Die Bedeutung der Europawahl

Vor wenigen Tagen startete das Europäische Parlament in Straßburg eine groß angelegte Werbekampagne unter dem Slogan: "Europawahl - Deine Entscheidung". Ziel dieser teuren Aktion mit Werbespots, Hochglanzbroschüren und Großplakaten ist es, bei der Europawahl vom 4. bis 7. Juni möglichst viele der etwa 375 Millionen stimmberechtigten EU-Bürger an die Wahlurnen zu locken. Sie sollen in 27 Ländern die 736 Abgeordneten des Europaparlaments wählen.

Die Europaparlamentarier sind besorgt, denn das Desinteresse an der Wahl ist groß.

Laut einer auf Wunsch des Parlaments vorgenommenen Eurobarometer-Umfrage unter etwa 27.000 Bürgern waren nur etwa 16 Prozent der Befragten darüber informiert, dass die Wahlen im Juni stattfinden. Nur 34 Prozent der Befragten gaben an, sie gingen "wahrscheinlich" zur Wahl. Die französische Tageszeitung Libération sprach daraufhin von einer zu erwartenden Wahlenthaltung in nie gekanntem Ausmaß. Bei den letzten Wahlen vor fünf Jahren waren in den damals 25 EU-Staaten immerhin noch 45 Prozent der Wahlberechtigten zur Abstimmung erschienen.

Das weit verbreitete Desinteresse an der Wahl ist Ausdruck der wachsenden Ablehnung der EU-Institutionen, zu denen auch das Straßburger Parlament gehört. Kaum ein anderes Parlament auf der Welt ist derart offensichtlich macht- und bedeutungslos, wie das Europaparlament. Seine Entscheidungen sind für keine Regierung bindend, und auch die Entscheidungen der EU werden von der Europäischen Kommission und vom Ministerrat getroffen.

Während viele nationalen Parlamente eine verfassungsmäßige Entscheidungsrolle im Gesetzgebungsverfahren haben, Regierungschefs und teilweise auch Minister wählen, ist das beim Europaparlament nicht der Fall. Der Präsident der Europäischen Kommission wird von den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsstaaten ernannt und vom Europaparlament lediglich bestätigt.

Dem Charakter eines Debattierklubs entspricht auch die Zusammensetzung des Parlaments. Viele Parteien nutzen die hoch dotierten Sitze im Europaparlament als Versorgungsinstitution für altgediente und abgehalfterte Berufspolitiker, für die ansonsten keine Verwendung besteht. Nicht umsonst kommentiert der Volksmund die Auswahl der Europapolitiker mit den Worten: "Hast du einen Opa, schicke ihn nach Europa."

Die politische Bedeutungslosigkeit steht in umgekehrtem Verhältnis zum hochtrabenden Selbstverständnis der Europaparlamentarier. Sie bezeichnen sich als die einzige direkt gewählte supranationale Institution weltweit und als Vertretung von rund 500 Millionen Personen.

Die wirkliche Funktion des Europaparlaments besteht darin, den Brüsseler EU-Institutionen und dem damit verbundenen Koloss von 40.000, meist hoch bezahlten Bürokraten, die keiner demokratischen Kontrolle, dafür aber den Einflüsterungen zahlreicher Wirtschaftslobbyisten unterliegen, ein scheindemokratisches Mäntelchen umzuhängen.

Alle Regierungen in Europa nutzen die Europäische Union, um die Last der Finanz- und Wirtschaftskrise auf die Bevölkerung abzuwälzen. Dazu dienen von Brüssel verordnete Wettbewerbsvorschriften, der systematische Abbau demokratischer Rechte und die Errichtung eines europäischen Polizeistaats. Schon jetzt ist die EU-Kommission zum Synonym für Deregulierung, Liberalisierung und den Abbau von Arbeitnehmerrechten geworden. Anstatt die sozialen und regionalen Gegensätze in Europa auszugleichen, verschärft sie diese. Immer unverblümter treten die EU-Institutionen einschließlich des Europaparlaments als Werkzeuge der europäischen Großmächte und der einflussreichsten Wirtschaftsgruppen in Erscheinung.

Daher ist die wachsende Ablehnung der EU in großen Teilen der Bevölkerung zu begrüßen.

Doch es genügt nicht, der Europäischen Union und den Europawahlen die kalte Schulter zu zeigen und sich desinteressiert abzuwenden. Bleibt die Zukunft Europas in den Händen der Finanzaristokratie und der Brüsseler EU-Bürokratie, dann ist eine Katastrophe unausweichlich. Es ist notwendig, dass die Arbeiter in die Entwicklung eingreifen und das Schicksal Europas selbst in die Hand nehmen.

Deshalb engagieren sich die Partei für Soziale Gleichheit (PSG) und die britische Socialist Equality Party (SEP) gemeinsam mit allen Unterstützern des Internationalen Komitees der Vierten Internationale in Europa stark im gegenwärtigen Europawahlkampf. Ihr Ziel ist es, der wachsenden Opposition gegen die EU eine fortschrittliche, das heißt sozialistische Perspektive zu geben.

Die internationale Finanz- und Wirtschaftskrise hat bereits jetzt katastrophale Auswirkungen auf Europa. Die Industrieproduktion geht dramatisch zurück und die Rezession entwickelt sich in Rekordtempo. Nach jüngsten Angaben sank die Industrieproduktion (ohne Baugewerbe) in den 27 EU-Ländern im Februar gegenüber dem Vorjahr um durchschnittlich 18,4 Prozent.

Anfang der Woche kommentierte die Süddeutsche Zeitung die Situation unter der Überschrift "Die dritte Phase der Krise" mit den Worten: "Die Wirtschaftskrise und ihre Wahrnehmung in der Öffentlichkeit stehen in einem merkwürdigen Widerspruch. Immer tiefer weisen die Konjunkturdaten nach unten, immer finsterer fallen die Prognosen aus. Die Deutschen aber bleiben gelassen." Mit dieser Ruhe werde es aber "bald vorbei sein", heißt es weiter. "Denn die Krise erreicht in den kommenden Monaten ihre dritte Phase: Die sozialen Sicherungssysteme geraten ins Wanken." Das werde die Menschen stärker erschüttern als alle bisherigen Auswirkungen der Krise.

Besonders schlimm ist die Situation in Osteuropa. Zwanzig Jahre nach dem Zusammenbruch der stalinistischen Regime ist für jedermann sichtbar, dass die Einführung des Kapitalismus ein kolossaler gesellschaftlicher Rückschritt war. Eine kleine Elite, bestehend aus neuen Reichen und alten Stalinisten, hat das gesellschaftliche Eigentum vereinnahmt und schwelgt nun in protzigem Reichtum, während für die Masse der Bevölkerung das blanke Elend herrscht.

Nicht eine der etablierten Parteien vertritt die Interessen der Bevölkerung. Das gilt auch für die so genannten Linksparteien. Lafontaines Linke in Deutschland, Mélenchons Linkspartei und Besancenots Neue Antikapitalistische Partei in Frankreich, Rifondazione Comunista in Italien, Syriza in Griechenland und ähnliche Formationen in anderen Ländern sind gegründet worden, um die Lücken zu füllen, die der Niedergang der sozialdemokratischen und stalinistischen Parteien hinterlassen hat. Sie bieten sich als Ordnungsfaktor zur Aufrechterhaltung der bürgerlichen Verhältnisse an und sehen ihre Hauptaufgabe darin, eine revolutionäre Entwicklung unter Arbeitern zu verhindern.

In dieser Situation nutzen PSG und SEP die Europawahl, um ein sozialistisches Programm bekannt zu machen und die Diskussion darüber zu entwickeln.

Im Mittelpunkt des Programms steht eine internationale Perspektive, die davon ausgeht, dass Arbeiter über alle Grenzen hinweg zusammenarbeiten müssen, um Lohnsenkung, Massenentlassungen und Sozialabbau gemeinsam zu bekämpfen. Alle Versuche der Regierungen und der Gewerkschaften, die Last der Krise auf die Bevölkerung abzuwälzen und dabei die Arbeiter gegeneinander auszuspielen und aufzuhetzen, müssen entschieden zurückgewiesen werden.

Die Arbeiter tragen nicht die geringste Verantwortung für die Krise. Sie waren nicht an den riskanten Spekulationsgeschäften beteiligt. Sie haben nicht Millionen oder gar Milliarden in die eigene Tasche gescheffelt. Anstatt der Finanzaristokratie hunderte Milliarden zur Rettung ihrer Profite zur Verfügung zu stellen, müssen die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen und mit ihrem Privatvermögen haftbar gemacht werden.

Die prinzipielle Verteidigung der Arbeitsplätze, Löhne und Arbeitsbedingungen erfordert einen Bruch mit den bestehenden Gewerkschaften, die immer neue Zugeständnisse unterschreiben und die Tarifverträge benutzen, um Verschlechterungen durchzusetzen und jede selbstständige Regung der Arbeiter zu verhindern. Unabhängig von den Gewerkschaften und Betriebsräten müssen Fabrikkomitees aufgebaut werden, die den Widerstand in Form Streiks und Betriebsbesetzungen organisieren.

Eine solche Mobilisierung muss zum Ausgangspunkt für die Errichtung von Arbeiterregierungen in Europa gemacht werden, die den Bedürfnissen der Gesellschaft Vorrang gegenüber den Profitinteressen der Kapitalbesitzer einräumen. In diesem Kampf für die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa gewinnt der Europawahlkampf wichtige Bedeutung.

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