Türkei: Mai-Demonstration in Istanbul brutal unterdrückt

Am 1. Mai fiel die türkische Bereitschaftspolizei mit Knüppeln über friedliche Demonstranten her und setzte Tränengas und Wasserwerfer ein, um sie von der Teilnahme an der Mai-Demonstration abzuhalten, die zum Taksim-Platz führen sollte, einem zentralen Versammlungsplatz in Istanbul.

Am 30. April verbot die Regierung der AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) die Mai-Kundgebung auf dem Taksim-Platz, da auf dem Platz keine Demonstrationen zugelassen seien. Premierminister Tayyip Erdogan drohte den Gewerkschaftsführern mit folgenden Worten: "Wir warnen jeden vor Aktionen und Provokationen illegaler Organisationen, jeder wird dringend gebeten, diesen Provokationen nicht in die Hände zu spielen."

Der Gouverneur von Istanbul, Muammer Güler, betonte seine Entschlossenheit, das Verbot von Mai-Demonstrationen auf dem Taksim-Platz mit Nachdruck durchzusetzen. Dieses Verbot war nach dem Militärputsch von 1980 erlassen, und seitdem von allen Folgeregierungen aufrechterhalten worden. Seit am 1. Mai 1977 rechte, vermutlich von staatlichen Kräften unterstützte Provokateure das Feuer auf linke Demonstranten eröffnet und 37 Menschen getötet hatten, hat dieses Verbot Symbolcharakter.

Des Weiteren schaffte die Militärjunta den 1. Mai als nationalen Feiertag und Gelegenheit für "linken Aktivismus" ab. Die AKP-Regierung hatte es abgelehnt, dieser vom Militärregime geschaffenen Tradition ein Ende zu setzen.

Nach offiziellen Angaben des Gouverneurs von Istanbul, Güler, und des Polizeichefs Celalettin Cerrah, der eine üble Rolle bei der Organisierung der Gewalthandlungen gegen die diesjährigen Mai-Kundgebungen spielte, wurden 530 Demonstrationsteilnehmer verhaftet, und es gab im Verlauf des Tages 38 Verletzte.

An den Tagen vor dem Protest behauptete Gouverneur Güler es hätten eindeutige Erkenntnisse vorgelegen, nach denen damit zu rechnen war, dass "Terroristen der PKK und Mitglieder anderer Randgruppen und illegaler Organisationen" die Polizei angreifen würden. Man sei zu "präventivem Handeln" entschlossen gewesen.

Genaue Zahlenangaben sind zwar nicht möglich, vermutlich haben sich an dem vorgesehenen Platz jedoch nicht mehr als 15.000 demonstrationswillige Personen eingefunden - die Polizeipräsenz war demgegenüber außerordentlich hoch. Mit 20.000 uniformierten Polizisten - Zivilpolizei nicht mit eingerechnet - übertrafen die Polizeikräfte die Demonstranten zahlenmäßig deutlich. Die Polizeiformationen wurden durch Mannschaften verstärkt, die die Regierung aus Stadtteilen in der Umgebung des Taksim-Platzes geschickt hatte.

Es gab einen Aufmarsch von Hunderten von Gendarmen im Gezi-Park von Taksim, der so in einen wahren Kasernenhof mitten in der Stadt verwandelt wurde. Die Polizei riegelte sämtliche Straßen, die zu dem Sammelplatz führen, ab und trieb alle Demonstrantengruppen, die zu dem Platz gelangen wollten, und selbst an Kreuzungen wartende Passanten brutal auseinander.

Um den Zugang der Demonstranten zum Viertel zu verhindern, wurde der Betrieb einiger Fähren, städtischer Busse und U-Bahnen stundenlang unterbrochen.

Nach offiziellen Angaben schossen die Polizisten mehr als 1500 Tränengaspatronen ab. Sie ließen keine Gelegenheit aus, Demonstranten zu treten oder mit Polizeiknüppeln zu schlagen. Absichtlich zielten einige Polizisten beim Abschießen von Tränengasgranaten niedrig, um Protestierende zu treffen und zu verletzen, was ihnen in manchen Fällen auch gelang.

Die Polizei schoss auch mit Plastikkugeln auf die Demonstranten, welche ihrerseits Steine und Pflastersteine warfen. Obwohl es keine offiziellen Angaben über den Einsatz von Plastikmunition gab, wurde berichtet, dass auch solche Munition gegen friedliche Demonstranten eingesetzt wurde.

Eine Gruppe von Demonstranten verfolgend, die sich nach dem Tränengaseinsatz im Sisli Etfal- Krankenhaus behandeln lassen wollte, schoss die Polizei Tränengas selbst in das Innere des Krankenhauses und traf alte Frauen und Kinder. Es wurde berichtet, dass auch einige Kinder, die im Krankenhaus gegen Leukämie behandelt wurden, Opfer dieser beispiellosen polizeilichen Brutalität wurden.

Ausländische Besucher des Taksim-Viertels, das ein Anziehungspunkt für Touristen ist, waren offensichtlich schockiert über den Anblick, der sich ihnen dort bot.

Die Zentrale der Vereinigung der Revolutionären Gewerkschaften der Türkei (DISK) in Sisli, wo sich mehr als 1.000 Demonstranten aufhielten, wurde mehrmals von der Polizei angegriffen, die Tränengas in das Gebäude schoss.

Ein Gewerkschaftsvertreter sagte den Turkish Daily News : "Der erste Angriff wurde ohne Vorwarnung unternommen, als die Menschen bloß vor dem Gebäude saßen. Vertreter der Partei für eine Demokratische Gesellschaft (DTP) und der Partei für Freiheit und Solidarität (ODP) haben wiederholt versucht, den Gouverneur, den Justizminister und den Innenminister anzurufen, diese ließen sich jedoch nicht sprechen". "In einem bestimmten Moment in dem (DISK) Gebäude kam mir der Gedanke, dass sie uns jetzt gleich niederbrennen werden", so der populäre Musiker Ferhat Tunc.

Nach dem Verbot der Demonstration auf dem Taksim-Platz durch die AKP-Regierung hatte die Vereinigung Türkischer Gewerkschaften (Türk-Is) angekündigt, 500.000 Menschen zum Widerstand gegen das amtliche Verbot zu mobilisieren. Danach gaben sie widersprüchliche Erklärungen zu ihrer Position zu dem Protest ab. Letztendlich gaben sie dann klein bei und zogen ihre Unterstützung für den Protest zurück - eine Kapitulation, die vom Arbeitsminister mit einem Lob für ihren "gesunden Menschenverstand" quittiert wurde.

Eine Durchsicht der Filmberichte im Fernsehen zu den Ereignissen und der Fotos in den Tageszeitungen zeigt, dass die Polizei nicht die Zerstreuung der Menschenmenge, sondern einen brutalen Angriff auf sie vorhatte. Was kaum überrascht - die überwiegende Mehrheit der türkischen Polizei besteht aus rechten, faschistischen oder islamistischen Elementen.

Der Großteil der bürgerlichen Nachrichtenorgane - mit Ausnahme der islamistischen Medienerzeugnisse - kritisierte und verurteilte wegen der exzessiven Gewalt gegen die Demonstranten die AKP-Regierung, aber auch den Gouverneur von Istanbul und die örtliche Polizei. Sie hoben hervor, dass die AKP-Regierung Massenversammlungen im Herzen Istanbuls fürchte und verurteilten die islamistisch-konservative Richtungsänderung im Land.

Die so genannten säkularen Nachrichtenmedien ergriffen die Gelegenheit zur Verschärfung der derzeit gegen die AKP-Regierung laufenden Kampagne, die kürzlich mit der Einleitung eines Verfahrens zum Verbot der AKP ihren Höhepunkt fand. In den vergangenen drei Jahrzehnten waren die Mai-Demonstrationen in Istanbul und anderen Landesteilen immer von unverhältnismäßig gewaltsamen Polizeieinsätzen begleitet gewesen. Die ganze Zeit über hatten dieselben Presseorgane die Polizei in zynischer Art und Weise verteidigt. Tatsächlich sind sie um keinen Deut weniger heuchlerisch als die islamistische Regierung und ihre Sympathisanten.

Einige Kommentatoren äußerten sich verwundert, dass die selbst unter Verbotsdrohung stehende AKP die demokratischen Rechte nicht verteidigt. Der Grund dafür ist offensichtlich und einfach:

Die Brutalität der Angriffe der AKP-Regierung auf die Arbeiterklasse zeigt, dass es keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen dieser Partei und ihren Gegnern im kemalistischen Establishment gibt, soweit es um die Verteidigung des bürgerlichen Staates oder die Durchsetzung der Forderungen des internationalen Kapitals geht. Erst kürzlich hat Erdogan das Rentenalter erhöht und die Beiträge der Unternehmer zur nationalen Krankenversicherung gesenkt.

Der brutale Angriff auf die Demonstranten am 1. Mai verdeutlicht den Klassencharakter der AKP als einer Partei mächtiger Wirtschaftsinteressen. Ihrem Wesen nach nimmt sie gegenüber den Interessen der armen und arbeitenden Massen in der Türkei eine feindliche Haltung ein.

Siehe auch:
Türkei: Generalstaatsanwalt will regierende AKP verbieten
(4. April 2008)
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