USA nutzen Georgien-Krise, um Raketen-Deal mit Polen durchzudrücken

Das am Mittwoch von US-Außenministerin Condoleezza Rice und dem polnischen Außenminister Radoslaw Sikorski unterzeichnete Abkommen zur Stationierung einer Raketenabwehr auf polnischem Boden markiert einen wichtigen Wendepunkt in den internationalen politischen Beziehungen.

Das Abkommen erlaubt den USA, im Herzen Europas ein neues Raketensystem zu installieren. Zusätzlich wird Polen 96 Patriot-Abwehrraketen erhalten, es werden dauerhaft amerikanische Truppen in Polen stationiert und, was das Wichtigste ist, Washington verpflichtet sich, das Land auch unabhängig von der NATO zu verteidigen.

Von Anfang an hat die US-Regierung betont, das Raketenabwehrsystem in Polen und Tschechien sei strikt defensiv ausgerichtet. Die Umstände, unter denen das Abkommen vergangene Woche - nach achtzehn Monaten harter Verhandlungen zwischen Washington und Warschau - eilig verabschiedet wurde, belegen das Gegenteil: Das Raketensystem hat einen offensiven Charakter und ist gegen Russland gerichtet.

Das von Rice und Sikorski unterzeichnete Abkommen steigert bedrohlich die Möglichkeit einer Konfrontation zwischen den beiden Ländern mit den weltweit größten Atomwaffenarsenalen: Russland und den USA. Das Hauptschlachtfeld wäre Zentraleuropa.

Warschau und Washington leugnen gemeinsam, dass das vergangene Woche zum Abschluss gebrachte Abkommen etwas mit dem Konflikt zwischen Georgien und Russland zu tun habe. US-Chefunterhändler John Rood sagte vergangenen Donnerstag nach Abschluss der Verhandlungen: "Dies hat nichts mit der Situation in Georgien zu tun."

In Washington versicherte die Sprecherin des Weißen Hauses, Dana Perino, den Journalisten, das Timing des Vertragsabschlusses sei keineswegs darauf ausgelegt, Moskau zusätzlich vor den Kopf zu stoßen. "In keiner Weise sind die Raketenabwehrpläne des Präsidenten gegen Russland gerichtet", sagte sie. "Der Zweck der Abwehrraketen besteht darin, unsere europäischen Verbündeten vor Bedrohungen durch Schurkenstaaten zu schützen."

Kurz vor der Vertragsunterzeichnung bekräftigte Rice noch einmal, dass das System gegen Bedrohungen aus dem Iran und Nordkorea gerichtet sei: "Es richtet sich in keiner Weise gegen Russland", sagte sie vor Reportern. Nach der Vertragsunterzeichnung am Mittwoch erklärte der polnische Präsident Lech Kaczynski, der Raketenschild sei rein defensiv und stelle keine Bedrohung für die Nachbarn Polens dar.

Keine dieser Aussagen ist glaubwürdig.

Der Vertrag zwischen der polnischen und der russischen Regierung wurde vergangenen Donnerstag geschlossen, nur wenige Tage nach Ausbruch der Feindseligkeiten in Georgien. In der darauf folgenden, konzertierten anti-russischen Kampagne spielte der polnische Präsident eine führende Rolle. Nur zwei Tage vor Abschluss der Raketenverhandlungen war Kaczynski gemeinsam mit dem georgischen Präsidenten Saakaschwili auf einer anti-russischen Kundgebung in Tiflis aufgetreten, auf der er verkündet hatte: "Wir sind hier, um den Kampf [gegen Russland] aufzunehmen."

Die konservative polnische Tageszeitung Gazeta Wyborcza, die das Raketensystem begrüßt, wies offen auf den direkten Zusammenhang zwischen dem Abkommen und dem Konflikt im Kaukasus hin: "Entgegen der offiziellen Version von Ministerpräsident Tusk und des US-Außenministeriums spielte der Krieg in Georgien eine entscheidende Rolle bei der Beschleunigung der polnisch-amerikanischen Vertragsverhandlungen über die Abwehrraketen. Der Krieg war der letzte Anstoß für Tusk, seine Zustimmung zu dem Abkommen zu geben."

Donald Tusk hat selbst klar gemacht, dass die amerikanische Verpflichtung, Warschau im Fall einer russischen Aggression beizustehen, für seine Zustimmung zu dem Abkommen entscheidend war. Tusk erklärte, er habe der Aufstellung der US-Abwehrraketen nur unter der Bedingung zugestimmt, dass die USA die polnische Verteidigung mit Patriot-Raketen verstärken, die eine Bedrohung aus Russland abwehren sollen. Ministerpräsident Tusk und Außenminister Sikorski, die anfänglich als umgänglichere Alternative zu dem fanatisch nationalistischen Ex-Ministerpräsidenten Jaroslaw Kaczynski gesehen wurden, erweisen sich heute als Politiker vom gleichen Schrot und Korn.

Wachsende Gefahr nuklearer Konfrontation

Die zehn Abfangraketen sollen in Polen nur 180 km von der russischen Westgrenze entfernt stationiert werden. Das amerikanische Außenministerium hat immer betont, dass sie mögliche Raketenangriffe aus sogenannten "Schurkenstaaten", wie dem Iran oder Nordkorea, abwehren sollen. Mit Prag hat Washington schon ein Abkommen über den Bau der zweiten Komponente des Systems, einer Radarstation in Tschechien, geschlossen.

Die Behauptungen der USA, das Raketensystem sei gegen den Iran gerichtet, wurden kürzlich in einem Artikel der Blätter für deutsche und internationale Politik widerlegt, einer bekannten deutschen Zeitschrift für außenpolitische Analysen.

Der Autor Hauke Ritz betont in einem Abschnitt seines Artikels "Die strategische Logik des Abwehrschilds", dass das in Polen und Tschechien stationierte System "keineswegs gegen iranische Raketen gerichtet ist".

Ritz weist darauf hin, dass der Iran überhaupt keine Raketen mit einer Reichweite besitze, die Europa erreichen könnten, und dass es lange dauern würde, solche zu entwickeln und zu bauen. "Sollte der Raketenschild tatsächlich der Abwehr iranischer Raketen dienen, so wäre der russische Kompromissvorschlag, ein gemeinsames Abfangsystem in Aserbaidschan zu errichten, weit besser dafür geeignet. Denn dort stationierte Abfangraketen könnten iranische Raketen bereits am Beginn ihrer Flugbahn treffen und zerstören."

Der Autor schlussfolgert: "Dass die USA diesen Kompromissvorschlag ausgeschlagen haben, lässt nur einen Schluss zu: Der Raketenschild richtet sich in erster Linie nicht gegen den Iran, sondern gegen Russland. Dies wird auch dadurch unterstrichen, dass die anderen Basen des Raketenschildes ebenfalls in Grenzregionen zu Russland, wie beispielsweise Alaska, stationiert sind."

In seiner Analyse der Rolle des Raketenabwehrsystems arbeitet der Artikel heraus, dass dieses nicht als Abschreckung eines Atomangriffs dient, gemäß der Philosophie des Kalten Kriegs der "wechselseitigen sicheren Vernichtung" (MAD), sondern als wesentliches Element einer amerikanischen Erstschlag-Strategie.

"Die strategische Bedeutung des Systems besteht darin, jene paar Dutzend Raketen abzufangen, die Moskau nach einem amerikanischen Überraschungsangriff noch für einen Zweitschlag zur Verfügung stünden. Der Raketenschild ist also ein entscheidender Faktor in dem Bemühen, eine nukleare Erstschlagkapazität gegenüber Russland aufzubauen. Zwar ist zunächst geplant, nur zehn Abfangraketen in Polen zu stationieren. Doch sofern das System erst einmal errichtet ist, könnte deren Zahl leicht erhöht werden."

Schließlich bezieht sich der Autor noch auf einen Artikel im amerikanischen Magazin Foreign Affairs von 2006 mit dem Titel "Die nukleare Überlegenheit der USA nimmt Form an". In diesem Artikel wird argumentiert, dass die USA gegenwärtig deutlich im Vorteil für die Führung eines Atomkriegs seien. Ritz schreibt: "Dieser Artikel führt einem vor Augen, worin die wirkliche Funktion des Raketenschilds besteht: Er soll den USA die Fähigkeit sichern, einen Atomkrieg zu führen, ohne selbst von Gegenschlägen getroffen zu werden. Wäre diese Fähigkeit erst einmal erworben, so ließe sie sich als geopolitisches Druckmittel einsetzen, um nationale Interessen durchzusetzen."

Ritz analysiert das Raketenabwehrsystem als entscheidende Komponente einer Erstschlagstrategie und weist auf die enorme und wachsende Gefahr hin, dass der Konflikt zwischen den USA und Russland schärfer wird und zu einem nuklearen Schlagabtausch führen könnte.

Führende russische Militärs und Politiker haben erbost auf das Raketenabkommen reagiert. Vergangenen Freitag nannte Vizegeneralstabschef Anatoli Nogowizyn das Abkommen eine Aggression gegen Russland und warnte Polen davor, sich einem Gegenschlag auszusetzen -möglicherweise sogar einem Nuklearschlag. "Durch die Stationierung setzt sich Polen ganz klar einem Gegenschlag aus", sagte er.

Am Freitag wiederholte der russische Präsident Dmitri Medwedew gegenüber Kanzlerin Angela Merkel den Vorwurf, die Raketen in Polen seien "gegen die russische Föderation gerichtet".

Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion Anfang der 1990er Jahre versucht Washington systematisch auf des Gebiet der ehemaligen Sowjetunion vorzudringen und eine Reihe von Militärstützpunkten und US-freundlichen Regierungen zu installieren. Das Ziel dieser Politik ist die Schwächung des russischen Einflusses im ölreichen Zentralasien und die Schwächung und Spaltung Europas.

Die Interventionen Washingtons im ehemaligen Sowjetblock ließen autoritäre Regimes ohne breite Basis in der Bevölkerung entstehen. Das Regime von Saakaschwili in Georgien oder das von Viktor Juschtschenko in der Ukraine, sowie die Regierung in Polen, sind Beispiele dafür. An diesen Regierungen fällt besonders ihr wüster Anti-Kommunismus auf, ihr Nationalchauvinismus, ihre Verachtung für wirklich demokratische Verfahrensweisen und eine sklavische Übernahme der Rezepte der freien Marktwirtschaft.

Solche Regimes sind per se unstabil, sowohl innenpolitisch als auch im Verhältnis zu ihren Nachbarn. Jetzt hat die US-Regierung der Installierung neuer Waffensysteme in Polen zugestimmt, die sich gegen seinen größten Nachbarn richten. Gleichzeitig garantiert sie der polnischen Regierung nötigenfalls militärischen Beistand. Das ist das Rezept für neue Konflikte und Kriege. Nichts könnte die völlige Verantwortungslosigkeit der amerikanischen Außenpolitik deutlicher zum Ausdruck bringen.

Die dramatische Zunahme der Spannungen in Osteuropa erinnert unheimlich an die Zeit vor dem zweiten Weltkrieg. Während der gesamten 1930er Jahre beteuerte Adolf Hitler fortwährend seinen Friedenswillen und beging gleichzeitig eine Provokation nach der anderen als Bestandteil seines Plans, Europa im deutschen Interesse neu zu ordnen. Der Weltkrieg, der schließlich mehr als 70 Millionen Menschenleben forderte, brach dann im September 1939 in Polen aus.

Vor ihrer Abreise nach Brüssel zum Außenministertreffen der NATO am Dienstag hob US-Außenministerin Condoleezza Rice drohend den Zeigefinger und warnte, Russland spiele in Georgien "ein gefährliches Spiel". Die USA und die NATO würden Russland nicht erlauben, eine "neue Linie" durch Europa zu ziehen.

Nach dem Gipfel griff Rice am Dienstag das Thema noch einmal auf und erklärte unter Bezug auf Russlands Militärpräsenz in Georgien, es werde keine neue Linie geben "zwischen denen, die in der atlantischen Struktur sein wollen, und denen außerhalb".

Solche Äußerungen sind völlig heuchlerisch. Russlands Eingreifen in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion in den letzten zwanzig Jahren - wie bei dem brutalen Krieg in Tschetschenien - war reaktionär und muss verurteilt werden. Aber es kann nicht den geringsten Zweifel geben, dass in erster Linie die USA daran arbeiten, neue Machtblöcke und Einflusssphären in der Region zu schaffen. Das ist die Bedeutung des Netzes von militärischen Stützpunkten und Einrichtungen, die alle US-Regierungen seit 1991 in Ost- und Zentraleuropa mit dem Ziel aufgebaut haben, Russland einzukreisen.

Vor allem Rice’ Kollege, Ex-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, wollte 2003 eine neue Trennlinie zwischen dem "alten" und dem "neuen" Europa ziehen. Sein Kriterium richtete sich danach, welche europäischen Länder bereit waren, den US-Krieg im Irak zu unterstützen, und welche nicht. Jetzt, bei dem Raketenabkommen mit Polen, haben die USA einer Klausel zugestimmt, die die traditionellen Strukturen der NATO aushebelt, um Washingtons einseitig militaristischer Politik in der Region zu dienen.

Das immer aggressivere Vordringen der USA nach Zentral- und Osteuropa alarmiert Paris, Berlin und Rom. Gleichzeitig aber ist Washington nur deswegen in der Lage, seine rücksichtslose Strategie in dieser Weise zu verfolgen, weil die europäische Bourgeoisie feige zuschaut, wie sich die Spannungen auf dem Kontinent bis zum Siedepunkt aufheizen, und nicht bereit ist, der US-Regierung in den Arm zu fallen.

Siehe auch:
NATO-Konferenz in Brüssel: USA erhöhen Druck auf Russland
(21. August 2008)
EU-Treffen zu Georgien von Spannungen zwischen Europa und USA geprägt
( 16. August 2008)
Bush bei NATO-Gipfel ausgebremst
( 5. April 2008)
Bush verschärft Konfrontation mit Russland
( 13. August 2008)
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