Chaos auf den Märkten paralysiert EU

Die Finanzminister der Europäischen Union kamen am Dienstag überein, die Einlagenversicherung für Spareinlagen auf mindestens 50.000 Euro anzuheben und "alle notwendigen Maßnahmen zu treffen, um die Zuverlässigkeit und Stabilität unseres Bankensystems zu stärken und die Einlagen der Sparer zu schützen".

Damit wollten sie "eine umfassende und koordinierte Reaktion auf die aktuelle Situation sicherstellen", hieß es in einer gemeinsamen Erklärung. Die Finanzminister schlossen ein Rettungspaket nach dem Vorbild der USA aus, aber sie versicherten, sie würden "für das ganze System wichtige" Institute auf jeden Fall vor dem Zusammenbruch bewahren.

Die Erklärung ist der Versuch, nach Tagen der Unentschiedenheit und des Streits eine einheitliche Front zu präsentieren. Die Finanzminister reagieren damit auf den "Schwarzen Montag", an dem die Nervosität über den Zustand des europäischen Bankensystems einen massiven Absturz der Aktienwerte an den wichtigsten Börsen herbei führte.

Innerhalb von nur 24 Stunden waren die Regierungen Belgiens, Luxemburgs und Deutschlands gezwungen, Notoperationen zur Rettung der Banken zu organisieren. In Island wurde der Börsenhandel ausgesetzt, und die Regierung warnte vor dem möglichen Zusammenbruch der Wirtschaft dieses Landes. Russland setzte den Handel am Montag und am Dienstag zeitweise aus, und die Aktienkurse fielen um mehr als zwanzig Prozent.

Das Chaos an den Märkten hat die Theorie zunichte gemacht, Europa habe mit der Finanzkrise an der Wall Street nicht viel zu tun. Auch wenn die europäischen Banken unterschiedlich stark in die hochspekulativen Geschäfte verwickelt waren, und diese in erster Linie in den USA und Großbritannien praktiziert wurden, sind die Finanzinstitute doch weltweit aufs engste integriert. Was als Liquiditätskrise begann, hat inzwischen zudem auf die übrige Wirtschaft übergegriffen.

Offensichtlich haben die führenden Politiker Europas, nicht anders als ihre amerikanischen Kollegen, das Ausmaß und die Geschwindigkeit unterschätzt, mit der sich die Krise der Weltwirtschaft ausbreitet. Peter Peston von der BBC sagte dazu: "Nur eins ist völlig klar: Die europäischen Regierungen sind von dem Chaos im globalen Bankensystem genauso benommen und verwirrt wie die meisten von uns."

Selbst als die Finanzminister am Montag zusammentrafen, musste sich Finanzminister Peer Steinbrück entschuldigen, weil er gerade an einem "systemweiten Rettungsplan für Deutschland" arbeitete. Nur Stunden vorher war der zweite Rettungsplan innerhalb einer Woche für den deutschen Baufinanzierer Hypo Real Estaste zusammengeschustert worden.

Es ist nicht nur die andauernde Unsicherheit, die die internationalen Märkte so beunruhigt, sondern auch die Aussicht auf konkurrierende Maßnahmen, die Europa weiter destabilisieren würden. Deutschland, Schweden, Österreich und Dänemark sind schon dem Beispiel Irlands und Griechenlands gefolgt und haben einseitig die Garantie abgegeben, alle Spareinlagen zu sichern. Das bringt die Gefahr massiver Kapitalfluchtbewegungen über die Grenzen mit sich. Besonders die "politische Entscheidung" von Kanzlerin Merkel am Sonntag, die Spareinlagen in deutschen Banken zu sichern, eröffnen die Aussicht auf einen europaweiten Konkurrenzkampf bis aufs Messer zwischen den Banken.

Nur 24 Stunden vorher hatten Frankreich, Deutschland, Großbritannien und Italien auf dem Gipfel in Paris solche einseitigen Garantien noch abgelehnt. Sofort nach Merkels neuer Ankündigung kam die Spekulation auf, Großbritannien müsse sich dieser Maßnahme anschließen. Das würde die Regierung Brown mit Verpflichtungen von mehr als 950 Milliarden Pfund (1,22 Billionen Euro) für Sparguthaben belasten, eine mehr als doppelt so hohe Summe wie in Deutschland.

Trotz aller Vorwürfe gegen Berlin, Dublin und Athen hatte der Pariser Gipfel den Weg für Alleingänge schon bereitet, als Vorschläge für einen koordinierten Rettungsplan, wie er von Frankreich und Italien ins Gespräch gebracht worden war, abgelehnt wurden.

Der Vorschlag wurde von Deutschland und Großbritannien abgelehnt, die sich nicht mit dem Gedanken anfreunden konnten, ihre europäischen Rivalen rauszuboxen. Der französische Präsident Nicolas Sarkozy sah sich später sogar gezwungen, zu leugnen, dass er den Plan überhaupt befürwortet hatte. Der Gipfel beschloss dann lediglich eine vage Verpflichtung aller europäischen Regierungen, Maßnahmen zur Sicherung ihrer nationalen Institute zu ergreifen. Das veranlasste Forbes zum Kommentar: "Die mächtigsten Regierungschefs Europas haben es gerade mal zur Feststellung geschafft, dass jeder für sich selber sorgen muss."

David Gow, der Finanzkorrespondent des Guardian, urteilte über den Pariser Gipfel noch drastischer. Er stehe "für die Flucht der sieben führenden Politiker der EU vor der Realität", schrieb er. "Draußen schaltet an einem kühlen, aber sonnigen Abend die schleichende Balkanisierung des integrierten europäischen Bankensystems in einen höheren Gang; drinnen reden sie über eine koordinierte, kollektive Antwort auf das Risiko einer Krise im Stil der 1930er Jahre. Dabei ... wissen sie genau, dass das Finanzsystem der EU gerade die Seine runter geht, und was sie vorbereiten, sind ‚nationale Notmaßnahmen’."

Die Zerstrittenheit in den politischen Beziehungen wurde noch durch die Tatsache verdeutlicht, dass die vier ohne Konsultation mit den übrigen 23 Mitgliedsländern vorgingen. Auch die übrigen zwölf Mitglieder der Eurozone waren nicht beteiligt, worüber sich Spanien bitter beklagte.

Angesichts der Märkte, die sich im freien Fall befinden, wurde die dringende Forderung nach einer zumindest äußerlich gemeinsamen Position laut. Der Chef des IWF, Dominique Strauss-Kahn, forderte: "Europa muss eine kollektive Abwehr vorbereiten. Die Stabilität der Weltwirtschaft steht auf dem Spiel."

Deshalb versprach Sarkozy am Montag im Namen der EU: "Bei den Banken unserer Länder wird kein Sparer Verluste erleiden, und wir werden weiter alles Notwendige tun, um das System und die Sparer zu schützen.... Mit diesen Maßnahmen bekräftigen die europäischen Führer die Notwendigkeit enger Koordination und Kooperation." Aber selbst um fünf vor zwölf hörte die Zwietracht nicht auf. Der italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi gab schon vorher die gleiche Erklärung ab und tat so, als sei es seine eigene. Außerdem behauptete er, ein europaweites Rettungsprogramm sei immer noch möglich, denn Deutschland sei nur deswegen dagegen gewesen, weil Merkel "nicht die Kraft dazu hatte".

Bei einer gemeinsamen Pressekonferenz in Berlin mit Berlusconi wies Merkel später erneut jeden Gedanken an ein europaweites Rettungspaket zurück. "Jedes Land muss seine Suppe selbst auslöffeln", betonte sie.

Der isländische Ministerpräsident Geir Haarde griff derweil die "Freunde" seines Landes an, weil sie seiner Not leidenden Wirtschaft keine Finanzhilfe leisten wollten. Er musste deshalb mit der Mütze in der Hand nach Moskau pilgern und um einen Kredit über vier Milliarden Euro bitten.

Das Paket vom Dienstag war ein Versuch der EU-Führer, sich vom Abgrund zurückzureißen und Einheit zu demonstrieren. Aber das war wenig überzeugend. Der Wirtschaftsnachrichtendienst Bloomberg schlussfolgerte, dass die Minister "es nicht geschafft haben, eine Lösung für die eingefrorenen Kreditmärkte zu finden, die die größte Finanzkrise seit der Großen Depression hervorgerufen haben. Stattdessen haben sie sich mit einer Verbesserung der Einlagensicherung für Konsumenten zufrieden gegeben."

Selbst diese begrenzte Maßnahme war ein Kompromiss, nachdem einige Länder die Garantie von Einlagen bis zu 100.000 Euro vorgeschlagen hatten. Die festgelegte Mindesthöhe der Sicherung lässt immer noch Spielraum für unterschiedliche Regelungen in den europäischen Ländern. Maßnahmen werden jedenfalls auf nationaler Ebene beschlossen und nicht auf europäischer.

Was anderes bedeutet Merkels Forderung, dass jedes Land "seine Suppe selber auslöffeln muss", als zunehmende wirtschaftliche Konflikte auf dem Kontinent? Eine Stunde nach dieser Erklärung gab Spanien bekannt, es hebe seine Einlagensicherung von 20.000 auf 100.000 Euro an.

Schon der Pariser Gipfel war darin übereingekommen, die Regeln der Eurozone für Staatsubventionen und die Grenzen der Staatsverschuldung vorübergehend zu lockern und damit die gemeinsame Geldpolitik quasi zu beenden. Es wird sogar schon spekuliert, ob die Eurozone unter dem Druck der immer stärker auseinander driftenden nationalen Interessen zerbrechen könne.

Unter Verweis auf "extreme Schwankungen bei der Konkurrenzfähigkeit, den Arbeitskosten und den Handelsbilanzen in der Eurozone in den letzten Jahren" zitierte der Guardian Charles Goodhart von der London School of Economics. Dieser schätzt die Chancen für ein Auseinanderbrechen der Währungsunion auf zehn bis zwanzig Prozent.

Auch ohne solche Weltuntergangsszenarien gehen die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der jüngsten Pläne sehr weit. Die Banken und großen Konzerne verlangen, dass ihnen Milliarden in den Rachen geworfen werden, während Frankreich schon offiziell in einer Rezession steckt, die britische Handelskammer behauptet, dass Großbritannien in er Rezession steckt, und das übrige Europa wohl den gleichen Weg gehen wird.

Zehn Jahre lang haben die europäischen Regierungen den Sozialstaat und die Staatsausgaben zusammengestrichen, weil angeblich kein Geld da war und der private Sektor effizienter sei. Jetzt werden ohne jede demokratische Diskussion oder gar Beschlüsse riesige Summen Steuergelder in instabile Finanzinstitute gesteckt, um für die wüste Spekulation der Superreichen gerade zu stehen.

Bisher ist dieser Prozess in Großbritannien am weitesten fortgeschritten, das eines der führenden Finanzzentren der Welt ist. Allein in diesem Jahr wurde zwei Banken 200 Milliarden Pfund (257 Mrd. Euro) zur Verfügung gestellt. Während Brown am Dienstagabend Krisengespräche mit der Bank von England führte, kamen Forderungen auf, die Regierung solle die Großbanken rekapitalisieren, deren Aktien in einigen Fällen um bis zu 40 Prozent gefallen waren.

Das ist die Spitze des Eisbergs, und es gibt keine Garantie, dass die Krisenmaßnahmen funktionieren. Also werden der arbeitenden Bevölkerung Lohnsenkungen und Steuererhöhungen zugemutet, damit der groteske Reichtum der Finanzoligarchie gerettet werden kann. Die Arbeitslosigkeit stand im August bei 7,5 Prozent, und es ist jetzt schon abzusehen, dass bis zum Ende des Jahres Millionen weiterer Arbeiter ihren Arbeitsplatz verlieren.

Siehe auch:
Europa fürchtet globalen Crash
(19. September 2008)
Die internationale Finanzkrise und die Illusion eines geläuterten Kapitalismus
( 20. September 2008)
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