Dreizehn Monate nach seinem Sieg bei der Parlamentswahl, erklärte der belgische Premierminister Yves Leterme sich nicht mehr in der Lage, seine instabile Regierungskoalition weiterzuführen. Belgien steht vor dem Auseinanderbrechen. Ein Land im Herzen Europas, das seit 177 Jahren besteht, befindet im Auflösungsprozess.
Belgien ist "ein Land an Rande des Abgrunds" schreibt Le Soir. Die New York Times brachte einen Artikel über die zunehmenden Spannungen in Belgien mit der Überschrift "Flämischer Nationalismus nimmt zu. Belgien wankt am Abgrund."
Die Tageszeitung nannte Belgien "Europas erfolgreichsten gescheiterten Staat".
Dass ein "gescheiterter Staat" den Hauptsitz der Europäischen Union und der NATO beherbergt, wird den Verantwortlichen langsam schmerzhaft bewusst. In einem Artikel in der Financial Times im letzten Monat diskutierte Tony Barber die Vorstellung von einer "gütlichen Scheidung" zwischen den flämisch und den französisch sprechenden Teilen des Landes. Er sprach von der Hoffnung, "das Auseinanderbrechen des Staates könne friedlich und ohne wirtschaftliche Instabilität gemanagt werden. Aber mindestens, was die Wirtschaft betrifft, ist diese Aussicht wohl ein wenig zu hoffnungsvoll."
Er wies auf die Frage der belgischen Staatsverschuldung hin, die sich momentan auf 85 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). beläuft. Padhraic Garvey von der niederländischen Bank ING warnte: "Falls Belgien gespalten würde, gäbe es eine Riesendebatte darüber, wer die Schulden behält, mit den dazugehörigen Risiken für Zins- und Rückzahlungen."
Der Abstand zwischen belgischen und deutschen Regierungsanleihen wird immer größer. Eine andauernde Regierungskrise oder Schritte, das Land zu spalten, würden mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit ausländische Investoren abschrecken, die in der Wirtschaft eine große Rolle spielen. Zehn Prozent der belgischen Arbeitsplätze sind von ausländischen Investitionen abhängig.
Während Europa in die Rezession abgleitet, wird die Aussicht auf eine Spaltung Belgiens immer größer, da flämische Politiker aus dem Norden sich weigern, weiterhin sechs Mrd. Euro an die unterentwickelten Industriegebiete des französisch sprechenden Südens zu zahlen. Unsicherheit darüber, wie die Staatsschulden beglichen werden, ist in Zeiten der Rezession ein Alptraum für die Finanzwirtschaft.
Das jüngste Kapitel der belgischen Krise begann am 15. Juli, als Leterme zum dritten Mal seit seiner Wahl bei König Albert II. seinen Rücktritt einreichte.
Albert II. weigerte sich, den Rücktritt zu akzeptieren und berief eine 3-Personen-Kommission, die den Stillstand beenden sollte. Leterme, Chef der rechtsgerichteten Flämischen Christlichen Demokraten (CD&V) warb im letzten Jahr mit der Ausweitung der Autonomierechte für die großen belgischen Regionen.
Besonders die Ausweitung der regionalen Finanzautonomie des reicheren flämisch sprechenden Nordens des Landes wurde gefordert. Flandern erwirtschaftet 65 Prozent des nationalen BIP.
Die flämischen Nationalisten sind für die Abspaltung Flanderns von der ärmeren französisch sprechenden Wallonie im Süden des Landes. Die Arbeitslosigkeit in der Wallonie ist dreimal so hoch wie in Flandern. Während das flämische BIP pro Kopf 124 Prozent des europäischen Durchschnitts beträgt, liegt die Zahl in Wallonien bei 90 Prozent. Einige flämische Wirtschaftsvertreter werben für die Spaltung nach dem tschechischen Vorbild. Die flämischen Nationalisten wollen keine Sozialleistungen für den Süden bezahlen. Der rechtsextreme Vlaams Belang sagt, diese Sozialleistungen hätten die Wallonen "süchtig" nach Sozialhilfe gemacht. Ebenso umstritten ist die Hauptstadt Brüssel. In der Stadt wird französisch gesprochen aber sie ist von flämischen Provinzen umgeben.
Die (CD&V) gewann im Bunde mit den gemäßigten flämischen Nationalisten vom"Neuen Flämischen Bund" (NVA) die Wahlen und Leterme wurde mit der Regierungsbildung beauftragt. Verfassungsänderungen, die Leterme vorschlug, erforderten eine Zweidrittel-Mehrheit, die er nicht hat. Diskussionen über eine flämische Abspaltung verhinderten jede Regierungsbeteiligung der liberalen Wallonier (MR) und der christdemokratischen CDH. Gleichzeitig wurden die flämischen Nationalisten, einschließlich derer in Letermes eigener Partei, von seinen Vorschlägen und dem folgenden Chaos bei den Koalitionsverhandlungen gestärkt. Die Nationalisten verstärkten ihre Forderungen nach größerer Autonomie. Örtliche Auseinandersetzungen über den Umgang mit den Sprachen in einigen Vorstädten südlich von Brüssel eskalierten. Es geht um den Anschluss der Hauptstadt an die eine oder andere Sprach-Region.
Letermes Taktik war, die Probleme zurückzustellen und Streitfragen einer parlamentarischen Kommission zu unterbreiten. Als die parlamentarische Kommission scheiterte, bot Leterme seinen Rücktritt an. Für viele Kommentatoren war das der Beweis, dass diese Koalition nicht lebensfähig ist. Als Leterme seine Entlassung anbot, brachte er die Dinge auf den Punkt. Er erklärte: "Das Konsensmodell Bundesstaat ist an seine Grenzen gestoßen. Es scheint, dass die gegensätzlichen Visionen der Volksgruppen darüber, wie ein neues Gleichgewicht in unserem Staat hergestellt werden kann, nicht mehr miteinander vereinbar sind."
Der König akzeptierte Letermes Rücktritt nicht. Der konstitutionelle Monarch hat in viele politische Verhandlungen der letzten Zeit direkt eingegriffen. Er konsultierte regionale Führer und Gewerkschaftsvertreter, um zu einer Entscheidung zu kommen. Er bat Leterme um Weiterführung seines Amtes und benannte eine 3-Personen-Kommission, die "prüfen sollte, welche Sicherheiten geboten werden können, um einen sinnvollen institutionellen Dialog zu führen."
Es gibt keine Anzeichen, dass diese Kommission erfolgreicher sein wird als Leterme. Der "institutionelle Dialog" ist ein weiterer Versuch, eine Verfassungsreform der Regionen zu bewerkstelligen, die gerade der Grund für die Eskalation des Konflikts ist.
Die flämischen Nationalisten werden wohl kaum von ihren Forderungen abrücken. Vlaams Belang (VB) wurde gegründet, nachdem sein Vorgänger, der Vlaams Blok vom Berufungsgericht in Gent wegen wiederholter Anstiftung zur Diskriminierung verurteilt worden war. Die Namensänderung hat nicht dazu beigetragen, seine rechtsgerichtete rassistische Plattform zu verändern.
Regionale Autonomieregelungen und die dazugehörende Verbreitung von Chauvinismus erleichterten es Vlaams Belang, Teil des Mainstreams der regionalen flämischen Politik zu werden. Er diktiert inzwischen den anderen flämischen Parteien die Agenda.
In der Vergangenheit riefen vor allem flämische Politiker nach Unabhängigkeit. Jedoch schlägt nun auch eine zunehmende Anzahl von wallonischen Politikern vor, das Land zu teilen. Die letzten Meinungsumfragen zeigen, dass knapp die Hälfte der Wallonen eine Fusion mit Frankreich akzeptieren würde, wenn Belgien zerbräche.
Es ist sogar schon von einem Korridor zum Süden für die französisch-sprachigen Brüsseler die Rede, als ob die Hauptstadt wie Berlin im Kalten Krieg blockiert werden könnte. Die Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo durch die USA und einige EU-Staaten hat einen Präzedenzfall geschaffen.
Die Medienkommentatoren beginnen das Auseinanderbrechen Belgiens zunehmend für unvermeidbar zu halten. Die Arbeiter können es sich jedoch nicht leisten, diesem sich in Zeitlupe anbahnenden Frontalzusammenstoß tatenlos zuzusehen. Das Leben ging in diesem Jahr in Belgien vor allem deswegen noch wie gewöhnlich weiter, weil schon sehr viel Macht an die Regionen übertragen worden ist. Und was noch nicht übertragen wurde, wird größtenteils von der EU geregelt.
Die Zentralregierung ist für kaum mehr verantwortlich, als die Sozialhilfezahlungen. Deswegen ist dies auch einer der größten Streitpunkte zwischen den verfeindeten Parteien.
Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass die französische Regierung sich bereit erklärt, Geld für die arbeitslosen Arbeiter der daniederliegenden Stahlstädte wie Charleroi bereitzustellen, falls die Region Wallonien für den Anschluss an Frankreich stimmt. Frankreich hat genügend eigene von Depression gezeichnete Regionen. Eine gemeinsame Sprache ist noch keine Basis für gemeinsame Interessen.
Das mögliche Auseinanderbrechen Belgiens bringt wichtige historische Fragen auf. Dieser Staat war mit einer bestimmten Absicht gegründet worden. Er war als Pufferstaat in einer Region konzipiert, die als das Schlachtfeld Europas bekannt war. Schon vor den beiden Weltkriegen, die auf seinem Gebiet ausgekämpft wurden, war Belgien seit seiner Entstehung 1831 der Kampfplatz Europas.
Die Pufferstaaten Osteuropas, die zwischen den Westmächten und der Sowjetunion lagen, sind uns geläufig. Ihre Integration in die EU kam ohne militärischen Konflikt zustande, jedoch nicht ohne massive erbitterte Spannungen zwischen Russland und den USA und ihren neuen Verbündeten. Das letzte Wort über die Auswirkungen dieses Konflikts ist noch nicht gesprochen. Trotz der tschechischen "einvernehmlichen Trennung" gibt es nur eine geringe Chance für eine "Pralinen-Scheidung" für Belgien.
Nichts in der Geschichte oder im Aufbau Belgiens immunisiert das Land vor dem Anwachsen von so groteskem Nationalchauvinismus, Rassismus und sogar solchen ethnischen Konflikten, wie sie beim Auseinanderbrechen Jugoslawiens entstanden. Dies trifft besonders auf Zeiten einer schlechter werdenden wirtschaftlichen Lage zu, in der die Parteien der Herrschenden ein besonderes Interesse haben, die übelsten nationalen Spaltungen zu schüren.
Arbeiter müssen eine unabhängige Haltung zu den Vorgängen in Belgien einnehmen. Sie müssen ihre eigenen Klasseninteressen verteidigen und nicht die Interessen der selbstsüchtigen Cliquen nationaler Politiker, für die Autonomie und schließlich Unabhängigkeit ein Weg zu Macht und Reichtum nur für sie selbst sind.
Es sind auch nicht nur belgische Arbeiter betroffen. Ein Auseinanderbrechen Belgiens hätte Auswirkungen auf ganz Europa. Dort erheben zahlreiche Eliten Anspruch darauf, die Interessen unterschiedlichster ethnischer, religiöser und sprachlicher Gruppen zu vertreten. In Spanien, Italien, Schottland und Frankreich gibt es unzählige bürgerliche und kleinbürgerliche Politiker, die sich nur zu gern zu Führern von Mini-Staaten machen würden, mit direktem Zugang zu EU-Fonds und globalen Investoren.
Ein Auseinanderbrechen Belgiens würde ihnen Rückenwind geben und zu mehr Aufspaltungen lange bestehender Staaten führen. In jedem Fall stachelt nationaler Separatismus zu Rassismus und Chauvinismus an und spaltet die Arbeiter.
Die Balkanisierung Europas in immer kleinere rivalisierende Staaten bietet keine Aussicht auf Frieden und Stabilität und muss abgelehnt werden. Das bevorstehende Auseinanderbrechen eines Landes wie Belgien sollte aber als Warnung dienen, dass nicht einmal fest etablierte Nationalstaaten arbeitenden Menschen eine sichere Zukunft bieten können.
Die Arbeiterklasse ist seit ihrer Entstehung eine internationale Klasse und ihr Interesse besteht darin, das kapitalistische System zu überwinden und die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa zu schaffen. Nur ein solcher staatlicher Zusammenschluss, in dem das wirtschaftliche und soziale Leben unter der demokratischen Kontrolle der Arbeitsklasse steht, kann die Basis für eine harmonische Entwicklung und Nutzung der Reichtümer Europas zum Wohl für alle bilden.
