Oper für alle

Porgy and Bess in Berlin

Das hat Berlin noch selten erlebt: Zu Beginn der regulären Sommerpause aller drei Opern der Stadt startete ein Gastspiel der Cape Town Opera mit Porgy and Bess von George Gershwin in der Deutschen Oper und erntete Beifallsstürme, wie schon lange nicht vernommen.

Ist es deshalb, weil Gershwins Volksoper so lange Zeit nicht auf Berlins Opernbühnen zu erleben war? Oder, weil das südafrikanische Ensemble so überzeugend singt und mitreißend schauspielert? Beides trifft mit Sicherheit zu.

Aber zugleich ist es der Stoff, aus dem diese Oper gemacht ist und der gerade heute wieder viele Menschen bewegt: Armut, Ausbeutung und Ungerechtigkeit und inmitten des ganzen Elends, die Suche nach einem bisschen Glück. Porgy and Bess ist in der Tat eine Oper für alle, wie Regisseur Angelo Gobbato sagt.

Der Regisseur hat das Operngeschehen von South Carolina während der großen Depression in die südafrikanischen Townships zur Zeit der 70er Jahre verlegt, in denen auch die meisten der Opernsänger und Darsteller geboren sind. Sie gehören nicht zu den begnadeten, von Kind an geförderten Musiktalenten aus kultivierten bürgerlichen Kreisen und kennen die elenden Lebensbedingungen, die sie auf der Bühne darstellen, aus eigener Erfahrung. Die Tournee nach Berlin und anschließend Oslo wird dem Ensemble das nötige Geld für weitere Inszenierungen einspielen, so die Hoffnung.

Die Vorlage für Gershwins Oper ist der 1924 erschienene Bestseller Porgy von DuBose Heyward, eine Geschichte über einen verkrüppelten Bettler in den Straßen des Schwarzenghettos von Charleston, den es tatsächlich gegeben hat. Porgy, der wegen seiner gelähmten Beine ein fahrbares Brett (in Wirklichkeit war es ein von einem Ziegenbock gezogener Karren) zur Fortbewegung benutzt, verliebt sich in die attraktive, von Männern umschwärmte und drogensüchtige Bess, die von dem Schläger, Zuhälter und Alkoholiker Crown ausgehalten wird.

Als Crown bei einem Streit um Spielgeld einen Arbeiter erschlägt und fliehen muss, nimmt Porgy die verlassene Bess auf und diese geht für eine Zeitlang eine harmonische Beziehung mit ihm ein, b, , bisis sie dem plötzlich zurückgekommenen Crown wieder in die Fänge gerät. Dieser wird von Porgy erstochen, als er gerade Bess holen will, und Porgy muss ins Gefängnis. Bess verfällt erneut der Droge "happy dust", die ihr der Dealer und Lebemann Sportin’ Life gibt und geht mit diesem nach New York. Die Geschichte endet mit der Rückkehr von Porgy, der sich entscheidet, Bess zu suchen und solch übermächtige Kräfte durch diesen Entschluss gewinnt, dass er wieder zu laufen beginnt.

Gershwin, der sich schon lange mit dem Gedanken trug, eine große Oper zu komponieren, war von dem Stoff fasziniert und konnte schließlich Heyward für eine Operninszenierung gewinnen. Bis dahin war der Komponist, der aus einer russisch-jüdischen Familie stammte und die Musik hauptsächlich als Autodidakt auf den Straßen des New Yorker Stadtteils Harlem kennen lernte, mit dem sinfonischen Werk Rhapsody in Blue und dem Musical An American in Paris berühmt geworden. Doch war er auch mit der Klassik vertraut und schuf neben seinen bekannteren Stücken Sinfonien und Klavierstücke, bei denen er Elemente von Zeitgenossen wie Schostakowitsch, Strawinsky, Prokofiev, Ravel und Berg aufnahm.

Im Verlauf der langwierigen Arbeit an dem Opernprojekt, an dem maßgeblich auch Georges Bruder Ira sowie der Romanautor Heyward selbst und dessen Frau beteiligt waren, reiste George Gershwin mehrmals nach Charleston, um die Atmosphäre dieser Stadt kennen zu lernen. Auch verbrachte er einige Zeit auf den Inseln Folly Island und James Island, wo er das Leben, die Rhythmen und die Musik der dortigen schwarzen Bevölkerung studierte, ja sogar Anteil daran nahm.

Da ein rein schwarzes Ensemble vorgesehen war, bot er sein Werk von vorneherein nicht der Metropolitan Opera in New York an, sondern der kleineren Theatre Guild. "Der Grund, warum ich dieses Werk nicht den üblichen Förderern der Oper in Amerika unterbreitet habe, war die Hoffnung, in der amerikanischen Musik etwas geschaffen zu haben, das eher einem großen Publikum als den wenigen Kultivierten gefallen würde", erklärte Gershwin später dazu.

Das 1935 in New York uraufgeführte Werk erlebte zunächst nur 128 Vorstellungen, nach Broadway-Maßstäben eine ziemlich geringe Zahl. Das Publikum war begeistert, die Kritik jedoch hatte viel auszusetzen. Sie warf der Oper ihren "Volks"charakter vor, eine unzulässige Vermischung so genannter ernster Kunstmusik und Volksmusik, eine Präsentation von Songs statt auskomponierter Arien usw. George Gershwin sah sich gezwungen, seine Oper zu verteidigen. Unter anderem verwies er darauf, dass "viele der erfolgreichsten Opern der Vergangenheit ... Songs (hatten). Fast alle Opern Verdis enthalten doch das, was wir einen ‚Song Hit’ nennen. Carmen besteht fast ausschließlich aus einer Sammlung von Song Hits."

Gershwin hat Recht: Verdis Opern waren so volksnah und revolutionär, dass viele ihrer Arien noch heute auf den Straßen und in den Cafés von einfachen Menschen gesungen werden. Dasselbe trifft auf Bizets Carmen zu. Ähnlich revolutionär war für das Amerika jener Tage die Aufführung einer Volksoper mit schwarzen Sängern und mit Helden, die zur unterdrückten schwarzen Bevölkerung gehörten. Zu diesem Zeitpunkt war die Oper noch den Weißen vorbehalten, eine Oper über das Leben im schwarzen Elendsviertel, gespielt und gesungen von Schwarzen, galt deshalb geradezu als skandalös.

Gershwin, der nur zwei Jahre nach der Uraufführung mit 39 Jahren starb, konnte den Triumph seiner Oper nicht mehr selbst erleben, der mit einer zweiten Aufführungsserie ab 1942 in New York und ab 1943 in Europa einsetzte. In Kopenhagen fanden während der Nazi-Besatzung 22 ausverkaufte Vorstellungen unter starkem Polizeischutz statt. Als die Nazis drohten, das Opernhaus zu sprengen, wurde das Werk aus dem Programm genommen. Seitdem war die Oper für den dänischen Widerstand zum Symbol geworden, und jedes Mal, wenn im Rundfunk Nazipropaganda zu hören war, begann der Störsender der Antifaschisten mit dem Song "It ain’t necessarily so". Die deutsche Erstaufführung von Porgy and Bess fand 1952 im Titania-Palast in Berlin statt. Weitere Aufführungen folgten 1970 und 1972. Viele Jahre verschwand sie jedoch aus den Programmplänen der Opern. Höchste Zeit, dass dies nun geändert wurde!

Oft wurde in der Vergangenheit die Oper gekürzt und im Musical-Stil inszeniert. Regisseur Angelo Gobbato hält dies für ein Missverständnis: "Mir ist sehr wichtig, den deutschen Zuschauern zu sagen, dass sie eine großformatige Oper sehen werden." Gershwin habe eine "komplexe, durchkomponierte Oper mit großer Orchesterbesetzung geschrieben. Die Sänger leisten hier Schwerstarbeit". Später habe man das Stück zur reinen Unterhaltung mutiert. "Es wurden Dialoge eingebaut, die Partitur wurde vereinfacht und die Jazz-Elemente betont. Aber wer will Entertainment, wenn man Katharsis haben kann? Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Ich bin nicht gegen gut gemachte Unterhaltung - aber darum ging es Gershwin nicht. Er verlangte seinen Zuschauern etwas ab. Aber etwas, das sich allemal lohnte."

In der Tat, es lohnt sich: Die Oper lebt nicht nur von seiner mitreißenden Musik, von Jazz-Rhythmen, Tanz und großartigen Songs. Sie ist auch großes Drama, in dem die Ghettobewohner zu Helden werden. Hieraus rührt der starke emotionale Eindruck, den das Stück beim Publikum hinterlässt, sind es doch nicht nur Schwarze und andere Minderheiten, die Armut und Unterdrückung erleben, sondern immer größere Teile der Bevölkerung weltweit. Porgys Lied "I got plenty o’nuttin" ("Ich habe nichts, aber davon habe ich viel!") spricht den Menschen aus der Seele!

Die Oper hat viele Aspekte und viele Rollen. Nicht nur die Hauptfiguren Porgy, Bess, Crown und Sportin’ Life sind Helden der dramatischen Darstellung, auch Clara (Pretty Yende), die mit herrlicher Stimme und dem weltweit berühmten Song und Wiegenlied "Summertime" den ersten Akt einleitet, gefolgt von ihrem Mann, dem Fischer Jake, der das Kind in den Arm nimmt und seinen neckenden Song anstimmt ("A woman is a sometime thing"); Clara und Jake personifizieren die Hoffnung auf ein geordnetes Familienleben trotz allen Elends, bis der Sturm beide in den Tod reißt. Jake, der trotz Sturmgefahr hinausfährt, um die Familie zu ernähren, kentert, Clara stürzt ihm hinterher und kehrt ebenfalls nicht zurück, das Kind wird zum Waisenkind und muss von Bess betreut werden. Die Perspektive eines normalen Lebens ist gescheitert.

Oder Serena (Nkosazana Dimande), die Frau des Fischers Robbins, der gegen den Willen seiner Frau am Spiel um Geld teilnimmt ("I been sweatin’ all day. Night time is man’s time. He got a right to forget his troubles. He got a right to play") und von dem völlig betrunkenen Crown (Derrick Parker; anstelle von Kaiser Nkosi) erschlagen wird. Der Trauergesang, den Serena anstimmt ("My man’s gone now"), während die Mitbewohner für die Beerdigung Geld sammeln, begleitet vom Gospel-Gesang des Chors ("Gone, Gone, Gone"), geht unter die Haut.

Ihr Gegenpol ist in vieler Hinsicht der Kokain-Dealer Sportin’ Life, die vielleicht interessanteste Figur des Stücks und von Victor Ryan Robertson fantastisch gespielt. Er kommt von außen, von New York, Anzug, grelle Krawatte, Hut, wiegende Schritte, die hin und wieder in Jazz-Rhythmus fallen. Sein Ausweg aus der Misere heißt Drogen, Vergnügen, Luxus, und die erotische, tanzwütige Bess sieht er als ideale Geschäftspartnerin. Er provoziert, sät Zweifel und stellt die fest gefügten moralischen Weltbilder in Frage. Mit seinem Song "It ain’t necessarily so" beim Picknick auf den Kittiwah-Inseln verspottet er die religiösen Vorstellungen. Man könnte noch weitere Figuren nennen, die hervorragende Sänger und Schauspieler sind, beispielsweise die resolute Marktfrau Maria (Miranda Tini), die erfolglos versucht, ihre Mitbewohner von Drogen und Alkohol abzuhalten.

Im Zentrum stehen dennoch Porgy (Xolela Sixaba) und Bess (Tsakane Valentine Maswanganyi), sie verkörpern letztlich den Willen, aus den elenden Bedingungen des Ghettos auszubrechen - Bess, indem sie nach einer Dosis "happy dust" tanzend mit Sportin’ Life nach New York entschwindet, Porgy aber, indem er bei seiner Rückkehr aus dem Gefängnis unter Schmerzen aufsteht, um nach New York zu gehen und Bess zu suchen.

Regisseur Angelo Gobbato dazu: "Von allen Figuren hat Porgy die meisten Entwicklungsstufen, vom gedemütigten Außenseiter, der vor Selbstmitleid vergeht, zum Optimisten, der etwas bewegen und verändern will. Ob wir es wahrhaben wollen oder nicht: Porgy ist auch ein Mörder. Er ist nicht der harmlose, rührende Krüppel, als den man ihn gerne sieht." So endet die Oper letztlich mit einem Appell an die Unterdrückten der Welt, sich ihrem Schicksal nicht zu ergeben.

Gershwins Musik unterstreicht diese Botschaft auf geniale Weise. Während die Größe des Orchesters noch die sinfonische Tradition zeigt, nimmt er zahlreiche neue Elemente in die Oper auf: Volksliedhaftes, Jazz-Rhythmen, Gospelsongs. Im Unterschied zur Oper des 19. Jahrhunderts, in der die großen Arien eng verbunden sind mit den Entscheidungen und Handlungen der Hauptfiguren, haben die Lieder in Gershwins Oper, ähnlich wie in der Dreigroschenoper von Kurt Weill, die Aufgabe, eine Situation zu beschreiben und zu interpretieren, auch das Innere des Seelenzustands der Personen zum Ausdruck zu bringen. Die Handlung wird dagegen von den Sprechgesängen vorangetrieben. Das Augenmerk liegt nicht hauptsächlich auf der Entwicklung des individuellen Helden, sondern auf dem Zusammenspiel der Einzelschicksale mit dem Schicksal aller. Deshalb spielt der wunderbare Chor, den die Cape Town Opera aus Kapstadt mitgebracht hat, eine so große Rolle in dieser Oper! Selbst die Entscheidung von Porgy, nach New York zu gehen, ist nicht ein einsamer Entschluss, der mit einer großen Arie zum Ausdruck gebracht wird. Er fasst diesen Entschluss mitten unter den Slumbewohnern, die ihm ein Willkommensfest nach seiner Rückkehr aus dem Gefängnis bereiten und seine Entscheidung solidarisch mittragen. Seine Schlussarie "Oh Lawd, I’m on my way" wird vom Chor begleitet.

Warum berührt die Musik so sehr? Die Lieder und Sprechgesänge drücken das Gefühl der Vielen, statt der Einzelnen aus. Deshalb sind auch so viele Lieder dieser Oper in aller Ohren.

Gershwins Oper steht im Zusammenhang mit einem veränderten Musikverständnis zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts, als eine Vielzahl von Komponisten neue Wege ging. Die Abkehr von starren Regeln, die Vermischung der Stile und Einbeziehung von Volksmusikelementen kennzeichneten Werke von so unterschiedlichen Komponisten wie Mahler, Bartók, Ravel, Strawinsky, Schostakowitsch und allen voran Arnold Schönberg, der radikalste unter ihnen, der 1909 begann, die Zwölftonmusik zu entwickeln. Letzterer war zugleich ein Bewunderer von George Gershwin und hielt ihn für einen "jener seltenen Musiker, für die Musik nicht ein Produkt mehr oder weniger großer Geschicklichkeit ist", sondern "die Luft, die er atmete, die Speise, die ihn nährte, der Trank, der ihn erfrischte".

Porgy and Bess ist daher nicht nur eine typisch amerikanische Oper, die das Leben der schwarzen Bevölkerung in den USA und ihre musikalische Ausdrucksweise aufgreift, ebenso wenig wie Schostakowitschs Musik eine rein russische Angelegenheit ist. Die veränderten Wege in der Musik hingen eng mit den gesellschaftlichen Veränderungen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts zusammen, den Erschütterungen des Ersten Weltkriegs und der Russischen Revolution, dem Auftreten der Arbeiterbewegung und wachsenden Widerstand der Schwarzen und anderer Minderheiten. Ähnlich wie im Theater reflektiert die Musik dieser Zeit das Eingreifen der Massen ins gesellschaftliche Geschehen.

Die Renaissance von Porgy and Bess in Berlin kommt zur richtigen Zeit. Die Verschärfung der sozialen Krise und der Gegensätze zwischen Arm und Reich, die Diskriminierung von Immigranten und Flüchtlingen in jedem Land und die zunehmenden staatlichen Angriffe auf demokratische Rechte machen sie höchst aktuell. Auch viele der Besucher der Deutschen Oper, sicherlich nicht die Ärmsten, sind vom sozialen Abstieg betroffen.

Die vielfältigen Argumente, es gäbe kein Interesse mehr an Kunst, die sich mit sozialen Themen befasst und das Publikum suche nur nach kurzzeitiger Zerstreuung und leichter Kost, wurden durch den überwältigenden Applaus am Ende jeder Vorstellung widerlegt.

Vielleicht weist der große Erfolg von Porgy and Bess an der Deutschen Oper Berlin den Weg zu einer Neuorientierung in Künstlerkreisen - weg von der Phase des Nach-Innen-Gerichtetseins, der Konzentration auf das einzelne Individuum und hin zu einer Nach-Außen-Wendung zu gesellschaftlichen Problemen, nicht im Sinne politischer Deklamationen und nicht unter Missachtung individueller Schicksale, sondern lebendig und von großen menschlichen Gefühlen getragen. Zu begrüßen wäre es.

The Gershwins’ PORGY AND BESS

Deutsche Oper Berlin, 4. Juli - 1. August 2008

Das Orchester der Deutschen Oper Berlin

Cape Town Opera "Voice of the Nation" Chorus

Musikal. Ltg.: Willie Waters

Inszenierung: Angelo Gobbato

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