Die Bank von England senkte Anfang Dezember ihren Zinssatz auf zwei Prozent, den niedrigsten Stand seit 1951. Dieses historische Tief widerspiegelt das Ausmaß der Krise in einem Land, das jahrzehntelang bevorzugtes Ziel internationaler Spekulationsgelder war.
Im Vorfeld der Zinssenkung fiel das britische Pfund, das noch im Juli mit 2 Dollar gehandelt wurde, auf 1,45 Dollar und damit auf den tiefsten Stand seit sechs Jahren. Von seinem Höchststand fiel das Pfund gegenüber dem Dollar um insgesamt dreißig Prozent.
Gegenüber dem Euro fiel das Pfund auf ein Rekordtief von 1,10 Euro. Im Verhältnis zum Yen büßte es 45 Prozent seines Werts seit dem letzten Sommer ein und erreichte damit ein Zehnjahrestief. Das Ausmaß dieses Wertverfalls ist vergleichbar mit dem Kollaps der britischen Währung im Jahr 1992, als das Pfund aus dem Europäischen Währungssystem gedrängt wurde.
Für die kommenden Wochen erwarten Marktanalysten weitere Zinssenkungen und damit weiteren Druck auf die britische Währung. Die Märkte gehen davon aus, dass der Referenzzinssatz Großbritanniens Anfang 2009 bei Null Prozent stehen wird.
Viele Wirtschaftsfachleute begrüßen die Zinssatzsenkung auf Null Prozent. Professor Willem Buiter, ehemaliges Mitglied des Währungsausschusses der Bank von England, äußerte die Ansicht, alle großen Wirtschaftsnationen sollten ihre Zinssätze auf Null zurückführen.
"Wenn Null (Prozent) die unterste Grenze ist, gibt es keinen Grund, nicht sofort darauf zuzusteuern", schrieb Buiter in der Financial Times. "Die Rezession in den USA, Großbritannien, Japan, der Eurozone und dem restlichen Europa wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit so tief und anhaltend sein, dass selbst die zurückhaltendste Zentralbank bis Mitte 2009 die Nullgrenze erreicht haben wird. Warum also sollten wir das nicht bereits im Dezember 2008 hinter uns bringen und vielleicht die Zwischenzeit zu unseren Gunsten nutzen?"
Andere Kommentatoren betrachten die letzte – obwohl beispiellose – Zinssenkung als unzureichend und erachten die Null-Prozent-Marke als sofort notwendig für Großbritannien. "Es hat keinen Sinn Kugeln zu sparen, wenn es nichts mehr gibt, auf das man schießen könnte", sagte Neil Jones von Mizuho Capital Markets nachdem die Bank von England die Zinsen gesenkt hatte.
Vertiefung der Rezession
Der Grund für den drastischen Fall des Pfunds ist der Zustand der britischen Wirtschaft. "Die Aussichten für Englands Wirtschaft sind besonders fatal", warnte der Economist, "weil sie von der Bankenkrise so schwer getroffen wurde." Infolgedessen "kam auch die Kreditvergabe an Privathaushalte und nicht im Finanzsektor tätige Unternehmen seit dem Sommer im Wesentlichen zum Stillstand."
Das Versiegen der Kreditvergabe beruht auf dem Versuch der Banken ihre Bilanzen zu schrumpfen, um profitabel zu bleiben. Indem jede einzelne Bank so vorgeht, wird die Gesamtwirtschaft noch stärker in die Abwärtsspirale gezogen. Die Banken verlagern das Risiko von ihren eigenen Bilanzen auf andere Unternehmen und die Lohnabhängigen, die ihre Arbeitsplätze und Häuser verlieren.
Die neuesten Konjunkturdaten weisen darauf hin, dass Großbritannien schneller und tiefer als erwartet in die Rezession gerät. Im dritten Quartal fiel das Bruttoinlandsprodukt (BIP) um 0,5 Prozent. Aktuelle Statistiken über die Entwicklung der Industrie, der Bauwirtschaft und des Dienstleistungssektors zeigen, dass das BIP im vierten Quartal um 0,8 bis 0,9 Prozent fallen wird.
Der Preisverfall für Immobilien war eine der Folgen der Geldschwemme nach Großbritannien. Zu Beginn des Jahres hatte das Land die höchste Immobilienpreisinflation aller Industrienationen. Der Preissturz ist dementsprechend dramatisch. Seit ihrem Hoch im vergangenen Jahr fielen sie um 18 Prozent. Im November ging der durchschnittliche Hauspreis um 144 Pfund pro Tag zurück.
Der Preisverfall erleichterte jedoch nicht den Kauf einer Immobilie. Zahlen der Bank von England weisen aus, dass im November lediglich 32.000 neue Hypotheken aufgenommen werden konnten, während es im Monatsdurchschnitt 2007 noch 104.000 waren.
Der hastig vorgestellte Plan der Regierung zur Reduzierung der Zwangsversteigerungen wurde vom Immobilienunternehmer Bellway, dem britischen Marktführer für Hausbau, zurückgewiesen. Alistair Leitch, Finanzchef von Bellway, erklärte, dass es "absolut keine Auswirkung auf den Hausbau haben wird. Es wird Otto Normalverbraucher nicht dazu verführen, eine neue Immobilie zu erwerben." Leitch macht als Hauptursache für die einbrechenden Verkaufszahlen die Sorge um den Arbeitsplatz aus. "Wenn du das Gefühl hast, dein Arbeitsplatz sei unsicher, wirst du nicht losgehen und ein Haus kaufen."
Sein Eindruck wird von einer neuen Erhebung bestätigt, welche die schnelle Schwächung des Arbeitsmarkts offenbart.
Mike Stevens von KPMG sieht den Arbeitsmarkt "mit halsbrecherischem Tempo" zu Tal gehen. "Unternehmer aus fast allen Branchen haben ihre Neueinstellungspläne drastisch zusammengestrichen und versuchen so schnell wie möglich sowohl Festangestellte als auch Aushilfspersonal loszuwerden." Das Schrumpfen des Arbeitsmarkts widerspiegelt sich im beispiellosen Einbrechen der Lohnniveaus beider Beschäftigtengruppen.
In der letzten Runde des Stellenabbaus im Finanzsektor strich Nomura 1.000 Arbeitsplätze in London, nachdem das Unternehmen Lehman Brothers' europäische Niederlassung aufgekauft hatte. Bis zu 800 Arbeitsplätze sind bedroht, weil Honda sich zu einem Rückzug aus der Formel-I entschied. Etwa 3.000 Arbeitsplätze sind im Bereich der Steuerberatung bedroht. Der Verlust von Arbeitsplätzen erstreckt sich auf sämtliche Wirtschaftsbereiche.
Derselbe Druck auf Arbeitsplätze und Kredite zeigt sich beim Neuwagenabsatz. Der Verband der britischen Automobilbauer und Zulieferindustrie registrierte für den letzten Monat einen Absatzrückgang um 37 Prozent. Alle umsatzstarken Marken sind von Umsatzeinbrüchen betroffen, und am oberen Ende des Marktes fiel der Umsatz von Aston Martin sogar um 73 Prozent.
Den Abschwung des Index' für den Geschäftsverlauf in der Industrie (PMI) bezeichnete der Wirtschaftswissenschaftler Rob Dobson für den Monat November als "beispiellos". Er veröffentlichte eine Untersuchung über die verarbeitende Industrie Großbritanniens und schreibt, dass der Niedergang der Produktion "absolut horrende Ausmaße" erreicht habe.
"Wir haben bereits einen ziemlich rasanten Niedergang in der Güterproduktion", sagte Alan Clarke von BNP Paribas, "und es wird noch schlimmer werden".
Europa
Wie Großbritannien reagierten Zentralbanken weltweit auf die Schwere der Rezession mit Leitzinssenkungen. Die Europäische Zentralbank (EZB) senkte ihren Leitzins um 0,75 Prozent auf nunmehr 2,5 Prozent, ein für EZB-Verhältnisse immenser Einschnitt. Im Verlauf der letzten Monate hatte sie den Leitzins nie um mehr als ein halbes Prozent gesenkt.
Schweden senkte seinen Leitzins um 1,75 auf zwei Prozent. Dieses Vorgehen war eine direkte Reaktion auf die schlechteren Wirtschaftsaussichten. Wurden bis dato 0,1 Prozent Wachstum erwartet, gehen die neuesten Zahlen davon aus, dass die exportorientierte schwedische Wirtschaft um 0,5 Prozent schrumpft.
Im Rahmen der deutlich schlechter werdenden Wirtschaftslage ganz Europas sieht es für die britische Wirtschaft besonders ernst aus, weil diese vom Finanzkapital und billigen Darlehen abhängig ist.
Der Fall des Pfunds führte zu Spekulationen, Großbritannien müsse sich der Eurozone anschließen. Der Präsident der Europäischen Kommission, Jose Manuel Barroso, äußerte kürzlich, die britische Mitgliedschaft sei womöglich "näher als je zuvor". Barroso sagte im französischen Rundfunk: "Einige englische Politiker sagten mir bereits: 'Es wäre besser für uns, wenn wir den Euro hätten'".
Allgemein wird vermutet, dass Außenminister David Milliband und Wirtschaftsminister Lord Mandelson hinter diesen Gerüchten stecken. Doch selbst der konservative Schattenkanzler George Osborne hat einige Argumente Buiters übernommen, eines überzeugten Befürworter des Euro.
Osborne warnte, das Rettungspaket der Regierung und die damit verbundene enorme Erhöhung der Staatsverschuldung könnten einen Ansturm auf das Pfund auslösen. Seine Bedenken wurden von Anatole Kaletsky in der Times verspottet. "In der modernen Welt des Papiergeldes und der freien Wechselkurse gibt es so etwas wie eine 'Reservewährung' nicht – sondern nur unterschiedliche Währungen, die alle in derselben Weise als Wertanlage genutzt und gehandelt werden."
Kaletzkys Haltung stimmt mit der Samuel Brittans überein, der kürzlich in der Financial Times schrieb: "Der häufigste Einwand lautet: 'Woher wird das Geld kommen?' Die Antwort ist kurz und knapp: Aus der Druckerei der Bank von England. Das ist nicht einfach eine rhetorische Erwiderung. In einem Papiergeldsystem gibt es keine feste Geldmenge, sondern nur eine durch Menschenhand beeinflusste Gesamtmenge."
So etwas könne zwar zu einer "simbabweartigen" Inflation führen, schreibt Kaletzky. Unter den derzeitigen deflationären Bedingungen sei dies aber nicht zwangsläufig.
Kaletskys Artikel sind ziemlich ernüchternd. Sie führen jene politischen Optionen auf, die noch bis vor kurzem für größenwahnsinnige Diktatoren reserviert galten. Jetzt sind sie für Teile der politischen Elite Großbritanniens zwar noch nicht in den Bereich des Erstrebenswerten, aber des Möglichen gerückt.
Der Fall des Pfunds stellt für Millionen einfacher Briten eine ernste Bedrohung dar, weil das Land von Lebensmitteln über Benzin bis hin zu Artikeln des täglichen Lebens nahezu alles importiert. Die Dominanz des Finanzkapitals bewirkte, dass der industrielle Sektor nur noch sechzehn Prozent des Bruttoinlandproduktes erwirtschaftet, während der Dienstleistungssektor, der überwiegend an der Finanzwirtschaft orientiert ist, 73 Prozent des BIP erbringt.
Im Beitritt zum Euro liegt nicht die Rettung, weil damit nicht die wirtschaftlichen und haushaltspolitischen Probleme gelöst wären, die der Pfundschwäche zugrunde liegen. Zudem dürfte ein Beitritt bei einer aktuell auf 57 Prozent des BIP anschwellenden Staatsverschuldung kaum möglich sein.
Englands Kreditbedarf liegt deutlich über den Konvergenzkriterien des Maastrichtvertrages für den Beitritt zum Euro. Die Kriterien werden möglicherweise gelockert, da auch viele Mitgliedstaaten sie durch die krisenbedingte Kreditaufnahme inzwischen überschreiten. Letztendlich ist die Entscheidung über die Aufnahme eine politische Frage, und in dem Maße, wie die nationalen Spannungen in Europa zunehmen, könnten sich die anderen Mitglieder gegen Großbritanniens Beitritt stellen.
Selbst als Mitglied des Euro-Raumes müsste Großbritannien durch die Emission von Anleihen Geld an den internationalen Finanzmärkten aufnehmen, um sein Defizit zu finanzieren. Die damit verbundenen Kosten sind jeweils von der Bonität des Landes abhängig, das die Anleihen auflegt.
Die Märkte nutzen Credit Default Swaps (CDS) zur Absicherung der Staatsanleihen gegen das Ausfallrisiko. Für alle großen Volkswirtschaften stieg der Preis der CDS. Allein die Mitgliedschaft in der Eurozone bedeutet nicht, dass eine Regierung stets zahlungsfähig bleibt. Italien, Mitglied im Euro-Verbund, zahlt die höchsten CDS-Prämien, weil seine Verschuldung mit 103 Prozent des BIP die höchste aller Euroländer ist.
Allerdings stiegen die Prämien für britische CDS am schnellsten. Für die fünfjährige Versicherung von 10 Millionen Pfund Anleihewert gegen den Ausfall des Schuldners stieg die Prämie von 8.000 Pfund im Februar dieses Jahres auf 60.000 bis Mitte November und hat derzeit den Preis von 110.000 Pfund (162.000 US-Dollar) erreicht.
Die Financial Times bemerkte dazu, für den Staat ist es teurer, seine eigenen Verbindlichkeiten zu versichern, als es für englische Banken wie HSBC und Lloyds ist.
"Niemand erwartet zur Zeit die Zahlungsunfähigkeit Großbritanniens", sagte Roger Brown von UBS. "Aber das Risiko steigt mit der Höhe der Verschuldung."
Es mag sein, dass niemand mit einer Zahlungsunfähigkeit des Landes rechnet. Aber bis vor kurzem erwartete auch niemand den Untergang einer großen Bank oder gar einer Reihe großer Banken. Inmitten dieser Unsicherheiten ist allerdings eines sicher: Die Experten mögen verschiedene Rezepte gegen die Krise haben, aber sie stimmen darin überein, wer die Kosten der Rezession tragen soll, die die Weltwirtschaft in den Strudel zieht - die Arbeiterklasse.