischen Beamten darauf, dass die Stützpfeiler verdoppelt und die Fundamente tiefer gegraben weden, um den Vorschriften für Erdbeben zu entsprechen. Infolgedessen hat die Fabriken dem Erdbeben von Montag standgehalten." Gormley, der immer noch als Wirtschaftsberater in Chengdu tätig ist, fügte hinzu, dass es in Sichuan viele "unkontrollierte" Gebäude gebe. "Man weiß nie, wie viele davon es gibt, bis eine Tragödie wie diese passiert", erklärte er.

Die Zeitung Wall Street Journal verglich gestern die neuen Hochhäuser und Bürotürme in Chengdu, die mit Anti-Erdbeben-Technologie ausgerüstet sind, mit den Städten und Dörfern, die dem Erdboden gleichgemacht wurden. "Trotz des jüngsten Wachstums dieser Außenbezirke bleibt die Ungleichheit bestehen, da die Reichen immer reicher werden und die Armen ums Überleben kämpfen. Es gibt so wenig Arbeit in vielen ländlichen Gebieten von Sichuan, dass es eins der größten Nachschubgebiete Chinas für Wanderarbeiter ist."

Die Zeitung erklärt, dass die massive Abwanderung von ländlichen Arbeitern in die Städte - 15 Millionen jedes Jahr - die größte Baustelle der Welt geschaffen hat. China hat 2006 1,8 Milliarden Quadratmeter mit Gebäuden bebaut und weitere 4,1 Milliarden Quadratmeter befinden sich noch im Bau. Tausende von kaum bekannten, kleineren und größeren Städten sind in die Höhe geschossen, aber viele Gebäude sind billig und schnell errichtet worden, ohne Rücksicht auf die Sicherheit. Die Bautätigkeit in Sichuan stand 2006 an fünfter Stelle unter den Provinzen Chinas, wobei zweimal so viele Gebäude fertig gestellt wurden wie in Peking.

Mangelhafte Planung und Korruption, verbunden mit hektischer, oft spekulativer Bauweise hatten noch weitere Folgen. Die chinesische Regierung ist erleichtert, dass der Drei-Schluchten-Staudamm, der größte Staudamm der Welt, bisher keine Schäden aufweist. Laut dem Minister für Wasserbewirtschaftung sind 391 vor allem kleinere Staudämme durch das Beben beschädigt worden, was zu weiteren Katastrophen führen könnte.

Etwa 2.000 Mann starke Truppen sind zu dem zwei Jahre alten Zipingpu-Staudamm in Sichuan geschickt worden. Dort sind Risse aufgetaucht, wodurch die stromabwärts gelegenen Gemeinden gefährdet sind, darunter die Stadt Dujiangyan. Während einer Regierungsbesprechung im Jahr 2000 hatten Seismologen den Plan zum Bau eines Staudamms abgelehnt, da er nahe an einer bekannten Verwerfungslinie liegt. Wie bei anderen Infrastrukturprojekten auch lag das vorrangige Interesse der chinesischen Behörden darin, so schnell wie möglich Strom für die schnell wachsende Industrie zur Verfügung zu stellen.

Die chinesische Regierung versucht, ein menschliches Image zu präsentieren und an die weit verbreitete Anteilnahme zu appellieren. Premierminister Wen stand im Zentrum dieser sorgfältig inszenierten PR-Kampagne. Er ist durch die am schlimmsten betroffenen Gebiete gereist und sprach von der Notwendigkeit einer "gemeinsamen" Anstrengung hinter der Kommunistischen Parteiführung. Er weinte vor den Kameras. Er stürzte wegen des Regens am 13. Mai, weigerte sich aber stoisch, sich von Medizinern behandeln zu lassen. Die Behörden haben sogar den Staffellauf für die olympische Fackel innerhalb Chinas gestoppt, um nicht teilnahmslos zu erscheinen.

Die chinesischen Führer sind sich bewusst darüber, dass im Zeitalter des Internets die alten Methoden der pauschalen Zensur nicht mehr wirken. Eine ähnliche PR-Kampagne fand im Februar statt, als sich die Wut über das "Schnee-Chaos" zu entladen drohte, als Millionen von Bahnreisenden fest saßen und viele Gebiete keinen Strom hatten. Hohe Politbüro-Mitglieder wurden in alle betroffenen Gebiete geschickt, um Anteilnahme zu demonstrieren. Mitten in der Krise berichtete die Los Angeles Times, dass die chinesische Führung eine US-Werbe-Agentur engagiert habe, um die Führungsebene in Krisenmanagement zu unterrichten.

Bisher scheint die jüngste Kampagne zu wirken. Die New York Times bemerkt: "Die Kommentare auf den chinesischen Internet-Seiten und in den Chat Rooms waren voller Lob für die Reaktion der Regierung auf die Katastrophe. In der Tianya, einem bekannten Forum, in dem manchmal Anti-Regierungs-Kommentare auftauchen, haben sich die User beeilt, diejenigen auszubuhen, die Mr. Wen und das Militär wegen der verspäteten Hilfe für einige der Erdbebenopfer kritisieren.,Die Maulhelden sollten in diesem kritischen Moment ruhig sein’, erklärt einer der Beiträge."

Die Bürokratie in Peking ist allerdings besorgt, dass die Stimmung umschlagen könnte, wenn die Inkompetenz, die Korruption und die kaltschnäuzige Gleichgültigkeit gegenüber dem Leiden der Opfer bekannt werden. Die Propaganda-Verantwortlichen haben den staatlichen Medien Anweisung erteilt, die Entwicklungen "positiv" darzustellen. Der massive Einsatz von Militär dient nicht nur den Rettungsaktionen, sondern ist auch dafür gedacht, den Ausbruch jeglicher Proteste zu verhindern.

Siehe auch:
Die Klassenfragen die der Unterdrückung in Tibet zugrunde liegen
(19. April 2008)
Chinesische Führer reagieren nervös auf anhaltendes "Schneechaos"
(9. Februar 2008)
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