Chinesische Führung reagiert auf Empörung über Pfusch am Bau und fehlende Hilfe

Elf Tage nach dem verheerenden Erdbeben vom 12. Mai in der Provinz Sichuan geht die chinesische Regierung von Rettungs- zu Hilfs- und Wiederaufbaumaßnahmen über. Am 22. Mai korrigierte sie die Zahl der Toten und Vermissten auf 80.000. Die offiziell bestätigte Zahl der Toten beträgt 51.151 und die Anzahl der Verletzten 300.000. Nach dem offiziellen Ende der drei Tage dauernden Staatstrauer sind die Versorgung der etwa fünf Millionen obdachlosen Menschen und der Wiederaufbau der unzähligen eingeebneten Städte und Dörfer das größte Problem Beijings.

Die Suche nach verschütteten Überlebenden wird nach und nach eingestellt. Obwohl neues Unglück droht, beginnen die meisten Rettungsmannschaften mit dem Abzug aus den betroffenen Gebieten. Erdrutsche und Erdbebengeröll stauen Bäche und große Flüsse und bilden 34 instabile "Stauseen". Diese Seen könnten in der nahenden Regenzeit durchbrechen und verheerende Überflutungen der darunter liegenden Gemeinden auslösen. Yun Xiao, Vizeminister für Land und Bodenschätze, sagte gegenüber Reportern, gefährdete Bewohner seien evakuiert worden.

Die Sorge der chinesischen Regierung vor politischen Unruhen ist unübersehbar. Am Mittwoch vergangener Woche kündigte Premierminister Wen Jiabao für dieses Jahr die Bildung eines Hilfsfonds für Sichuan in Höhe von 70 Milliarden Yuan (6,4 Mrd. Euro) an. Mit einem gewissen Gespür für die zunehmende Verstimmung in den landwirtschaftlich geprägten und vom Erdbeben am stärksten betroffenen Gebieten, erklärte Wan, der Plan solle "einen Ausgleich zwischen städtischen und ländlichen Gebieten, zwischen industrieller und landwirtschaftlicher Produktion in Gang bringen."

Gleichzeitig macht man sich in Beijing auch Gedanken über die weitergehenden ökonomischen und politischen Folgen. Die Provinz Sichuan gehört zu den größten chinesischen Produzenten von Getreide und Schweinen und ist auch bedeutender Energie- und Rohstofflieferant. Die Unterbrechung der Produktion durch das Erdbeben könnte die Inflation weiter anheizen, die im April um 8,5 Prozent - der höchsten Rate seit elf Jahren - anstieg. Wen versprach einzugreifen und erklärte: "Wir werden einen zu raschen Preisanstieg verhindern, die Preisaufsicht für die wichtigsten Handelsartikel verschärfen und skrupellose Händler bestrafen, die Gewinne machen, indem sie Waren horten oder spekulieren."

Der unmittelbarste Grund für die Unzufriedenheit war aber, dass die luxuriösen Regierungsgebäude stehen blieben, während die Häuser der Armen und die Schulen ihrer Kinder bei dem Erdbeben zerstört wurden. Um die aufkeimende Wut zu dämpfen, hat Wen zwischenzeitlich neue Bauvorhaben für Regierungsämter und für die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) gestoppt. Er ordnete auch Einschnitte bei den offensichtlichen Privilegien der Führung der KPCh an, so bei kostspieligen offiziellen Treffen, neuen Dienstwagen und Auslandsreisen.

Vieles deutet darauf hin, dass die Hilfsmaßnahmen ganz und gar unangemessen sind. Tausende Menschen aus der ganzen Region haben sich in den vergangenen Tagen am Bahnhof und am Flughafen von Chengdu, der Provinzhauptstadt von Sichuan, eingefunden. Einige wollen aus Angst vor Nachbeben und Erdrutschen so schnell wie möglich weg. Die meisten jedoch haben ihre Häuser verloren und wollen fort, um Arbeit in anderen Provinzen zu suchen, da die Regierung nur geringfügige und kurzfristige finanzielle Unterstützung gewährt.

Nach dem anfänglichen Schockzustand häufen sich jetzt die Beschwerden. Viele Überlebende finden keine Unterkunft, da es an Zelten für die Obdachlosen fehlt. Die Regierung hat mehr als 3 Millionen Zelte geordert, bis jetzt wurden jedoch nur 400.000 geliefert. Präsident Hu Jintao hat Fabriken in Huzhou in der östlichen Provin Zhejiang besucht, um die Arbeiter bei diesem Anlass öffentlich zur Steigerung der Produktion von Zelten für Sichuan aufzurufen.

Associated Press berichtete am Mittwoch, dass sich 70 Bauern aus der Gebirgsstadt Xinhua vor den Toren des lokalen Regierungsgebäudes drängten und mehr Zelte verlangten. Ein Bauer namens Zhou erklärte: "Die Regierung sagte, sie würde gestern Abend mehr Zelte verteilen. Wir haben sie jedoch nie erhalten. Es regnete gestern Abend und es scheint, dass es auch heute Abend regnen wird." Die Demonstranten wurden von einem Dutzend Soldaten umstellt, die das Gebäude bewachten.

Die Unzufriedenheit betrifft nicht nur die fehlenden Zelte. Der Ladeninhaber Li Bai kritisierte, dass die örtlichen Beamten bestochen werden müssten, damit sie ihre Pflicht täten. "Erst nachdem Hu Jintao hier war, haben sie angefangen, sich ernsthaft mit dem Unglück zu befassen. Die Zentralregierung hat keine Ahnung davon, wie korrupt die Beamten hier sind. Sie müssten nur öfters hierher kommen, um es mit eigenen Augen zu sehen", sagte Li zu Associated Press.

Trotz des Versprechens der chinesischen Regierung, korrupte Beamte und Geschäftsleute zu bestrafen, die schlampiges Bauen zu verantworten haben, nehmen besonders Proteste gegen die schlechte Bausubstanz von Schulen, wo Tausende von Kindern starben, zu. Reuters berichtete am Mittwoch, dass Hunderte von Angehörigen Kränze entlang des Wegs zur Fuxing-Grundschule niedergelegt hatten, wo 127 Kinder getötet wurden. Sie hissten ein Transparent, auf dem stand: "Der Grund für den Tod der Kinder war nicht eine Naturkatastrophe, sondern ein nicht sicheres Gebäude."

In der Stadt Yinhua, wo 200 Schüler getötet wurden, erzählte eine Mutter, die ihre Tochter verloren hat, der Nachrichtenagentur Reuters, dass das Schulgebäude im Jahr 1993 nur zwei Stockwerke hatte und später noch zwei illegal darauf gesetzt wurden. "Als es einbrach, blieben nur Bruchstücke, keine ganzen Blöcke übrig. Daran kann man sehen, wie schlecht es konstruiert war", sagte sie. In Juyuan, wo mehr als 500 Schüler in einer einfallenden Mittelschule starben, unterzeichneten 100 Eltern eine in der Stadt zirkulierende Petition, in der die Bestrafung der örtlichen Beamten des Bildungswesens gefordert wurde.

Die Protestaktion mit der höchsten Sprengkraft fand am 22. Mai in Dujiangyan statt. Dort drangen 200 Eltern, die ihre Kinder in der Xin Jiang Grundschule verloren hatten, in die vom örtlichen Schulamt aufgestellten Zelte ein, zerstörten Computer und rissen drei Zelte ein. Zuvor hatten die Eltern eine Petition mit der Forderung nach einer Erklärung darüber vorgelegt, ob Regierungsbeamte zur Einsparung von Baukosten bestochen worden waren. Zur Auflösung dieser Demonstration wurden etwa 300 Polizeibeamte eingesetzt. Man weiß nicht, wie dabei vorgegangen wurde, da Journalisten der Zugang zu dem Gebiet verwehrt wurde.

Die Propagandaabteilung der KPCh hat die Kontrolle über die Berichterstattung verschärft. Die Internetpolizei des Landes greift bei jeder "Unruhestiftung" immer entschiedener durch, da sie angeblich Panik und Chaos verursachen könnte. Eine Notiz auf der Web Site der staatlichen Verwaltung von Radio, Film und Fernsehen forderte, dass alle Presseerzeugnisse ihr Können und ihre Mittel in den Dienst der Direktiven der Zentralregierung stellen und über die Katastropheneinsatzkräfte und die Hilfsmaßnahmen mit einem hohen Maß an politischer Verantwortung berichten."

Die Tatsache, dass sich die KPCh gezwungen sah, eine nie da gewesene PR-Kampagne durchzuführen, weist jedoch darauf hin, dass in der chinesischen Gesellschaft tief greifende Veränderungen vor sich gehen. In Fernsehberichten wimmelte es von Bildern von "Großvater Wen Jiabao", immer inmitten von Erdbebenopfern, besonders Kindern. Zuvor war niemals eine drei Tage dauernde Staatstrauer für einfache Leute angeordnet worden - früher war ein derartiges Ereignis dem Tod prominenter Führer vorbehalten.

Die Führung der KPCh spürt genau, dass ihre Herrschaft durch das Entstehen einer Opposition bedroht und nicht allein mit polizeistaatlichen Methoden zu retten ist. Trotz der staatlichen Zensur führt die explosionsartige Zunahme der Internet- und Telefonnutzung in China dazu, dass Hunderte Millionen Menschen verhältnismäßig frei kommunizieren können. Die KPCh sah sich gezwungen, auf die überquellende Sympathie und Unterstützung in ganz China für die Überlebenden zu reagieren, um so zu vermeiden, dass daraus Kritik und politische Opposition erwachsen.

Im Jahr 1976 fiel das große Tangshan Erdbeben zeitlich mit dem Tod Mao Zedongs zusammen. Es vergingen Wochen, bis die Nachrichten über das Unglück, das einer Viertel Million Menschen das Leben gekostet hatte, bekannt wurden. Das Regime herrschte über ein weites Gebiet mit isolierten ländlichen Städten und Dörfern, zwischen denen es nur wenige Industriezentren gab, und es war in der Lage, eine beinah vollständige Kontrolle über die Medien und alle Kommunikationsmittel auszuüben.

Das geht heute nicht mehr. Nicht nur, dass sich die Kommunikationsmittel verändert haben, auch die Öffnung Chinas für fremdes Kapital hat sich nach Maos Tod weiter entwickelt und neue Bataillone von Arbeitern in rapide expandierenden Städten versammelt. Weit davon entfernt, Beleg für eine neue Offenheit der KPCh-Führung zu sein, zeigen die derzeitige PR-Kampagne und die Versuche, polizeistaatliches Vorgehen mit Medieneffekten und Appellen an die nationale Einheit zu ergänzen, wie angeschlagen das Regime ist.

Siehe auch:
Erdbeben in China enthüllt tiefe soziale Kluft
(21. Mai 2008)
Chinesische Führer reagieren nervös auf anhaltendes "Schneechaos"
(9. Februar 2008)
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