Italienisches Gericht lässt zivile Entschädigungsansprüche von NS-Opfern gegen Deutschland zu

Am 4. Juni entschied das oberste Zivilgericht Italiens, das Kassationsgericht in Rom, dass überlebende Opfer des Nazi-Massakers, das die SS 1944 in dem griechischen Dorf Distomo angerichtet hat, Entschädigungszahlungen gegen Deutschland vor Gerichten in Italien durchsetzen dürfen. Dazu könnten beispielsweise deutsche Kulturinstitute wie die Villa Vigoni am Comer See oder auch Goethe-Institute beschlagnahmt und versteigert werden, um mit dem erlösten Geld die Opfer zu entschädigen.

In weiteren Urteilen bestimmten die obersten Zivilrichter, dass Italiener, die während des Zweiten Weltkriegs von den Nazis nach Deutschland zur Zwangsarbeit deportiert worden waren, die Bundesrepublik vor italienischen Gerichten auf Entschädigung verklagen dürfen. Die Zahl der noch lebenden ehemaligen italienischen Zwangsarbeiter wird auf etwa 100.000 geschätzt.

Insgesamt wurden in der Zeit von September 1943 bis zur Niederlage der Naziherrschaft in Deutschland im Mai 1945 mindestens 600.000 italienische Kriegsgefangene als sogenannte italienische Militärinternierte nach Deutschland und in von Deutschland besetzte Gebiete Osteuropas verschleppt und unter brutalen und unmenschlichen Bedingungen in deutschen Fabriken, vor allem Werken der Rüstungsindustrie, zur Zwangsarbeit gezwungen. Etwa 50.000 von ihnen überlebten die Deportation und Zwangsarbeit nicht.

In ersten Reaktionen auf diese Urteile erklärten Sprecher der Bundesregierung, dass Deutschland Verurteilungen zu Schadensersatz durch ausländische Gerichte nicht hinnehmen werde und wegen der Entscheidungen des italienischen Kassationsgerichts sogar eine Klage gegen Italien vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag (Niederlande) erwäge.

Die deutsche Regierung hatte selbst das Kassationsgericht angerufen, nachdem Opfer des Naziregimes Deutschland vor italienischen Gerichten auf Entschädigung verklagt hatten. Die Bundesregierung war davon ausgegangen, dass das oberste italienische Zivilgericht das sogenannte Immunitätsprinzip bestätigen würde, laut dem Staaten nicht vor Gerichten eines anderen Staates verklagt werden können.

Die Richter des italienischen Kassationsgerichts begründen ihre Urteile damit, dass das Immunitätsprinzip nicht bei schweren Verletzungen des Völkerrechts wie Kriegsverbrechen gelten könne und dass diese auch nach über 60 Jahren nicht verjährt seien.

Historischer Hintergrund

Das faschistische Italien Mussolinis war eng mit dem nationalsozialistischen Deutschland verbündet. Gemeinsam mit Japan bildeten Italien und Deutschland die so genannten Achsenmächte. Bereits im Sommer 1943 zeichnete sich deren Niederlage ab. Alliierte Truppen hatten im Oktober 1942 mit dem Angriff auf deutsche und italienische Stellungen in Nordafrika begonnen. Am 2. November 1942 gelang ihnen der Durchbruch bei El Alamein.

Kurze Zeit später landeten britische und amerikanische Truppen im französisch besetzten Nordafrika und setzen sich nach anfänglichem Widerstand gegen die Truppen der deutschlandhörigen Vichy-Regierung durch. Ende Januar hatten sie Marokko und Algerien unter Kontrolle. Am 13. Mai wurde der letzte Widerstand der Achsenmächte in Nordafrika gebrochen. General von Arnim kapitulierte bei Tunis, 250.000 Deutsche und Italiener gelangten in Kriegsgefangenschaft.

Etwa zur gleichen Zeit begann an der Ostfront die Gegenoffensive der Roten Armee südlich von Stalingrad. Die 6. Armee wurde eingekesselt. Am 2. Februar 1943 kapitulierte Feldmarschall Paulus mit dem Rest seiner Armee in der zerstörten Stadt.

Im Sommer 1943 landeten britische Truppen im Südosten von Sizilien und amerikanische etwas weiter westlich davon im Golf von Gela. Die italienische Elite versuchte ihre Haut zu retten, indem sie Mussolini am 25. Juli 1943 nach über zwanzig Jahren Diktatur absetzte und verhaften ließ. König Vittorio Emanuele III. ernannte Marschall Badoglio zu dessen Nachfolger im Amt des Ministerpräsidenten. Am 3. September 1943 unterzeichnete General Castellano die Kapitulation Italiens.

Die deutschen Machthaber waren aber nicht bereit, sich von der italienischen Front zurückzuziehen. Sie reagieren wutentbrannt auf die italienische Kapitulation, die in ihren Augen Verrat bedeutete. Am Abend des 8. September 1943 ließ General Jodl, Chef des Wehrmachtführungsstabes, auf Weisung Hitlers durch seinen Adjutanten die Aktion "Achse" auslösen. Italien, das aus dem Krieg aussteigen wollte, wurde zum Kriegsschauplatz.

Außer der sofortigen Entwaffnung und Gefangennahme der italienischen Soldaten gab die Wehrmachtsführung den Befehl aus, soviel Kriegsmaterial wie möglich zu beschlagnahmen und bei dem Rückzug aus Italien in den Norden so viel verbrannte Erde wie möglich zu hinterlassen. Ein deutscher Befehlshaber in Italien, General Kesselring, stachelte noch am späten Abend des 8. September 1943 die ihm unterstellten Soldaten mit einem Befehl zu den größtmöglichen Grausamkeiten gegen ihre ehemaligen italienischen Waffenbrüder an.

Darin heißt es: "Italienische Regierung hat gemeinsten Verrat begangen, indem sie hinter unserem Rücken Waffenstillstand mit dem Feind abschloss. [...] Die italienischen Truppen sind unter Appell an ihre Ehre zur Fortsetzung des Kampfes an unserer Seite aufzufordern, sonst rücksichtslos zu entwaffnen. Im übrigen gibt es gegen Verräter keine Schonung!"

Die übergroße Mehrheit der italienischen Soldaten weigerte sich, weiter an der Seite Nazi-Deutschlands zu kämpfen. Die italienische Bevölkerung war bereits seit Längerem von der völligen Sinnlosigkeit des Kriegs überzeugt und bereit, Widerstand zu leisten. Die Brutalität, mit der die deutschen Wehrmachts- und SS-Einheiten gegen diesen Widerstand und völlig unbeteiligte und unschuldige Zivilisten, einschließlich alter Menschen, Frauen und Kinder, vorgingen, verstärkte ihre Entschlossenheit zum Widerstand gegen die deutsche Besatzungsmacht.

In Neapel in Süditalien leistete die Bevölkerung heroischen Widerstand gegen die deutschen Soldaten, die auf ihrem Rückzug eine blutige Spur der Zerstörung hinterließen.

Ein besonders brutales Kriegsverbrechen ereignete sich bei der Entwaffnung italienischer Soldaten auf der griechischen Insel Kephalonia. Über die bereits angeführten völkerrechtswidrigen Befehle und Weisungen hinaus, erteilte das Oberkommando der Wehrmacht am 18. September 1943 den Befehl, auf Kephalonia ab sofort keine Gefangenen mehr zu machen.

Darauf hin wurden mindestens 5.170 italienische Soldaten niedergemetzelt, obgleich sie sich großenteils schon ergeben hatten. Andere Gefangene wurden in überfüllten, nicht als Kriegsgefangenentransporte gekennzeichneten Schiffen auf das Festland überführt. Dabei kamen weitere 13.288 Italiener ums Leben, weil Schiffe durch gegnerischen Beschuss versenkt wurden und die Deutschen alle Rettungsmaßnahmen für die Gefangenen verweigerten.

Die nach Deutschland zur Zwangsarbeit verschleppten Italiener wurden unter menschenunwürdigen Bedingungen in Lagern interniert und ohne ausreichende Nahrung, geschweige denn medizinische Versorgung auf brutale Art und Weise ausgebeutet. Auch hier wurden sie als "Verräter" abgestempelt und von den Wachmannschaften entsprechend gedemütigt und misshandelt.

Eine besonders perfide Form der Unterdrückung war die sogenannte Leistungsernährung. Das Oberkommando der Wehrmacht, Abteilung Kriegsgefangene, hatte angeordnet, dass "nur voll befriedigende Leistung" Anrecht auf volle Verpflegungssätze gebe. "Verpflegung ist daher grundsätzlich nach Leistung abzustufen, bei unbefriedigender Leistung für gesamte Arbeitseinheit ohne Rücksicht auf einzelne Willige zu kürzen." Das führte dazu, dass ein großer Teil der etwa 45.000 bis 50.000 Menschen, die die Zwangsarbeit in Deutschland nicht überlebten, an den Folgen von Unterernährung und völliger Erschöpfung starb.

Im Juli 1944 wurden die italienischen Militärinternierten als zivile Zwangsarbeiter registriert. Sie wurden aus den Kriegsgefangenenlagern in Arbeitslager überführt und von zivilen Kräften bewacht. Auch dies änderte wenig bis nichts an der Lage der italienischen Zwangsarbeiter. Sie blieben bis zum Kriegsende eine der am schlechtesten behandelten und ernährten Arbeitergruppen. "In dieser Beurteilung der Lage der Italiener ist die internationale historische Forschung einig", schreibt der Freiburger Historiker Ulrich Herbert in einer Stellungnahme zu dem Streit über die Verweigerung von zumindest symbolischen Entschädigungszahlungen für italienische Zwangsarbeiter. (Süddeutschen Zeitung vom 16. Oktober 2001)

Haarsträubende Urteile

Die deutsche Rechtsprechung stützt sich auf internationalrechtliche Vereinbarungen, nach denen Entschädigungen für die Verwendung von Kriegsgefangenen zur Zwangsarbeit nicht zu zahlen sind. Sie ignoriert dabei, dass Millionen ehemalige sowjetische, polnische, italienische und andere Kriegsgefangene von den NS-Behörden einfach in das zivile Zwangsarbeiterverhältnis überstellt wurden, um der deutschen Industrie billige Arbeitskräfte zur Verfügung zu stellen. Mit Ausnahme einiger polnischer erhielten diese Zwangsarbeiter keine Entschädigungen

Um den italienischen Kriegsgefangenen, die ebenfalls zu Zwangsarbeitern erklärt und als solche eingesetzt und ausgebeutet wurden, Entschädigungszahlungen zu verweigern, bediente sich die deutsche Regierung und das Bundesverfassungsgericht, vor dem Vertreter der italienischen Zwangsarbeiter Klage einreichten, eines umstrittenen Gutachtens des Völkerrechtlers Christian Tomuschat.

Tomuschat argumentiert folgendermaßen: Die italienischen Militärinternierten seien zwar tatsächlich in ein ziviles Zwangsarbeiterverhältnis überführt worden. Aber da dieses Vorgehen der Nazis völkerrechtswidrig war, könnten die italienischen Zwangsarbeiter auch keine Entschädigung erhalten, da sie ja in Wirklichkeit Kriegsgefangene geblieben seien.

Diese haarsträubende Argumentation, die die Opfer des nationalsozialistischen Unrechtregimes erneut verhöhnt und von jeglicher Entschädigung für das von ihnen erlittene Unrecht ausschließt, wurde sowohl vom Finanzministerium gut geheißen, das für die Hälfte der Einzahlungen in den Zwangsarbeiterentschädigungsfonds aufkommen musste, als auch von den Richtern am Bundesverfassungsgericht, namentlich Broß, Di Fabio und Gerhardt. Sie wiesen am 28. Juni 2004 die Verfassungsbeschwerde, die im Namen von 943 Beschwerdeführern aus Italien eingelegt worden war, zurück und nahmen sie nicht zur Entscheidung an.

Die Ablehnungsbegründung des Bundesverfassungsgerichts enthält folgenden bemerkenswerten Absatz:

"Dem Gesetzgeber ist es im Hinblick auf Art. 3 Abs 1 GG auch nicht verwehrt, zwischen einem allgemeinen, wenn auch harten und möglicherweise mit Verstößen gegen das Völkerrecht einhergehenden Kriegsschicksal und Opfern von in besonderer Weise ideologisch motivierten Verfolgungsmaßnahmen des nationalsozialistischen Unrechtsregimes zu unterscheiden und angesichts eines zwar erheblichen, aber gleichwohl begrenzten Stiftungsvermögens nur letztere in den Kreis der Leistungsberechtigten nach dem StiftG einzubeziehen."

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wurde als unanfechtbar erklärt.

Selbst bei nur relativ oberflächlicher Kenntnis der geschilderten Kriegsverbrechen und Massaker, die während des Zweiten Weltkriegs von der deutschen Wehrmacht und den SS-Einheiten begangen wurden, ist es nicht nach vollziehbar, wie man diese Verbrechen von der nationalsozialistischen sprich faschistischen Ideologie trennen kann.

Ähnlich wie den Klägern der italienischen Zwangsarbeiter vor deutschen Gerichten ging es den Opfern und Überlebenden der Massaker von Distomo und Kephalonia. Alle ihre Anstrengungen, vor deutschen Gerichten bis hin zum Bundesverfassungsgericht Gerechtigkeit und Entschädigungen für das ihnen und ihren Angehörigen zugefügte Leid zu erhalten, wurden abgewiesen.

Vier griechische Staatsangehörige, alle inzwischen über 70 Jahre alt, hatten nach dem langwierigen Klageweg über deutsche und griechische Gerichte ebenfalls Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht eingelegt. Sie sind Überlebende eines Massakers, das eine in die deutschen Besatzungstruppen eingegliederte SS-Einheit am 10. Juni 1944 in dem griechischen Dorf Distomo angerichtet hat.

Auch ihre Verfassungsbeschwerde wurde gemäß Beschluss vom 15. Februar 2006 vom Bundesverfassungsgericht nicht zur Entscheidung angenommen. Die Begründung für die Ablehnung liest sich ähnlich haarsträubend, wie die für die Ablehnung der Verfassungsbeschwerde im Falle der italienischen Zwangsarbeiter.

Alle Kläger hatten als Kinder mit ansehen müssen, wie eine SS-Einheit in das Dorf Distomo bei Delphi in Mittelgriechenland einfiel und zwischen 200 und 300 Einwohner, darunter die Eltern der Kläger, wahllos ermordete. Unter den brutal Niedergemetzelten befanden sich vor allem alte Menschen, Frauen, 34 Kinder im Alter von einem bis zehn Jahren und vier Säuglinge im Alter von zwei bis sechs Monaten. Das Dorf selbst wurde im Anschluss niedergebrannt.

Das Massaker an der griechischen Zivilbevölkerung war ein Rache- und Vergeltungsakt für einen Angriff von Partisanen, bei dem drei deutsche Soldaten getötet worden waren.

Aufgrund der Klage von Nachfahren der Opfer von Distomo wurde die Bundesrepublik Deutschland 1997 in einem Urteil des griechischen Landgerichts Livadia zur Zahlung von 37,5 Millionen Euro verurteilt. Ein Revisionsantrag der Bundesrepublik Deutschland wurde im Januar 2000 vom höchsten griechischen Gericht Areopag zurück gewiesen. Aber die Zwangsvollstreckung in Vermögen der Bundesrepublik Deutschland in Griechenland, wie die Pfändung des Goethe-Instituts in Athen, wurde im letzten Moment durch gegen die Vollstreckung eingelegte Rechtsmittel abgewendet.

Die griechische Regierung weigerte sich, die nach griechischem Recht notwendige Einwilligung in die Zwangsvollstreckung zu erteilen. Auch der dagegen von den Klägern beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingelegte Antrag wurde am 12. Dezember 2002 abgewiesen.

Nachdem auch die Beschwerde der Kläger vom Bundesverfassungsgericht unwiderruflich zurück gewiesen worden war, hoffen die Opfer des SS-Massakers von Distomo jetzt doch noch auf Entschädigung aufgrund der Entscheidung des italienischen Kassationsgerichts.

Dilemma der bürgerlichen Rechtssprechung

Die Urteile des obersten italienischen Zivilgerichts zugunsten der Opfer der Nazi-Verbrechen, der ehemaligen Zwangsarbeiter aus Italien und der Opfer des Massakers von Distomo, sind zu begrüßen. Dennoch darf man sich aufgrund der Vorgeschichte keinen Illusionen hingeben, dass unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen den Überlebenden dieser Verbrechen wirklich Gerechtigkeit (soweit das überhaupt möglich ist) widerfahren wird und sie tatsächlich Entschädigungszahlungen für das ihnen zugefügte Unrecht und Leid erhalten.

Es ist zu befürchten, dass weiterhin die griechische wie auch der italienische Regierung eingreifen, um die Beschlagnahme von deutschem Eigentum in ihren Ländern zu verhindern, da sie politische, diplomatische und ökonomische Konflikte mit Deutschland vermeiden wollen.

Ein Kommentar von Stefan Ulrich in der Süddeutschen Zeitung vom 6. Juni zum Urteil des italienischen Gerichts zur Entschädigung von Zwangsarbeitern, der zwar eine gewisse Sympathie für die Opfer des nationalsozialistischen Regimes äußert, aber die Aufhebung des Immunitätsprinzip, wonach sich kein Staat von den Bürgern eines anderen Landes verklagen lassen muss, angreift, bringt das Dilemma der bürgerlichen Rechtssprechung und der Regierungen auf den Punkt.

"Juristen neigen nicht zu Revolutionen. Dies aber ist eine. Falls sie sich ausbreitet, wird sie die internationale Ordnung und das europäische Nachkriegssystem aufmischen. Die jüngere Geschichte des Kontinents kennt viele Opfer, die den Aufstand der Vergangenheit ausrufen könnten. Denkt man das italienische Urteil zu Ende, könnten auf die Bundesrepublik Abermillionen Entschädigungsklagen aus zahlreichen Ländern zukommen, in denen einst Nazi-Deutschland wütete.

Auch andere Staaten bekämen die Last der Geschichte zu spüren. Italien hätte unzählige Menschen zu entschädigen, die einst unter dem Stiefel des Duce ächzten, etwa in Albanien oder Griechenland. Auch deswegen hat die italienische Regierung die deutsche Rechtsauffassung vor dem Kassationsgericht - erfolglos - unterstützt. Die Algerier könnten alte Rechnungen mit Frankreich präsentieren. Überlebende der Bombenangriffe auf Dresden dürften sich ermutigt fühlen, gegen Großbritannien zu klagen."

Stefan Ulrich weist die Aufhebung des Immunitätsprinzips zurück, weil die Möglichkeit der Klage von Bürgern unterschiedlicher Staaten gegen andere Staaten für erlittenes Unrecht zu endlosen Spannungen zwischen diesen Staaten führen würde. Dies spricht aber nicht gegen Entschädigungen, sondern gegen den Klassencharakter von Staaten, die die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse verteidigen, die wiederum selber die Ursache für das Aufkommen des Nationalsozialismus in Deutschland und die Entstehung des Faschismus in Italien waren.

Eine wirkliche Abrechnung mit den Verbrechen der deutschen Naziherrschaft und eine tatsächliche Aussöhnung mit den Opfern dieser Verbrechen sind daher nur möglich durch einen gemeinsamen internationalen Kampf der Arbeiterklasse zur Überwindung des Kapitalismus.

An dieser Abrechnung wurde die deutsche und europäische Arbeiterklasse am Ende des Zweiten Weltkriegs durch die Alliierten und die Stalinisten gehindert, die alles in ihrer Macht Stehende unternahmen, um die völlig diskreditierte bürgerliche Herrschaft zu retten.

Es wurden zwar einige wenige Hauptverantwortliche des Nazi-Regimes in Nürnberg vor ein internationales Gericht gestellt und als Kriegsverbrecher zur Verantwortung gezogen. Doch das Interesse an einer weiteren Verfolgung der Nazi-Verbrechen kühlte schon kurze Zeit später wieder ab. Der Grund dafür lag vor allem in dem beginnenden Kalten Krieg gegen die Sowjetunion, bei dem die neu gegründete Bundesrepublik als Bündnispartner im Rahmen der Nato eine wichtige Rolle zu spielen hatte.

In Deutschland sollte unmittelbar nach dem Krieg eine Abrechnung der Arbeiterklasse mit dem gesellschaftlichen Nährboden des Naziregimes, dem kapitalistischen System, unter allen Umständen verhindert werden. Insbesondere die deutsche Justiz hatte kein Interesse an der Aufarbeitung der Verbrechen der Nazizeit, da viele der damals Verantwortlichen ihre Karrieren in der Bundesrepublik bruchlos fortgesetzt haben.

Auch in Italien gab es - mit Ausnahme einiger Militärtribunale in der unmittelbaren Nachkriegszeit - kein allzu großes Interesse an der Strafverfolgung der nationalsozialistischen und faschistischen Verbrechen. Neben der Tatsache, dass die Bundesrepublik und Italien Bündnispartner in der Nato wurden, spielte auch die enge wirtschaftliche Zusammenarbeit im Rahmen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, dem Vorläufer der EU eine Rolle.

Noch entscheidender war die Sorge der herrschenden Kreise um das labile soziale Gleichgewicht und die Absicherung der bürgerlichen Herrschaft in Italien selbst. Denn auch in Italien wurde die Arbeiterklasse an einer wirklichen Abrechnung mit dem Faschismus und Kapitalismus gehindert. Kein geringerer als Palmiro Togliatti, Generalsekretär der Kommunistischen Partei und in Justizminister der ersten Nachkriegsregierung, erließ eine weitreichende Amnestie, mit der Verbrechen während der faschistischen Diktatur unter Straffreiheit gestellt wurden.

Die unversöhnliche Haltung der deutschen Regierungen und Gerichte gegenüber den Ansprüchen der Opfer des Nationalsozialismus ist aber nicht nur in der Vergangenheit begründet. Die Teilnahme der Bundeswehr an zahlreichen internationalen Militäreinsätzen und Kriegen - wie 1999 gegen Jugoslawien und seit 2001 gegen Afghanistan - und wachsenden internationalen Spannungen sind unvermeidlich mit der Gefahr neuer kriegerischer Auseinandersetzungen und neuen Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung verbunden.

Deutsche Politik und Justiz fürchten unter anderem, dass eine Anerkennung von Kriegsverbrechen aus der Vergangenheit und eine Entschädigung der noch lebenden Opfer Präzedenzfälle für die Opfer gegenwärtiger und zukünftige Konflikte schaffen könnten.

Siehe auch:
Späte Sühne für SS-Massaker in Marzabotto
(24. Januar 2007)
Deutsche Kriegsverbrechen in Italien
(3. September 2004)
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