Ein internationales Lied

La Paloma. Ein Dokumentarfilm von Sigrid Faltin

Wer den Film nicht gesehen hat, wird es nicht wissen: Der Song La Paloma (die Taube) ist das meistinterpretierte Lied weltweit. Der Münchner DJ und Klangkünstler Kalle Laar kennt 2000 Versionen. Er vermutet, dass es mindestens doppelt so viele Aufnahmen gibt, höchst unterschiedlicher Art, wie die von Interpreten aus Haiti, die es auf traditionellen Glocken spielen bis hin zu Elvis Presleys schmachtendem "No more". Die Filmemacherin Sigrid Faltin verfolgt einige Spuren des Lieds um die halbe Welt, begibt sich nach Kuba, Mexiko, Tansania, Hawaii, Rumänien, Deutschland, Spanien.

Havanna: Ein alter Spielautomat, erbaut im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, wird in Bewegung gesetzt. Es erklingt La Paloma. Vom kubanischen Musiker und Musikforscher Helio Orovio erfahren wir: Das Lied ist zirka 150 Jahre alt. Der spanische Komponist Sebastián de Iradier (1809-1865) hat es geschrieben, der übrigens auch die berühmte Habanera 1863 komponierte, die wir aus Bizets Oper Carmen kennen.

Im ursprünglichen spanischen Text von La Paloma nimmt ein Mann in Havanna Abschied von seiner mexikanischen Geliebten. Abschied von Mexiko nahm 1867 auch der letzte, von Napoleon dem Dritten eingesetzte mexikanische Kaiser Maximilian (aus dem Habsburger Hause). Er wurde von der republikanischen Opposition unter Benito Juárez gestürzt und hingerichtet. La Paloma war unter Konservativen und Liberalen gleichermaßen beliebt, so die Romanistin Susanne Igler. Jene besangen die "Taube", die auch Kaiserin Carlota zu Tränen rührte, und letztere verspotteten in einer Umdichtung den "österreichischen Esel". Die mexikanische Sängerin Eugenia León geißelt aus dieser Tradition heraus heutige politische Missstände.

Durch mexikanische Cowboys, die König Kamehameha III anheuerte, um sein Reich von einer Rinderplage zu befreien, sei das Lied mitsamt der dort vorher unbekannten Gitarre nach Hawaii gekommen. So erzählt es der Musiker Harry Koizumi. Und: Nach der Tradition soll man La Paloma so spielen, dass die Zuhörer quasi harmonisch in den Schlaf gewiegt werden. Im rumänischen Banat mit seiner deutschsprachigen Minderheit, spielt eine traditionelle Blaskapelle La Paloma am Ende einer Beerdigung. Auf Sansibar dagegen erklingt das Lied am Ende einer Hochzeit.

Warum spricht das Lied so viele Menschen an? Die Taube sei ein Symbol für Freiheit, sagt Helio Orovio, es geht um Sehnsucht und Abschied, das kenne jeder, meinen andere. "Es ist ein Lied der Versöhnung, deshalb mag ich es", so Makame Faki, Sänger und Plattenhändler auf Sansibar.

Nach dem Zweiten Weltkrieg haftete dem Lied in Deutschland, besonders unter linken Intellektuellen, immer etwas Zwiespältiges an. Stand es, abgesehen von der gnadenlosen Kommerzialisierung (wer kennt nicht die schwulstigen Interpretationen von Freddy Quinn), nicht für den konservativen Muff der Adenauer-Zeit mit seiner unbewältigten Nazivergangenheit? War es, gesungen von Hans Albers im Film Große Freiheit Nr. 7, blond, blauäugig und bierselig, nicht gar das sentimentale Lied einer Mitläufergeneration? In einer Zeile des vom Regisseur Helmut Käutner umgedichteten Textes heißt es jedoch: "... einmal wird es vorbei sein." Die Nazis verboten den Film. Sie kannten die zunehmend ablehnende Haltung der einfachen Bevölkerung gegenüber dem Krieg und ihre Sehnsucht nach dem Ende der Naziherrschaft. Als erster deutscher Nachkriegsfilm wurde der Film ein Renner.

Kalle Laar rätselt über die Popularität der Melodie, die so viele Sehnsüchte in sich vereinigen kann. Würde er das Geheimnis kennen, könnte er viele solche Lieder schreiben und viel Geld verdienen. Ein Akkordeonspieler aus Hamburg meint gar, es steckt "alles, was das Leben ausmacht" in dieser Melodie.

An dem Lied selbst ist nichts Spektakuläres, man kann lediglich den langen Atem der Melodie feststellen und ihre locker schwebenden rhythmischen Figuren dazwischen. Dazu kommt der Habanera-Rhythmus, der sich je nach Temperament streng oder nachlässig spielen lässt. Die Harmonik ist einfach. "Die einfachste Melodie überdauert manchmal ganz schön lange", so Harry Koizumi. Ist der Erfolg der Melodie letztlich ihrer Banalität zu verdanken?

Man kann La Paloma mögen oder nicht. Sicher ist: Die ungebrochene Fähigkeit des Liedes, überall auf der Welt Sehnsucht nach Harmonie auszustrahlen, lässt sich nicht allein auf die Macht der profitorientierten Musikindustrie zurückzuführen, auch wenn diese natürlich bestimmt, was verbreitet wird und was nicht. Die weltweite Sehnsucht nach Harmonie hat auch mit sozialer Realität zu tun, die wenig Harmonie zu bieten hat. Und es ist sicher kein Zufall, dass La Paloma 2003 nach einer BILD -Umfrage gerade in Deutschland mit seinen speziellen gesellschaftlichen Erfahrungen und politischen Enttäuschungen von vielen einfachen Menschen zum Jahrhundertlied gewählt wurde.

Gleichzeitig ist die große Ausstrahlung des Liedes Ergebnis einer zunehmend weltweiten kulturellen Integration. Ähnliches könnte man über Yesterday der Beatles, über das bis Asien bekannte deutsche Weihnachtslied Stille Nacht oder das bekannte Lied Lili Marleen sagen. Das bedeutet, dass wir heute in einer grundlegenden Art gleich denken und fühlen, und sich in diesem Sinne auch Musik zu einer universellen Sprache entwickelt, die überall verstanden wird, so wie man überall in Züge oder Autos steigt, Radio hört, Bücher und Zeitungen liest und Kinder zur Schule schickt, wenn die Armut das nicht verhindert.

Dies ist das Ergebnis umwälzender technologischer Entwicklungen in den letzten 150 Jahren, die die Gesellschaft und das Bewusstsein über sie verändert haben. Vieles davon, von der Eisenbahn bis zum Flugzeug, die Elektrizität, die Schallplatte, das Radio, die Verbreitung bestimmter Musikinstrumente, nicht zuletzt der Einfluss des Films und des Internets haben die Voraussetzungen für ein tieferes kulturelles Zusammenwachsen der Welt geschaffen. Sie gehören bereits zur Realität. Von vielen Alltagserfindungen, die sich rasch international verbreiten, wissen die meisten Menschen sicher nicht, woher sie ursprünglich herkommen.

Man kennt die Melodie von La Paloma in der Türkei, in Frankreich, auf Haiti und in der Ukraine. In Afghanistan wurde sie in den 70ern, einer Zeit demokratischer Hoffnungen, ein Hit. Oft wird La Paloma in anderen Ländern, manchmal unter einem anderen Titel, für ein einheimisches Lied gehalten. Ein Taxifahrer verrät, es sei ein altes sansibarisches Volkslied, während Orovio vermutet, Iradier hätte das Lied in Havanna komponiert. Eine Mexikanerin erklärt es für mexikanisch. In Tschechien kennt man es als einheimisches Volkslied. Marianita Morecon singt das Lied in einer Bar Havannas, wenn Spanier kommen: "Und ob Sie’s glauben oder nicht: die wissen nicht, dass der Komponist Spanier war."

Die Regisseurin scheint selbst überrascht über das Ergebnis ihrer Recherchen, das so im Gegensatz steht zum heutigen Aufbrechen von nationalistischen Kriegen, sozialer, kultureller und religiöser Diskriminierung. Sie vermittelt eine ansteckende Begeisterung darüber, "dass dieses Lied überall zu Hause ist." "Was mich fasziniert", so die Regisseurin: "In jedem Land, wo wir waren, wurde La Paloma Teil der dortigen Kultur. Es gibt etwas, was uns jenseits unserer Religion und Hautfarbe verbindet: diese Melodie. Ein wunderbares Beispiel, wie wir uns die Globalisierung wünschen ..."

Der Film behauptet nicht, dass Musik die politischen Probleme des Nationalismus löst. Der deutsche Jazzmusiker Coco Schumann erinnert daran, wie die Nazis die Melodie von La Paloma zynisch benutzten. Er musste es in Auschwitz spielen, während jüdische Kinder ins Gas gingen.

Aber Faltins Dokumentation wirkt ermutigend. Sie zeigt etwas von der objektiven Grundlage des Internationalismus.

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