59. Berlinale - Teil 5

Jadup und Boel - der letzte verbotene Spielfilm der DDR

Im Rahmen der Berlinale-Sonderreihe zum Mauerfall vor 20 Jahren Winter adé - filmische Vorboten der Wende lief Rainer Simons Jadup und Boel (1980) , der letzte in der DDR verbotene Spielfilm.

Jadup und Boel Jadup und Boel

Eine alte marxistische Broschüre unter den Trümmern eines alten Hauses, das in dem Augenblick zusammenbricht, als die neue Kaufhalle im Ort eingeweiht wird, löst unliebsame Erinnerungen an die Zeit unmittelbar nach dem Krieg aus. Damals war das Mädchen Boel, das mit seiner Mutter aus Polen in den Ort gekommen war, vergewaltigt worden und danach spurlos verschwunden. Die Mutter ist im Ort eine Außenseiterin geblieben, die nun den Müll der Stadt verbrennt.

Jetzt wird getuschelt, Bürgermeister Jadup vor den Parteikreisrat zitiert, als das Gerücht die Runde macht, er selbst habe etwas mit der Sache zu tun. Aber es geht nicht um Klärung, natürlich sei er es nicht gewesen. Es geht um das Image der Partei, ganz wie damals, als Jadup, der frischgebackene Parteigenosse, Boel rücksichtslos aber erfolglos ausquetschte, wer der Vergewaltiger gewesen sei. Es geisterte nämlich das Gerücht durch den Ort, es sei ein sowjetischer Soldat gewesen. Das durfte nicht sein. Wie tief er das Mädchen verletzte, die ihn liebte, merkte er nicht. Heute weiß er: "Wir haben sie getötet mit unserer Ausfragerei, egal ob sie noch lebt".

Wo beginnt die Geschichte des Ortes, vor 800 Jahren oder nach Ende des Zweiten Weltkrieges, grübelt Stadtchronist Unger. Der Klub junger Historiker, der den Beitrag ihrer Eltern beim Aufbau des Sozialismus erforschen soll, ist völlig ratlos: Wie forscht man nach Wahrheit? Es fehlen Vorbilder, sie haben nur gelernt, mit Phrasen und toten Ritualen umzugehen. Also wird Evas lobhudelnder Aufsatz über ihre tollen Eltern und ihren vielen gesellschaftlichen Funktionen und Auszeichnungen in der Presse veröffentlicht und an die Schulwandzeitung gepinnt. Als Ungers Tochter Edith sich darüber lustig macht, hält Max als Vertreter des Klubs über sie in ähnlicher Weise Gericht, wie Jadup seinerzeit über Boel. Jadup ist entsetzt, wie stark die Verhaltensweise der alten Generation in der neuen ihre Fortsetzung findet.

Jadup bricht schließlich das Schweigen, er erzählt Max von Boel. Die Hoffnung des Films auf eine menschliche DDR liegt bei Max und Edith, die Jadup in ihrer ganzen ehrlich-gradlinigen und etwas verschrobenen Art an Boel erinnert. Auf der Jugendweihefeier wendet sich Jadup an die Jugend, appelliert an Ehrlichkeit, an eine zukünftige Jugend, die alles kritisch hinterfragt, bezieht sich dabei auf Lenin, nur so könne die Revolution voranschreiten.

Eine wirkliche Zuversicht vermittelt der Film nicht. Immer neue Schnittauflagen seitens der Kulturbürokratie und geforderte Änderungen von Szenen ändern nichts an der düsteren Grundstimmung, die den Eindruck hinterlässt, die Probleme seien nicht wirklich lösbar.

Vor dem Hintergrund der Streiks und der Entstehung der Gewerkschaft Solidarnosc 1980/81 in Polen wird die Endbearbeitung schließlich auf Eis gelegt. Die SED ist voller Panik, dass diese Ereignisse auf die DDR übergreifen könnten. 1981 zur Aufführung freigegeben, sorgt ein bestellter Leserbrief für eine weitere Verschiebung des Termins. 1983, als sich die Spannungen innerhalb der stalinistischen Regime verschärfen, erfolgt das endgültige Aufführungsverbot. Der Regisseur dazu in seinem Buch Fernes Land - Die DDR, die DEFA und der Ruf des Chimborazo (2005): "Als Grund wurde genannt die sich zuspitzende existentielle Bedrohung des Sozialismus (...)"

In der Atmosphäre von Glasnost und Perestroika kam der Film 1988 in ausgewählte Kinos und erhielt viel Beifall. Das Publikum teilte seine, wenn auch vage Hoffnung in eine Reform des "DDR-Sozialismus". Während zu diesem Zeitpunkt in der DDR noch niemand von Wiedereinführung kapitalistischer Privatwirtschaft sprach, schälte sich der Charakter der Reformen Gorbatschows in der Sowjetunion bereits deutlicher heraus. Simon schreibt über die damalige Atmosphäre in der sowjetischen Hauptstadt und das Befremden über seinen Film: "Doch für das Moskauer Festivalpublikum kam Jadup und Boel viel zu spät. Dieser Jadup vertrat ja sozialistische Ideale! (...) Ein Film, in dem Lenin zitiert wurde."

Zum Ende des Films gibt es eine unheimliche Szene: Unmittelbar nach Jadups Rede wird Ediths Vater, der wieder mal zuviel getrunken hat, von Jugendlichen im Flur überfallen. Sie schubsen ihn herum, entreißen ihm die Tasche, die Blätter der begonnenen Chronik fliegen durch die Luft. Einer der mutmaßlichen Vergewaltiger von damals begleitet das Ganze lachend auf dem Akkordeon, während Jadup dem Niedergeschlagenen zu Hilfe eilt. Siegen am Ende die Karrieristen? Er selbst hätte, so schreibt Simon, zu dem Zeitpunkt so eine Rede wie Jadup nicht mehr halten können.

Jadup und Boel Jadup und Boel

Man kann sicher sagen, Jadup und Boel stellt die Quintessenz der Erfahrungen des Regisseurs mit der DDR dar. Von der angenommenen Möglichkeit, die DDR vom Stalinismus befreien zu können, ist kaum Hoffnung geblieben. Simons folgende Filme haben ein anderes inneres Programm, es geht nicht mehr um Möglichkeiten gesellschaftlicher Änderungen, sondern um die Frage: Wie kann der Einzelne in der bestehenden Gesellschaft in Würde leben, welche Möglichkeiten hat er, "Verantwortung zumindest für sein Leben zu übernehmen, und nicht nur zu funktionieren (...)."

Ein ungelöster Widerspruch

Jadup und Boel ist wie auch andere Filme, die im Rahmen der Berlinale Sonderreihe "Vorboten der Wende" gezeigt wurden, eine interessante Auseinandersetzung mit der Endphase der DDR, auch wenn die Kritik über einen gewissen Punkt nicht hinausgeht.

Eine heutige Tendenz, den DDR-Film niederzumachen, als seien außer ein paar Individuen, deren Filme verboten wurden, nur Ja-Sager und Hofkünstler am Werke gewesen, wird einer kritischen Auseinandersetzung mit dem filmischen Erbe der DDR nicht gerecht. Vor allem müssen die Filme, die nicht gedreht wurden, müssen die vielen verbotenen Drehbücher endlich der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Die Rundum-Kritiker unterschätzen nicht nur die schwierigen objektiven Bedingungen, unter denen DDR-Künstler arbeiten mussten, sondern kritisieren die Filme meist auch von rechts. Die DDR wird mit Sozialismus gleichgesetzt, Künstler werden oft nur anerkannt, wenn sie als Dissidenten mit prowestlicher Orientierung aufgetreten sind.

In der DDR konnten Konflikte in der Gesellschaft nicht offen, sondern nur im so genannten Prozess ihrer Überwindung gezeigt werden. Darin liegt die Grundschwäche vieler DDR-Filme. Stets behielt die Parteispitze am Ende Recht und kam es zu Kompromissen, zeigten sich Genossen zugänglich für Kritik, nützte dies letztlich der Führungsrolle der SED im Ganzen. Auch Beyers verbotener Film Spur der Steine ist nicht frei davon. Irgendwann kamen Simon und Beyer gleichermaßen zu dem zweifellos richtigen Schluss: Es ist in der DDR unmöglich, realistische Filme zu drehen.

Die Gründe dafür liegen in der Entstehung und dem Charakter der DDR. Die DDR ist nicht durch eine revolutionäre Bewegung der Arbeiter entstanden und war kein sozialistischer Staat. Die Verstaatlichung in den sowjetisch besetzten Gebieten erfolgte als bürokratische Reaktion der Moskauer Führung auf die Währungsreform in den westlichen Zonen und war mit der Unterdrückung jeder Initiative von unten und jeder demokratischen Mitsprache der Arbeiter verbunden. Die DDR-Regierung setzte sich aus Funktionären zusammen, die durch die Schule des großen stalinschen Terrors und die Eliminierung der revolutionären Generation von 1917 gegangen waren.

Die viel beschriebene und kritisierte Kontrollsucht der SED, ihre Rechthaberei, Schönfärberei hat hier ihre Wurzeln. Die Machthaber in der DDR hatten ein existentielles Interesse daran, den Zustand der Niederhaltung und Kontrolle der Bevölkerung zu verewigen.

Über die Perspektive des stalinistischen Regimes schrieb Leo Trotzki 1936, die herrschende Bürokratie müsse durch die politische Wiederbelebung der alten revolutionären, internationalen Traditionen in der einfachen Bevölkerung gestürzt werden. Nur das könne die Grundlage für eine wirkliche sozialistische Gesellschaft schaffen. Die andere Möglichkeit sei die Wiedereinführung des Kapitalismus durch die Bürokratie selbst - die Rolle, die Gorbatschow zukam und die die DDR-Führung unter Modrow vor 20 Jahren ebenfalls übernahm.

In der DDR waren Diskussionen über Trotzkis Schriften unmöglich. Die Gründung der DDR auf der Grundlage der stalinschen Verbrechen hatte die Bevölkerung von der lebendigen marxistischen Tradition abgeschnitten.

Der Regisseur dazu gegenüber dem WSWS: "Wir wussten durchaus von den Entartungen. Aber das war natürlich ein absolutes Tabu. Darüber wurde absolut nicht gesprochen und in Filmen war das schon überhaupt nicht möglich. Unter Freunden schon. (...) Ich hab von Schauspielern, die bei mir drehten, das erste Mal was von Solschenizyn zu lesen bekommen und das haben wir dann in einer Nacht gelesen, um es dann an die Freunde weiterzugeben, damit es soviel wie möglich lesen konnten. (...) Von Trotzki wusste man nicht viel damals. (...) Aber für die Stasi und für die Leitung war Trotzki der Böseste von allen. Ich hatte einen Freund aus Westberlin, der kam damals relativ oft zu uns und das wusste ich nicht, dass er einer trotzkistischen Gruppe angehörte, gab es ja viele zu der Zeit in Westberlin. Wir haben uns nur gewundert. Jedes mal wenn der kam wurde sein Auto auseinander genommen. Na gut haben wir gedacht, es geht um Kontakte zwischen Künstlern in Ost und West. In den Stasiakten hab ich später gelesen, dass die wussten, dass er von einer trotzkistischen Gruppe kam, .... Das wurde mit großer Akribie beobachtet."

Gerade weil DDR-Künstler sich in der Regel als Sozialisten verstanden, musste sich ihre Kritik an der DDR ohne die Kenntnisse der Analysen Trotzkis über den Stalinismus im Kreis drehen. Auch sie anerkannten die DDR als eine Art Sozialismus, als einen reformbedürftigen sozialistischen Versuch und gerieten dadurch in einen für sie unlösbaren Widerspruch. Auf der einen Seite wehrten sie sich gegen die Zensur der SED, auf der anderen verteidigten sie die Bedingungen, denen die Zensur entsprang. So schrieb Horst Bastian einerseits den Jugendroman Die Moral der Banditen (1964), in dem Jugendliche auf Unabhängigkeit pochen und dessen Verfilmung die SED Simon 1965 verbietet, um andererseits, in Zusammenarbeit mit dem populären Schauspieler Manfred Krug das Drehbuch zu jenem Propaganda-Spielfilm Der Kinnhaken (1962) zu liefern, der in herablassender, arroganter Art die Errichtung der Mauer verteidigt.

Die Kritik am Stalinismus erschöpfte sich im Protest gegen die allseits gegenwärtige Gängelei und bürokratische Bevormundung in der DDR. In den achtziger Jahren schienen allerdings die Künstler an eine moralische Erneuerung der DDR immer weniger zu glauben.

Der Enttäuschung über die ausbleibende Reform der DDR führte zu einer ideologischen Kehrtwende. Das politische Klima der Perestroika förderte keine neue Diskussion über Trotzki, der auch unter Gorbatschow nicht rehabilitiert wurde, sondern die Verstärkung der Skepsis gegenüber dem Sozialismus überhaupt. Von den ehemaligen DDR-Filmemachern ist bis heute kein ernsthafter filmischer Versuch unternommen worden, mit der DDR historisch abzurechnen und die Rolle des Stalinismus zu verstehen. Offenbar hat das Thema nach dem Zusammenbruch des Stalinismus, den sie für einen unvollkommenen Sozialismus hielten, für sie keine Bedeutung mehr.

Rainer Simon, der nach der Wende kein Freund des Kapitalismus wurde, plante Ende der 90er Jahre eine Fortsetzung von Jadup und Boel mit dem Titel Jadups Kinder. Das Projekt scheiterte leider am Desinteresse öffentlicher Förderstellen.

Seit seinem frühen Dokumentarfilm Freunde vom Werbellinsee (1966) über das staatliche internationale Pionier-Ferienlager der DDR träumte Rainer Simon von Völker verbindenden Filmen. Auch die erste wirkliche Anerkennung seines filmischen Schaffens erfolgte erst auf internationalem Podium - ein Goldener Bär für Die Frau und der Fremde (1984 ), eine Liebesgeschichte aus dem Ersten Weltkrieg, auf der Berlinale 1985.

Kurz vor dem Zusammenbruch der DDR konnte der Regisseur für seinen Film über den Wissenschaftler Alexander von Humboldt Die Besteigung des Chimborazo (1988 ) nach Südamerika reisen. Seitdem lässt ihn dieser Teil der Erde nicht mehr los und er hat viel Kraft und Engagement in seiner Filmarbeit aufgewendet, sich dort für die indianischen Ureinwohner einzusetzen.

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