SEP-Präsidentschaftskandidat Jerry White in Frankfurt

"Europäische und amerikanische Arbeiter müssen gemeinsam auf die Finanzkrise reagieren"

Nach London, Manchester, Glasgow und Berlin war letzten Freitag Frankfurt am Main die letzte Etappe der Europatour von Jerry White, dem Präsidentschaftskandidaten der Socialist Equality Party (USA). Zur Versammlung in der Bankenmetropole reisten Teilnehmer mehrere hundert Kilometer an. Sie kamen nicht nur aus Städten in NRW und aus Stuttgart, sondern sogar aus Paris und Zürich, um mit dem amerikanischen Sozialisten zu diskutieren.

White erläuterte in Frankfurt anschaulich die Ursachen der Finanzkrise und ihre direkten und indirekten Auswirkungen auf die Arbeiterklasse. Der Zweck seiner Reise, so kurz vor den amerikanischen Wahlen, bestehe vor allem darin, eine gemeinsame Antwort von Arbeitern und Jugendlichen diesseits und jenseits des Atlantiks auf die sozialen Konsequenzen der Finanzkrise zu diskutieren, betonte White.

"Jeder einzelne Politiker", sagte er, "angefangen von Obama, dem wahrscheinlich nächsten Präsidenten der USA, über Gordon Brown, bis hin zu Angela Merkel, wird in der kommenden Zeit verlangen, dass die arbeitende Bevölkerung die Kosten der Rettungspakete trägt. Es wird scharfe Einschnitte bei vielen öffentlichen Ausgaben geben, und die Lebenshaltungskosten werden steigen. Die Finanzkrise wird in der ‚realen Wirtschaft’ ankommen und eine tiefe und lang anhaltende globale Rezession, wenn nicht gar Depression, auslösen. Millionen werden ihren Arbeitsplatz verlieren."

Der sinkende Konsum in den USA und anderen Ländern, werde die Exporte hierzulande stark einschränken. Dies werde auch in Deutschland Massenarbeitslosigkeit hervorbringen und eine soziale Misere erzeugen, wie sie deutsche Arbeiter und Jugendliche bisher noch nicht kennen.

In den USA habe die Finanzkrise den gesamten Präsidentschaftswahlkampf aus den Schlagzeilen verdrängt. Sowohl Obama wie McCain unterstützten den Bankenrettungsplan, obwohl er von Arbeitern und vom Gros der amerikanischen Bevölkerung abgelehnt werde, berichtete White. Jede kommende Regierung werde sich durch die Kosten der gigantischen Wall-Street-Rettung zu einem strikten Sparhaushalt gezwungen sehen. Genau wie in Deutschland sei auch in den Vereinigten Staaten "kein einziger Cent aus dem milliardenschweren Bankenplan für Arbeiter bestimmt, die von Zwangsräumung oder Entlassung betroffen sind."

White machte auf die Rolle von Barack Obamas Berater, Paul Volcker, aufmerksam: "Es ist derselbe Volcker, der zu Beginn der 1980er Jahre als Chef der Federal Reserve, der amerikanischen Notenbank, als Reaktion auf den Niedergang der Profite den Leitzins auf 20 Prozent angehoben hatte. Dies löste damals eine gewaltige Rezession aus und leitete eine breite Deindustrialisierung ein. Das Kapital verlagerte sich aus der produktiven Industrie mehr und mehr auf Zweige der Finanzspekulation."

White fuhr fort: "In der ‚neuen’, post-industriellen und Dienstleistungs-Gesellschaft waren angeblich die Bankdirektoren, Hedge-Fonds-Manager und andere Finanzspekulanten die neuen ‚Innovatoren’. Sie verdienten Millionen, wenn nicht Milliarden, weil sie ihr Vermögen in neue, riskante Finanzabenteuer steckten. Von den Dutzenden Millionen Menschen, die in den Krankenhäusern arbeiteten, Versorgungsleitungen verlegten oder in den Fabriken Waren herstellten, hieß es nun auf einmal, sie seien zu langsam, zu träge und zu hoch bezahlt, wenn nicht überhaupt überflüssig."

Um 1990 habe der Finanzsektor schließlich den Industriesektor überflügelt. Als Beispiel für den industriellen Niedergang wies White auf die Autoindustrie hin: "General Motors, das Aushängeschild der amerikanischen Industriemacht, steht praktisch vor dem Bankrott. Von 350.000 Arbeitern im Jahr 1979 sind nur noch 60.000 übrig."

"Die Wirtschaft hat sich von der Produktion auf die Kapitalspekulation verlagert", erklärte White und zitierte einige Statistiken die das Ausmaß des Finanzschwindels und der gigantischen Verschuldung deutlich machten. Der fehlende Wert werde nun "der Arbeiterklasse aus den Rippen geschnitten", sagte er. "Die Krise hat erneut die ökonomische Grundlehre bestätigt, an der wir Marxisten seit langer Zeit festhalten: Die einzige Quelle des Mehrwerts ist die menschliche Arbeit."

"Früher hat man die großen Kapitalisten in Amerika als ‚Industriekapitäne’ bezeichnet", fuhr White fort. "Selbst wenn ihre spekulativen Abenteuer Schiffbruch erlitten, hinterließen sie doch gewaltige Stahl-, Öl- und Automobilimperien. Was hinterlassen die heutigen ‚Innovatoren’? Man nennt es Collateralized Debt Obligations, Structured Investment Vehicles oder Credit Default Swaps. Die großen Erneuerer haben sich als Schwindler, Lügner und Diebe entpuppt."

White wies darauf hin, dass die Kriegsgefahr auch mit einem Präsidenten Obama keineswegs abnehmen werde. Er sagte: "Allen Behauptungen zum Trotz, Obama werde eine engere internationale Zusammenarbeit ermöglichen, wird die nächste Regierung versuchen, die Last des kapitalistischen Zusammenbruchs auf die Schultern ihrer wirtschaftlichen Rivalen in Europa und Asien abzuwälzen. ... Obama wird nicht zögern, zur Verteidigung der geo-politischen Interessen Amerikas in der Welt Gewalt einzusetzen."

Obama bekenne sich zur Fortsetzung des Irakkriegs, fuhr White fort, und wenn er Truppen aus dem Irak abziehen werde, dann nur, um den Krieg in Afghanistan und Pakistan zu eskalieren. White sagte: "Obama forderte bei seiner Rede in Berlin, mehr europäische Jugendliche zum Töten und zum Sterben nach Afghanistan zu schicken. ... Eine Obama-Regierung wäre in Wirklichkeit nur eine Schönheitskur für den amerikanischen Imperialismus."

White wies auf die Lehren von 1929 hin: "Wie die Geschichte gezeigt hat, stürzt eine derartige kapitalistische Krise die Menschheit zwangsläufig in Faschismus, Krieg und Barbarei, sofern nicht die internationale Arbeiterklasse ihre eigene, progressive Antwort darauf gibt." ...

"Die Arbeiterklasse steht in Europa und den USA vor den gleichen Bedingungen und Herausforderungen. Sie muss den Wirtschaftsnationalismus der Gewerkschaften und politischen Parteien zurückweisen und eine internationale Strategie zur Verteidigung von Arbeitsplätzen und Lebensbedingungen der Arbeiter in jedem Land entwickeln. ... Sie muss sich von der Entmündigung der alten Parteien befreien, seien dies die Demokraten in den USA, die Labour Party in England, die SPD, die Grünen oder die Linkspartei in Deutschland. Alle diese Parteien unterstützen heute den Bankenrettungsplan. Sie alle gehen letztlich davon aus, dass die Arbeiter für die kapitalistische Krise bezahlen müssen.

Wir haben in den Vereinigten Staaten die Socialist Equality Party gegründet", schloss White seinen Beitrag. "Unser Ziel besteht nicht darin, Druck auf die etablierten Parteien auszuüben, sondern eine Arbeiterregierung schaffen, das heißt eine Regierung der Arbeiter, von Arbeitern und für Arbeiter."

Der Beitrag stieß auf großes Interesse und rief eine Menge Fragen hervor.

So wurde die Verwandlung des amerikanischen Kapitalismus in den letzten dreißig Jahren vom Gläubiger- zum Schuldnerland eingehend diskutiert, wie auch der Zusammenhang mit dem Irak- und Afghanistankrieg oder die angebliche "Alternativlosigkeit" der milliardenschweren Rettungspläne.

Eine junge Frau aus den USA, die in Frankfurt studiert, fragte: "In letzter Zeit sind in den USA die Zwangsräumungen drastisch angestiegen, da so viele Menschen in Armut abstürzen. Immer mehr Selbstmordfälle werden bekannt. Wurde denn gar nicht diskutiert, was man dagegen tun kann?"

Jerry White antwortete: "Die kurze Antwort lautet: Nein. Die Einwände gegen den Rettungsplan kamen überwiegend von der republikanischen Rechten, deren Wortführer darin zuviel ‚Sozialismus’ sahen. Die Demokratische Partei tat nichts, um das Gesetz zu stoppen, und forderte keinerlei Hilfen für Menschen, die von Zwangsräumung betroffen sind."

White berichtete über den Ausspruch des Demokratischen Senators Schumer: "Der Bankenrettungsplan darf nicht in einen Weihnachtsbaum verwandelt werden." Damit wurde jede Rücksichtsnahme auf betroffene Arbeiter verhindert. Und am Ende, so White, "haben sie es in einen Weihnachtsbaum für die Wall Street verwandelt". Er nannte Zahlen über die anhaltende, unglaubliche Bereicherung derselben Bänker und Spekulanten, die die Krise verursacht haben und nun vom Rettungsplan profitieren können, während gleichzeitig, als Folge der Krise am Hypothekenmarkt, täglich Zehntausende ihr Haus verlieren.

Eine Teilnehmerin fragte: "Woher kommt eigentlich das Geld für die milliardenschweren Rettungspakete?"

Die Antwort darauf lautete: Die Schulden können letztlich nur bezahlt werden, wenn die Arbeiterklasse weltweit um vieles stärker ausgebeutet wird als bisher. Peter Schwarz, der Sekretär des IKVI, erläuterte, welche Konsequenzen diese Rettungspläne für Wirtschaft und Gesellschaft haben.

Wie er erklärte, können die Regierungen nicht beliebig viel Geld drucken, ohne die Inflation anzuheizen. "Es geht um enorme Summen, und die Reserven der Staaten schmelzen rasch. Letztlich gehen die Regierungen an diese Rettungspläne heran wie an das russische Roulett, sie spekulieren darauf, dass nur fünf Prozent der Summe tatsächlich fällig werde. Die Merkel-Regierung hat versprochen ‚sämtliche Spareinlagen zu garantieren’, sie will gleichzeitig bankrotte Banken retten und plant als nächstes einen weiteren Fond, um der Wirtschaft zu helfen. Soviel Geld haben sie gar nicht. Falls sich eine Kettenreaktion entwickelt, ist die Folge eine beschleunigte Rezession."

Schwarz wies darauf hin, welche Auswirkungen diese Krise auf das Bewusstsein von Millionen Arbeitern haben werde und betonte die Notwendigkeit einer revolutionären Partei, die für eine sozialistische Perspektive kämpft.

Er wies darauf hin, dass der Rettungsplan von der Linkspartei im Bundestag hätte gestoppt werden können: "Alle Fraktionen mussten das beschleunigte Verfahren akzeptieren. Die Fraktion der Linkspartei hat den Plan akzeptiert", sagte Schwarz. "Lafontaine war der erste, der erklärte, es gebe ‚keine Alternative’ dazu. Jetzt wollen sie uns weismachen, man könne zur sozialen Marktwirtschaft zurückkehren. Aber wer glaubt das noch?"

"Wie hätte eine wahre Arbeiterpartei im Bundestag reagiert?" fragte Schwarz. "Wenn wir in diese Lage gekommen wären, dann hätten wir uns sehr scharf dagegen ausgesprochen. Wir hätten aufgezeigt, dass hier 500 Milliarden an Steuergeldern den Banken übereignet werden, und wir hätten die entschädigungslose Enteignung der Banken, die Bestrafung der Schuldigen und einen Notplan gefordert, der die von Zwangsräumung Betroffenen, entlassene Arbeiter oder kleine Handwerker berücksichtigt hätte. Wir leugnen nicht, dass es eine Krise gibt", endete Schwarz. "Aber wir haben eine fortschrittliche Antwort darauf."

Siehe auch:
SEP-Präsidentschaftskandidat Jerry White in Berlin
(18. Oktober 2008)
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