Bundesverfassungsgericht stärkt Nationalstaat gegen die EU

Das Bundesverfassungsgericht (BVG) hat am Dienstag ein Urteil gefällt, das die zukünftige Entwicklung Europas nachhaltig beeinflussen wird. Das Karlsruher Gericht hat der Europäschen Union enge Grenzen gesetzt und festgelegt, dass bei allen wichtigen Fragen die letzte Entscheidungskompetenz beim Nationalstaat - konkret: bei den beiden Kammern des deutschen Parlaments und bei ihm selbst - liegt. Es hat die demokratische Legitimation des Europaparlaments in Frage gestellt und das Recht des Europäischen Gerichtshofs bestritten, letztinstanzliche Urteile zu fällen.

Das BVG entschied über mehrere Klagen gegen den Lissabon-Vertrag, der an die Stelle der gescheiterten Europäischen Verfassung treten und der EU mehr Kompetenzen einräumen soll. Deutschland hat - neben Irland, Polen und der Tschechischen Republik - als einziges EU-Mitglied den Vertrag noch nicht endgültig ratifiziert. Bundestag und Bundesrat haben ihm zwar zugestimmt, Bundespräsident Horst Köhler hat seine Unterschrift aber bis zum Urteil des BVG zurückgehalten.

Dieses hat nun entschieden, der Lissabon-Vertrag sei zwar grundsätzlich mit der deutschen Verfassung vereinbar, dürfe aber erst ratifiziert werden, nachdem ein von Bundestag und Bundesrat beschlossenes Begleitgesetz gründlich überarbeitet worden sei. Die detaillierten Vorgaben des BVG für das neue Begleitgesetz stellen den Lissabon-Vertrag auf den Kopf. Räumt dieser der EU und ihren Institutionen zusätzliche Kompetenzen und erweiterte Entscheidungsbefugnisse ein, so schränkt das BVG-Urteil diese ein. Es legt einen Kernbestand an Aufgaben und Strukturen fest, über den nicht in Brüssel, sondern allein in Deutschland entschieden werden darf.

Die Liste dieses Kernbestands ist ausführlich und lang. Sie umfasst alle Politikfelder, "die die Lebensumstände der Bürger prägen und die in besonderer Weise auf kulturelle, historische und sprachliche Vorverständnisse angewiesen sind". Als Beispiele führt das BVG das Strafrecht, Polizei, Militär, Steuern, Sozialpolitik, Erziehung, Bildung, Medienordnung und der Umgang mit Religionsgemeinschaften auf. In all diesen Bereichen erlaube es das Grundgesetz nicht, dass Regierung und Rechtsprechung Zuständigkeiten auf die EU übertragen.

Auch das Europaparlament ist nach dem Urteil des BVG nicht befugt, über derartige Fragen zu entscheiden. Es sei "nicht gleichheitsgerecht gewählt" und nicht zu "maßgeblichen politischen Leitentscheidungen berufen", heißt es in dem Urteil. Es vertrete kein "souveränes europäisches Volk", sondern sei lediglich ein überstaatliches Vertretungsorgan der Völker der Mitgliedsstaaten.

Das BVG will selbst als letzte Instanz darüber wachen, dass die EU ihre Kompetenzen nicht überschreitet. Das bringt es in Konflikt zum Europäischen Gerichtshof (EuGH), der sich als höchste Instanz in europäischen Rechtsfragen betrachtet. Das deutsche Verfassungsgericht werde dem EU-Gericht künftig "im Nacken sitzen" und sich nicht als nachgeordnete Instanz des EuGH begreifen, kommentiert der Verfassungsrechtler Rupert Scholz das BVG-Urteil. Die Karlsruher Richter empfehlen sogar den Austritt aus der EU, sollte diese auf ihren Hoheitsrechten beharren. Die Bundesrepublik müsse "im äußersten Fall sogar ihre weitere Beteiligung an der Europäischen Union verweigern", heißt es im Urteil des BVG.

Das Verfassungsgerichtsurteil kennzeichnet eine Kehrtwende der deutschen Europapolitik, die jahrzehntelang darauf ausgerichtet war, die europäische Integration zu vertiefen und auszuweiten. Dabei hatte sich Deutschland indirekt einen dominierenden Einfluss gesichert, indem es seine Größe und sein ökonomisches Gewicht zur Geltung brachte. Nun steht das nationale Interesse wieder offen im Vordergrund. "Da mag man in Karlsruhe noch so oft die eigene Europafreundlichkeit betonen - die Botschaft lautet: Wir haben die Hosen an", fasste ein Kommentar der F.A.Z. den Tenor des Urteils zusammen.

Die Folge wird eine Verschärfung der nationalen Gegensätze in ganz Europa sein. Wenn Deutschland als größtes EU-Mitglied dem nationalen Interesse oberste Priorität einräumt, werden dies auch alle anderen 26 EU-Mitglieder tun. Das BVG-Urteil verstärkt eine Tendenz, die sich mit der Vertiefung der Weltwirtschaftskrise immer deutlicher abzeichnet: das erneute Aufbrechen der nationalen Egoismen und Konflikte, die Europa im zwanzigsten Jahrhundert zweimal in die Katastrophe gestürzt haben.

Das Verdienst für das Karlsruher Urteil wird vor allem Peter Gauweiler zugeschrieben. Der Bundestagsabgeordnete, der am rechten Rand der CSU steht, hatte sich der eigenen Fraktion widersetzt und Verfassungsklage gegen den Lissabon-Vertrag erhoben. Nun sieht er sich durch das Urteil voll bestätigt.

Gauweiler ist ein rechter, nationalistischer Gegner der EU. Das Karlsruher Urteil kommentierte er mit den Worten, die Verfassungsrichter hätten der Idee eines "Europas der Vaterländer" zum Sieg verholfen. Dieser Begriff, der 1962 vom französischen Präsidenten Charles de Gaulle geprägt wurde, ist mittlerweile das Markenzeichen rechter Europaskeptiker und EU-Gegner. Auch offen faschistische Parteien, wie die deutsche NPD und der französische Front National, verwenden ihn.

Das hinderte die Spitzen sämtlicher Bundestagsparteien nicht daran, Gauweiler zu gratulieren und den Richterspruch zu loben. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sprach von einem "guten Tag für den Lissabonner Vertrag". Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU), sonst kein Freund demokratischer Rechte, sagte, das Urteil helfe der Demokratie. Der europapolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Axel Schäfer, und der Spitzenkandidat der Grünen, Jürgen Trittin, lobten, das Urteil stärke den Bundestag.

Die größte Unterstützung bekam Gauweiler aber von der Linkspartei, die ebenfalls gegen den Lissabon-Vertrag geklagt hatte. Als der Bundestag am Mittwoch über das Lissabon-Urteil diskutierte, bot er ein denkwürdiges Schauspiel. Die Abgeordneten der Linken beklatschten fast jeden Satz des notorischen Rechten Gauweiler. Linken-Fraktionschef Gregor Gysi sprach Gauweiler sogar mehrfach seinen Dank aus. Die Linkspartei sah keinen Grund, ihre Opposition gegen den Lissabon-Vertrag von der Opposition Gauweilers abzugrenzen. Sie feierte das Urteil als demokratischen Erfolg. Das BVG habe "der Bundesregierung und der Mehrheit des Bundestags eine demokratische Nachhilfestunde erteilt", heißt es in einer Erklärung der Parteispitze.

Ähnliche Reaktionen kamen aus liberalen Kreisen. So bezeichnete Heribert Prantl, Leiter des innenpolitischen Ressorts der Süddeutschen Zeitung und Träger zahlreicher demokratischer Auszeichnungen, das Urteil als "Europäische Sternstunde". Es richte sich nicht gegen die europäische Integration, sondern betone "die Grundsätze der Demokratie, in deren Zentrum der Wille des Volkes steht", und beende "Brüsseler Selbstherrlichkeiten". "Es haben nicht acht Europa-Kritiker geurteilt, sondern acht europäische Demokraten", meinte Prantl. "Das Urteil verurteilt den Bundestag zu mehr Demokratie." Auch sein Kommentar endete mit einem Lob auf Gauweiler, der wie der Zöllner in Bertold Brechts Gedicht über die Entstehung des Buches Taoteking dem Weisen die Niederschrift seiner Weisheit abverlangt und so "der Demokratie einen Dienst getan" habe.

Prantl und die Linkspartei sind völlig blind gegenüber den Klassenfragen, die in der Auseinandersetzung mit der EU beinhaltet sind. Die Ablehnung der "Brüsseler Selbstherrlichkeiten" ist für sie gleichbedeutend mit der Stärkung der nationalen Souveränität: Die EU ist undemokratisch, der Bundestag dagegen die Verkörperung der Volkssouveränität. Und das obwohl jede Wahl beredtes Zeugnis von der wachsenden Entfremdung zwischen den offiziellen Parteien und der Masse der Bevölkerung ablegt. Sämtliche Umfragen beweisen, dass die Haltung des Bundestags zum Afghanistaneinsatz, zu Hartz IV und zu zahlreichen anderen Fragen in diametralem Gegensatz zum Willen der Bevölkerungsmehrheit steht.

Diese Haltung bringt die Linkspartei und Prantl in ein Bündnis mit rechten EU-Gegnern, zu denen neben Gauweiler auch die britischen Tories, die polnische PiS der Kaczynski-Brüder und andere widerwärtige Formationen gehören, deren EU-Gegnerschaft mit nationaler Abschottung, Rassismus und nicht selten Antisemitismus einhergeht. Auch die Ablehnung demokratischer Grundrechte, wie des Rechts auf Abtreibung, findet sich in ihrem Programm.

Prantl und der Linkspartei fällt noch nicht einmal auf, dass die vom BVG erlassene Liste des "Kernbestands" grundgesetzlich geschützter Aufgaben eine bemerkenswerte Lücke enthält: Märkte, Konzerne und Finanzinstitute unterliegen nicht der nationalen Souveränität. Deshalb hat das BVG den Lissabon-Vertrag auch grundsätzlich akzeptiert. Sein Urteil richtet sich nicht gegen die Macht der Finanz- und Wirtschaftsinteressen, die in Brüssel den Ton angeben. Es fürchtet vielmehr, dass die abgehobenen Brüsseler Institutionen die Kontrolle über die wachsende Opposition aus der Arbeiterklasse verlieren könnten. Daher stärkt es den Nationalstaat und seinen Repressionsapparat, die Polizei und die Justiz.

Auch ökonomisch ist der Nationalismus, der im BVG-Urteil zum Ausdruck kommt, reaktionär. Die europäische Industrie ist aufs Engste miteinander verflochten. Millionen Arbeiter in Europa - und weltweit - sind durch den Produktionsprozess fest miteinander verbunden. Die nationalen Grenzen sind längst zu einem Hindernis für die Entwicklung der Produktivkräfte geworden. Die Vereinigung Europas ist dringend erforderlich. Doch solange die Produktivkräfte im Privateigentum bleiben und der Vermehrung des Reichtums einiger Weniger dienen, ist eine Einigung im Interesse der europäischen Bevölkerung unmöglich. Der Kampf um Profit und Absatzmärkte schürt unweigerlich die nationalen Gegensätze, die schließlich in Krisen und Kriege münden.

Der Lissabon-Vertrag bestätigt das. Er baut die Schranken für die mächtigsten Finanz- und Wirtschaftinteressen weiter ab, während sich die soziale Spaltung Europas vertieft, die Außengrenzen hermetisch gegen Immigranten abschottet werden und der Polizei- und Überwachungsapparat ausgebaut wird. Der Kampf gegen diesen Vertrag kann nur auf sozialistischer Grundlage geführt werden. Er erfordert den Zusammenschluss der europäischen Arbeiterklasse. Der Kampf für Demokratie ist untrennbar mit dem Kampf gegen soziale Ungleichheit verbunden. Sein Ziel darf nicht die Verteidigung der nationalen Souveränität sein, sondern der Aufbau Vereinigter Sozialistischer Staaten von Europa.

Dafür treten das Internationale Komitee der Vierten Internationale und seine Sektionen, die Partei für Soziale Gleichheit in Deutschland und die Socialist Equality Party in Großbritannien ein.

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