70 Jahre Vierte Internationale

Der Zusammenbruch des Kapitalismus und die revolutionäre Perspektive der Vierten Internationale

Teil 4

Dies ist der vierte und letzte Teil eines Vortrags, den Nick Beams am 28. September auf einer öffentlichen Veranstaltung in Sydney hielt. Der Anlass war der 70. Jahrestag der Gründung der Vierten Internationale. Beams gehört der internationalen Redaktion der WSWS an und ist Nationaler Sekretär der australischen Socialist Equality Party. Die Teile eins bis drei erschienen am 18., 21. und 23. Oktober.

Die aktuelle Krise zeigt in aller Schärfe die politischen Grundfragen, mit denen die Arbeiterklasse jetzt konfrontiert ist. Welcher Plan und welches Programm, kann im Interesse der Weltbevölkerung die Katastrophe abwenden, die nun die gesamte Kultur der Menschheit durch wirtschaftliches Chaos, Kriegsgefahr und die Vertiefung der Umweltkrise bedroht? Und was für eine politische Partei muss aufgebaut werden, um es zu verwirklichen? Das sind die brennenden Fragen unserer Tage.

Als Trotzki 1938 die Perspektive der Vierten Internationale ausarbeitete, bezeichnete er sie als Weltpartei der Sozialistischen Revolution. Das entsprach ihrem Charakter und ihren Aufgaben. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Jahr 1914 hatte das Ende aller national beschränkten Programme und Perspektiven gekennzeichnet.

Die Weltpartei, erklärte Trotzki, verkörpere ein Programm, ein dichtes System von Ideen, die ihre grundlegenden Aufgaben festlegen. Ein Programm bestehe nicht nur aus politischen Sofortmaßnahmen und Forderungen, sondern basiere auf einer Einschätzung der historischen und strategischen Erfahrungen der internationalen Arbeiterklasse. Nur auf dieser Grundlage sei es möglich, eine revolutionäre Führung auszubilden. Nicht die Partei mache das Programm, sondern das Programm baue die Partei auf.

Gegen diese Auffassung wandten sich zur damaligen Zeit alle zentristischen Strömungen und Organisationen - von denen viele größer waren als die Sektionen der Vierten Internationale. Sie behaupteten, es sei dogmatisch und sektiererisch, auf den Lehren der Geschichte und auf Grundsätzen zu bestehen. Man müsse alle oppositionellen Tendenzen und Gruppierungen zusammen bringen, um eine neue und breit angelegte Organisation zu schaffen. Doch die folgenden Ereignisse bestätigten Trotzkis Perspektive. Nicht eine dieser anderen Parteien überlebte den Zweiten Weltkrieg.

Die Nachkriegsperiode brachte neue Probleme und Herausforderungen für die Vierte Internationale. Die Stabilisierung der bürgerlichen Ordnung, möglich gemacht durch den Verrat der stalinistischen Parteien, und die wirtschaftliche Wiederbelebung schienen die Perspektive der Vierten Internationale zu widerlegen. Die Eroberungen der stalinistischen Bürokratie in Osteuropa und der Sieg der chinesischen und jugoslawischen Revolution schienen die These zu widerlegen, dass der Sozialismus nur durch den Aufbau der Vierten Internationale als neue revolutionäre Führung in der Arbeiterklasse errungen werden könne.

Die neue Lage setzte die Vierten Internationale unter starken politischen Druck. Dieser Druck äußerte sich in verschiedenen revisionistischen Theorien, laut denen die stalinistischen und sozialdemokratischen Bürokratien sowie kleinbürgerliche und bürgerlich-nationalistische Bewegungen dem Sozialismus nicht im Wege standen, sondern unter dem Druck der Massen zu Werkzeugen für seine Verwirklichung wurden. Als erstes wurde diese revisionistische Perspektive von den beiden prominentesten europäischen Führern der Vierten Internationale nach dem Krieg - Michel Pablo und Ernest Mandel - formuliert.

In dem 1951 veröffentlichten Dokument "Wohin gehen wir?" schrieb Pablo: "Die gesellschaftliche Wirklichkeit besteht für unsere Bewegung im Wesentlichen aus der kapitalistischen Herrschaft und der stalinistischen Welt. Ob es uns gefällt oder nicht, bilden diese beiden Elemente darüber hinaus im Großen und Ganzen die gesellschaftliche Realität, denn die überwältigende Mehrheit der antikapitalistischen Kräfte befindet sich zur Zeit unter der Führung oder dem Einfluss der sowjetischen Bürokratie."

Dieser Absatz fasst die auf oberflächlichen Eindrücken basierende Methode zusammen, die später zum Zentrum der revisionistischen Nachkriegsanschauung wurde. Die Welt war danach aufgeteilt zwischen den Vereinigten Staaten und ihren Alliierten auf der einen Seite, und der sowjetischen Bürokratie auf der anderen. Die Arbeiterklasse hatte keine unabhängige Rolle zu spielen, und damit konsequenterweise auch nicht die Vierte Internationale. Diese war reduziert auf die Rolle einer Art Protestgruppe, die innerhalb der großen Bürokratien agierte, die die Arbeiterklasse dominierten.

Auf dem Dritten Kongress der Vierten Internationale 1951 sprach Pablo die Konsequenzen seiner neuen Anschauung offen aus: Es sei notwendig, alle Fragen der Unabhängigkeit der Vierten Internationale deren "wirklichen Integration in die Massenbewegung" unterzuordnen. Dies bedeutete die Auflösung der Vierten Internationale.

Diese Perspektive veranlasste den Führer der Socialist Workers Party (SWP), der trotzkistischen Partei in den USA, James P. Cannon, einen Offenen Brief an die Vierte Internationale zu verfassen. Der Offene Brief unterstrich die Grundsätze, auf die sich die Vierte Internationale bei ihrer Gründung 1938 gestützt hatte. Das führte 1953 zur Gründung des Internationalen Komitees der Vierten Internationale.

In einem Brief, geschrieben im März 1954, fasste Cannon die Fragen zusammen, die in der Spaltung aufgekommenen waren. Er betonte, dass Lenins und Trotzkis Theorie der revolutionären Partei und deren Rolle als Führung des revolutionären Kampfes allen anderen Theorien übergeordnet sei. Wer behaupte, die sozialistische Umwandlung könne irgendwie halbautomatisch geschehen, verwerfe den Marxismus.

"Nein, sie kann nur ein bewusstes Handeln sein, und sie erfordert unabdingbar die Leitung durch eine marxistische Partei, die das bewussteste Element im historischen Prozess bildet, Keine andere Partei wird dazu ausreichen. Keine andere Strömung in der Arbeiterbewegung wird das erreichen können. Aus diesem Grunde ist unsere Haltung allen anderen Parteien gegenüber feindlich."

Das Internationale Komitee der Vierten Internationale

Die Gründung des Internationalen Komitees der Vierten Internationale markierte 1953 den Ausgangspunkt eines langen Kampfs gegen den Opportunismus innerhalb der Vierten Internationale. 1963 fand die Wiedervereinigung der SWP mit den Pablisten statt, ohne dass die ungelösten Fragen, die die Bewegung gespalten hatten, zuvor geklärt worden waren. Die Wiedervereinigung basierte auf einer gemeinsamen Einschätzung der Ereignisse in Kuba: Castros kleinbürgerlich nationalistische Bewegung habe einen Arbeiterstaat geschaffen und Castro selbst sei zu einem "unbewussten Marxisten" geworden. Alle Fragen von 1953 tauchten in anderer Form wieder auf. Wenn in Cuba der Sozialismus von kleinbürgerlichen Nationalisten unter Castros Führung geschaffen werden konnte, wozu war die Vierte Internationale dann überhaupt noch nötig?

Der wirkliche Charakter des kubanischen Regimes wurde auch deutlich, als Che Guevara - die Ikone des revolutionären Kampfs für alle kleinbürgerlichen Radikalen - Ramon Mercader, den Mörder Leo Trotzkis, herzlich in Kuba empfing, als dieser nach seiner Haftentlassung in Mexiko dort hin reiste.

Die britischen Trotzkisten Healy, Banda und Slaughter spielten die führende Rolle bei der Zurückweisung der liquidatorischen Perspektive der SWP. Sie intensivierten den Kampf gegen den Pablismus. Ihr Standpunkt bestätigte sich 1964, als die LSSP, die srilankische Sektion der pablistischen Bewegung, in die bürgerliche Regierungskoalition Frau Bandaranaikes eintrat.

Alle historischen und theoretischen Probleme, die im Kampf gegen den Pablismus aufgekommen waren, brachen bei der Spaltung des IKVI in den Jahren 1985 und 1986 erneut auf. Grund der Spaltung war die nationale und opportunistische Degeneration der britischen Sektion, der WRP.

Die Workers League (USA) hatte 1982 die politische Linie der WRP kritisiert, die immer deutlicher in eine opportunistische Richtung ging. Das zeigten insbesondere ihre Beziehungen zu kleinbürgerlich nationalistischen Bewegungen im Nahen Osten. Die WRP-Führung bestehend aus Healy, Banda und Slaughter unterdrückte diese Kritik.

Als der Opportunismus in der WRP dann 1985 zu einer explosiven Entwicklung in der Partei führte, schlossen sich die Mehrheit der Sektionen des Internationalen Komitees und eine Tendenz innerhalb der WRP der Kritik des nationalen Sekretärs der Workers League, David North, an.

Im Verlauf der Spaltung fasste Gerry Healy die Auffassung aller opportunistischen Gegner des Trotzkismus zusammen, als er das Internationale Komitee beschuldigte, "einen blütenweißen Sozialismus reinsten Wassers für eine kleine Minderheit" anzustreben. Er wollte damit sagen, dass Prinzipientreue gegenüber dem Programm Trotzkis im Ergebnis nur zur Isolation führen könne. Wie Pablos frühere Forderung nach Integration der Vierten Internationale in die "wirkliche Massenbewegung" war die Orientierung Healys und der anderen Tendenzen, die mit dem Internationalen Komitee gebrochen hatten, auf die stalinistische Bürokratie ausgerichtet.

Der Kampf gegen die Opportunisten in der WRP kennzeichnete einen Wendepunkt im langwierigen und schwierigen Kampf, den die trotzkistische Bewegung in den Nachkriegsjahren geführt hatte.

Letztlich hatten alle opportunistischen Tendenzen, die die Vierte Internationale in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg angriffen, ihre Stärke aus der Dominanz der stalinistischen Bürokratien über die Arbeiterklasse abgeleitet. Die Jahre 1985-86 fielen jedoch in eine Periode enormer Veränderungen in der Weltwirtschaft und der Erschütterung der globalen politischen Verhältnisse. Die stalinistischen Bürokratien, auf die sich die Opportunisten gestützt hatten, befanden sich am Rande des Zusammenbruchs.

Eine gewaltige Umgestaltung

Letztendlich war die Krise innerhalb der WRP das Produkt umfassender Veränderungen in der Weltwirtschaft - der Globalisierung der Produktion -, die zum Zusammenbruch und zur Zerrüttung aller Parteien und Organisationen führte, die sich auf eine nationalistische Perspektive stützten.

Außerdem kündigte der Sieg des Internationalen Komitee über die nationalen Opportunisten 1985-86 eine historische politische Wende an. Die Globalisierung der Produktion, die Integration der Weltwirtschaft und vor allem die Integration der internationalen Arbeiterklasse haben heute die objektive Grundlage für die Perspektive der Vierten Internationale geschaffen - den Aufbau der Weltpartei der Sozialistischen Revolution.

In einem Brief an James P. Cannon schrieb Trotzki einmal: "Wir gehen bei unserer Arbeit von den korrektesten und machtvollsten Gedanken der Welt aus und haben dabei nicht genug Kräfte und Material. Die richtigen Ideen jedoch werden auf lange Sicht immer siegreich sein und sich die nötigen materiellen Mittel und Kräfte verschaffen." Jetzt wird Trotzkis Perspektive bestätigt.

Oberflächlich gesehen, waren die letzten zwanzig Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion schwierig. Für Millionen Menschen schien die sozialistische Perspektive ihre Berechtigung gänzlich verloren zu haben. Sie verstanden nicht, dass der Zerfall der UDSSR keinesfalls Ausdruck des Scheiterns des Sozialismus, sondern das Endergebnis eines jahrzehntelangen Verrats der stalinistischen Bürokratie an der Oktoberrevolution war. Die Analyse des Internationalen Komitees, die den Zusammenbruch der UDSSR als Ergebnis sozioökonomischer Prozesse verstand, die auch die Grundlagen des Weltkapitalismus und der politischen Nachkriegsordnung erschüttern würden, war nicht augenscheinlich. Der Kapitalismus schien im Gegenteil neuen Schwung zu gewinnen. Nicht wenige behaupteten sogar, es gehe um das Ende der Geschichte.

Die Richtigkeit der Analyse des IKVI wird jetzt durch den Zusammenbruch der kapitalistischen Weltordnung bestätigt, der sich jetzt vollzieht - ein Zusammenbruch, der die Perspektive des Weltsozialismus wieder auf die historische Tagesordnung gesetzt hat.

Diese Entwicklungen unterstreichen die entscheidende Bedeutung des mehr als fünfzigjährigen Kampfes, den das IKVI zur Verteidigung des Programms des Trotzkismus gegen alle Spielarten des Revisionismus und Opportunismus geführt hat.

Im Jahr 1903 betrachteten Viele in der sozialistischen Bewegung die Spaltung zwischen Bolschewiki und Menschewiki als Ergebnis der Unreife der revolutionären Bewegung in Russland, oder sie wurde schlicht als Folge der "Streitsucht der Russen" abgetan. Im Jahr 1917 bildeten die Menschewiki jedoch in der von den Bolschewiki geleiteten Oktoberrevolution die wichtigste Stütze der Regierung der Bourgeoisie im Kampf gegen ihren Untergang.

Wir treten nun wieder in eine solche historische Epoche ein. Dem Kampf der revolutionären Bewegung gegen den Opportunismus kommt jetzt entscheidende Bedeutung für die Entwicklung der Kämpfe der Arbeiterklasse zu. Millionen werden verstehen, dass sich der Kampf zwischen Marxismus und Opportunismus um die Frage von Revolution oder Konterrevolution dreht.

Betrachten wir die Ereignisse in Frankreich - von diesem Land heißt es, dass die Klassenkämpfe stets bis zu ihrem Ende ausgefochten werden.

Dort beabsichtigt die pablistische Partei Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR), Anfang nächsten Jahres eine neue, antikapitalistische Partei (die NPA) zu gründen. In einem Interview im letzten März verdeutlichte der Führer der LCR Olivier Besancenot die nicht mehr kaschierten, opportunistischen Grundauffassungen, auf denen die neue Organisation aufgebaut werden soll.

"Die NPA zielt darauf ab, Strömungen aus verschiedenen Traditionen der radikalen Linken zu integrieren. Hat diese Integration eine detaillierte Diskussion über das Vermächtnis dieser Traditionen zur Voraussetzung, oder kann sie ausschließlich in der Praxis und im Zusammenfassen konkreter Kämpfe vonstatten gehen? Eine Diskussion über verschiedene ideologische und historische ‚Vermächtnisse’ mag interessant sein. Und zweifellos auch lange andauern. Aber damit können wir nicht anfangen. Insbesondere nicht unter der Zielsetzung, Männer und Frauen zusammenzuschließen, die, ganz klar, keine langjährige politische Parteibindung haben und sich mit keiner dieser Traditionen besonders identifizieren."

Die politische Bedeutung dieser Zurückweisung einer historischen und prinzipiellen Perspektive kann nicht missverstanden werden. Besancenot erklärt damit der herrschenden Klasse Frankreichs, dass im Falle des Zerbrechens ihrer Hauptstützen, der Sozialistischen Partei und vor allem der Kommunistischen Partei - die bei der Rettung des französischen Kapitalismus 1936, 1944-45 und noch einmal 1968 eine so bedeutende Rolle gespielt hat - die NPA als Lückenfüller bereit steht. Sie wird in der nahenden revolutionären Krise zur Rettung der kapitalistischen Ordnung in eine bürgerliche Regierung eintreten.

"Botschaft verstanden", hat die Bourgeoisie geantwortet. Deshalb wurde Besancenot inzwischen zum Liebling des Zirkus’ aus Nachrichten, Talkshows und politischen Kommentare gekürt.

Anscheinend kam die Botschaft auch jenseits des Atlantiks an. Die New York Times vom 13. September veröffentlichte einen äußerst wohlwollenden, auf einem Interview basierenden Artikel über Besancenot. Darin wird Besancenot als "extrem geschickter Führer der harten französischen Linken, ein Leuchtfeuer der enttäuschten jungen Mitglieder der Sozialistischen Partei und der Überreste der einst so mächtigen Kommunisten", vorgestellt. Und wohin führt dieses Leuchtfeuer? Die Schlagzeile zum Artikel fasst es zusammen: "Das Licht der Linken führt seine Genossen Frankreichs Mainstream zu."

Vor siebzig Jahren schrieb Trotzki zur Gründung der Vierten Internationale: "Wir sind keine Partei wie andere Parteien...Unser Ziel ist die umfassende materielle und geistige Befreiung der Arbeitenden und Ausgebeuteten durch die sozialistische Revolution. Niemand außer uns wird sie vorbereiten und anleiten."

Die alten Parteien, so fuhr er fort, seien durch und durch verdorben. Die "großen Ereignisse, die die Menschheit erfassen" würden bei diesen überholten Organisationen keinen Stein auf dem anderen lassen. "Nur die Vierte Internationale kann voller Hoffnung in die Zukunft blicken. Sie ist die Weltpartei der sozialistischen Revolution. Niemals gab es auf der Welt eine größere Aufgabe. Jeder von uns trägt eine riesige historische Verantwortung."

Im Zuge der sich jetzt entwickelnden Ereignisse kommt diesen Worten eine sogar noch größere Bedeutung zu.

Ende

Siehe auch:
Die internationale Finanzkrise und die Illusion eines geläuterten Kapitalismus
(20. September 2008)
Rettungsaktion enthüllt Bankrott des amerikanischen Kapitalismus
( 17. September 2008)
Schatten von 1929: die globalen Auswirkungen der US-Bankenkrise
( 27. Mai 2008)
Loading