Iran und die öffentliche Meinung

Woche für Woche erhält die World Socialist Web Site scharenweise Zuschriften, die ein breites Meinungsspektrum abdecken und von freundlicher Unterstützung bis hin zu grimmiger Feindschaft reichen. Gelegentlich erhalten wir Briefe - zustimmender oder feindlicher Natur - die besonders ins Auge fallen, weil sie eine weit verbreitete Meinung zu einer speziellen, politischen oder gesellschaftlichen Frage in ungewöhnlicher Klarheit zum Ausdruck bringen.

Als Antwort auf den Perspektivartikel vom 25. Juni, "Iran und die Öffentliche Meinung" [auf Deutsch am 26. Juni], erhielten wir zwei solcher Briefe von einem Leser, der unsere Berichterstattung über die iranische Entwicklung wütend anprangert. Der Perspektivartikel, den er beanstandete, ging auf den Machtkampf im Iran ein und untersuchte die lange und blutige Verstrickung der Vereinigten Staaten in die Angelegenheiten dieses unterdrückten Landes. Wir erklärten darin, dass dem massiven Propagandafeldzug in der US-Presse seit den iranischen Wahlen ganz definitive Interessen zugrunde liegen.

Im ersten Brief heißt es:

Ihr entehrt das mutige Volk des Iran, das für das Recht auf freie Meinungsäußerung auf den Straßen stirbt. Ihr braucht nicht erst die New York Times zu lesen, um zu wissen, dass die iranischen Wahlen gefälscht waren; schaut auf das Volk in den Straßen, das gegen den Faschismus aufsteht. Kein Mensch, der bei Trost ist, glaubt, dass Ahmadinedschad zwei Drittel der Stimmen gewonnen hat.

Ich habe eure Website früher gelesen, um etwas Licht ins Dunkel zu bringen, aber jetzt hat eure Unterstützung für die faschistischen Diktatoren im Iran mir gezeigt, was ihr in Wirklichkeit für ein falscher und verlogener Haufen seid; ihr seid nicht besser als die Rechtsextremen, die so schnell bereit sind, die Wahrheit zu verdrehen, wenn es um ihren ideologischen Vorteil geht.

Etwas später am gleichen Tag schickte der Schreiber noch einen zweiten Brief:

Euer ‘Perspektivartikel’ ist empörend. Er enthält keine Verurteilung der schändlichen und unmenschlichen Niederschlagung von friedlichen Demonstrationen durch die Faschisten, die im Iran an der Macht sind. Wir bekommen nur immer dasselbe ermüdende Geschwätz über US-Imperialismus zu hören. Hier geht es aber nicht um Mossadegh. Es geht nicht um den Schah oder um Saddam Hussein.

Die Welt hat sich bis zu dem Punkt weiter entwickelt, wo Menschen in den Straßen für Demokratie kämpfen und sterben, und ihr steckt in einer Zeitschleife fest und gebt die immer gleichen alten Slogans von euch. Beschämend!

Was diese Briefe politisch, intellektuell und gesellschaftlich bedeuten, zeigt sich an der Stelle, wo sich der Schreiber voller Verachtung über das "ermüdende Geschwätz über US-Imperialismus" in der World Socialist Web Site auslässt. Für unsern wütenden Kritiker hat die Rolle des amerikanischen Imperialismus keine Bedeutung für die Entwicklung im Iran; sie ist nur für jene wichtig, die "in einer Zeitschleife fest stecken".

Anders ausgedrückt: "Imperialismus" ist passé. Kein Grund, darüber zu sprechen, wenn es um die Untersuchung aktueller Ereignisse geht. Warum das so ist, sagt unser Kritiker nicht. Die Tatsache, dass die Vereinigten Staaten gegenwärtig in drei Ländern Krieg führen, die unmittelbar an den Iran grenzen, (nämlich im Irak, in Afghanistan und in Pakistan), wird als unwichtig abgetan. Es spielt auch keine Rolle, dass der Iran den strategisch wichtigen Persischen Golf kontrolliert und immense Öl- und Erdgas-Ressourcen besitzt. Wir müssen auch annehmen, dass die Hinweise der WSWS auf den Putsch von 1953 gegen das Mossadegh-Regime, der mit Hilfe der CIA zustande kam, und auf die darauf folgende, 25-jährige Militärdiktatur ebenfalls irrelevantes "Geschwätz" seien - obwohl wir stark vermuten, dass sich Millionen Iraner noch bestens an das Schah-Regime erinnern.

Die Briefe sind typisch für eine breite Schicht liberaler und kleinbürgerlicher "Linker", die auf den Propagandafeldzug der amerikanischen und westlichen Medien zur Unterstützung der "demokratischen" Oppositionsbewegung im Iran reagieren. Natürlich verwendet unser Kritiker keine Mühe darauf, die Glaubwürdigkeit der aktuellen Helden von US-Gnaden zu überprüfen, geschweige denn das Programm, das sie vertreten, oder die Klassenkräfte, an die sie sich wenden. Das alles wäre wohl ebenfalls bloß "Geschwätz".

Unser Kritiker spricht über "Faschismus". Aber er lässt jede Analyse der gesellschaftlichen Kräfte als Grundlage seiner Einschätzung vermissen. Das ist kein unwichtiges Versäumnis. Der Faschismus wird - zumindest in der marxistischen Tradition - als Bewegung des Kleinbürgertums aufgefasst. Selbst erbitterte Gegner des Ahmadinedschad-Regimes in der bürgerlichen Presse (dürfen wir noch so nennen?) geben zu, dass die regierungsfeindlichen Kräfte ihre Massenbasis in der städtischen Mittelschicht haben, und besonders unter jenen Schichten, die die populistische Wirtschaftspolitik der Regierung ablehnen.

Das heißt nicht, dass die Proteste gegen Ahmadinedschad "faschistisch" seien. Man muss vorsichtig sein und eine heterogene Bewegung der Gesellschaft nicht leichtfertig abstempeln. Die Proteste schließen offensichtlich Elemente ein, die aufrichtig gegen das demokratiefeindliche islamische Regime kämpfen wollen. Aber sie sind politisch verwirrt und orientieren sich nicht an der Arbeiterklasse. Ihre Aufrichtigkeit ist kein Ersatz für ein sozialistisches Programm. Und außerdem bestimmen solche Elemente nicht, wo es bei den Protestdemonstrationen lang geht.

Unser Kritiker erklärt, dass die Demonstranten "auf den Straßen für Demokratie kämpfen und sterben...". Er untersucht nicht, was diese Kräfte - oder, genauer, was die Fraktionen des herrschenden islamischen Establishments, die die Demonstrationen organisieren - tun würden, wenn sie die Oberhand bekämen. Er erklärt nicht, weshalb sich das Ergebnis eines Machtübergangs an die Mussawi-Fraktion so grundlegend von all dem unterscheiden würde, was in anderen "Farben"-Revolutionen passiert ist, die von der CIA unterstützt und von den amerikanischen Medien gepriesen wurden. Zum Beispiel war das Saakaschwili-Regime, das unter Berufung auf Demokratie an die Macht kam, erst vor kurzem in einen Stellvertreterkrieg gegen Russland verwickelt, der von den USA finanziert wurde, und ist gegenwärtig dabei, Massenproteste zu unterdrücken.

Unser Leser, der darauf besteht, dass imperialistische Interessen bei den aktuellen Ereignissen im Iran keine Rolle spielen, könnte etwas lernen, wenn er den Blick auf einen Artikel werfen würde, der am Freitag in der New York Times erschien. Unter der Überschrift "Behutsame Schritte vorwärts bei Ölverträgen" berichtet ein Times -Korrespondent aus Bagdad: "Wenn der Irak am Montag die Erschließungsrechte einiger seiner größten Ölfelder für ausländische Gesellschaften zur Ausschreibung freigibt, wird ein Wendepunkt erreicht sein. Es wird für Ölriesen wie ExxonMobil die erste Chance sein, die Ressourcen eines Landes wieder anzuzapfen, aus dem sie vor fast vierzig Jahren hinausgeworfen wurden."

Der Bericht zitiert einen früheren Chef von ExxonMobil, Daniel Nelson, der der Times sagte: "Ich gehe davon aus, dass jede internationale Ölgesellschaft der Welt am Irak interessiert ist, denn es ist bekannt, dass der Irak mit dem sagenhaften Gottesgeschenk natürlicher Ressourcen gesegnet ist."

Ist es so schwer, sich ähnliche Berichte aus dem Iran vorzustellen, ein oder zwei Jahre, nachdem dort die von der CIA unterstützten Fraktionen gewonnen haben?

Wir möchten auf den Brief unsres Kritikers besonders aufmerksam machen, weil er eine wichtige politische Reaktion auf die iranische Krise widerspiegelt. Es ist häufig so, dass sich in einer Krise oftmals ein scheinbar plötzlicher Wandel in der öffentlichen Meinung zeigt. Es wird jedoch rasch klar, dass dieser "plötzliche" Wandel das Ergebnis von gesellschaftlichen und politischen Prozessen ist, die sich über einen längeren Zeitraum entwickelt haben.

An der iranischen Krise fällt nicht zuletzt die ungenierte Solidarität so mancher "progressiven" und "linken" Publikation und Organisation mit der Medienkampagne in Amerika und Europa ins Auge. In den Vereinigten Staaten stellen sich die selbsternannten Progressiven des Magazins The Nation, wie auch praktisch alle opportunistischen "linken" Gruppen, auf die Seite der Obama-Regierung und der amerikanischen Medien und unterstützen die "Farbenrevolution" im Iran. In Großbritannien tut die Socialist Workers Party dasselbe. Die Neue Antikapitalistische Partei von Olivier Besancenot in Frankreich hat ihre Unterstützung für "alle jene" erklärt, "die mit der islamischen Republik Schluss machen wollen", und bereitet sich darauf vor, gemeinsam mit Anhängern der Sarkozy-Regierung an einer Demonstration teilzunehmen.

In Deutschland begrüßen die Grünen, die sich gerade auf eine Koalition mit den rechten Christdemokraten von Angela Merkel vorbereiten, begeistert die iranische Opposition unter Mussawi und Rafsandschani.

Natürlich ist es möglich, und das hoffen wir natürlich, dass unser Kritiker, sobald er einmal in Ruhe nachdenkt, seine Meinung ändern wird. Aber unabhängig von diesem Einzelfall steht außer Frage, dass viele ehemalige Linksliberale scharf nach rechts gehen, und die iranische Krise bietet ihnen die Gelegenheit, offen mit ihren alten politischen Glaubenssätzen zu brechen. Die Wurzeln dieses Phänomens liegen in realen Gesellschaftsprozessen, die mit der extremen Polarisierung der Klassenbeziehungen in allen kapitalistischen Ländern zusammenhängen. Diese Polarisierung wird durch die globale Wirtschaftskrise noch verschärft.

Die Mittelschichten, die in den reformistischen, liberalen und selbst "radikalen" Organisationen den Ton angeben, erleben seit Jahrzehnten, wie sich ihre wirtschaftliche Stellung und ihr sozialer Status verbessern. Sie sind selbstzufrieden und satt geworden und fühlen sich in der heutigen Gesellschaft wohl.

Ihre politische Weltanschauung dreht sich um Identität und um etwas, das man "Lifestyle"-Politik nennen könnte. Aus diesem Grund kann die öffentliche Meinung der Mittelschichten so leicht für die Proteste der gutbetuchten Männer und Frauen in Teheran eingenommen werden, deren gesellschaftliche Einstellung, zumindest an der Oberfläche, der ihren so ähnlich zu sein scheint. Die besser gestellten Mittelschichten haben eine erhebliche Portion sozialen Egoismus’ entwickelt, während der Lebensstandard und die soziale Stellung der Arbeiterklasse drastisch abgesunken sind.

In diesem Zeitraum haben sich jene Schichten immer mehr von der Arbeiterklasse entfernt und bis zur offenen Feindschaft entfremdet. Dies kommt in zahlreichen Kommentaren der "linken" Presse zum Ausdruck, die sich abfällig über die "rückständigen" und "gottesfürchtigen" Arbeiter im Iran äußern und sie mit den gebildeten und wirtschaftlich besser gestellten Beamten, Geschäftsleuten und Studenten vergleichen, die die soziale Basis der Opposition bilden.

Was bedeutet das? Die Opposition gegen Imperialismus geht immer offener auf die einzig konsequente revolutionäre Kraft auf dem Planeten über, auf die internationale Arbeiterklasse. Im Iran und weltweit besteht die grundlegende politische Aufgabe darin, eine unabhängige, revolutionäre, sozialistische Bewegung der Arbeiterklasse aufzubauen.

Der Zusammenbruch der liberalen und ex-radikalen "Linken" deutet klar darauf hin, dass die Arbeiterklasse sich wieder erhebt und eine neue Periode von Klassenerschütterungen im Weltmaßstab bevorsteht.

Siehe auch:
Internationale Fragen in der Iran-Krise
(26. Juni 2009)
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