Chinesisch-indische Grenzverhandlungen lassen wachsende Spannungen erkennen

Die 13. Runde der Grenzgespräche zwischen China und Indien am 7. und 8. August in Neu-Delhi brachte eine Zuspitzung der Spannungen zwischen den beiden regionalen Rivalen.

China schickte seinen Sondergesandten Staatsrat Dai Bingguo zu dem Treffen mit der indischen Delegation, die vom Nationalen Sicherheitsberater M.K. Narajanan geleitet wurde. Nach der Zeitung Hindu, die sich auf "informierte Kreise" berief, war das unmittelbare Ziel der Gespräche die Vorbereitung einer gemeinsamen Position für das Endstadium der Verhandlungen. Dann soll "die ganze Frage der Grenzziehung für beide Seiten hieb- und stichfest gemacht werden".

Mit anderen Worten, seit Beginn der Gespräche 2003 sind nicht einmal ansatzweise konkrete Fragen diskutiert worden. Das einzige bekannt gewordene Ergebnis der letzten Runde war eine Abmachung über die Schaltung einer Hotline zwischen den beiden Ministerpräsidenten. Bisher hatte Indien eine solche Hotline nur mit Russland, daher wird diese Maßnahme als freundliche Geste gegenüber China gewertet.

China hat seit 1959 eine 4.000 km lange "vorläufige Grenzlinie" zu Indien, die von Kaschmir bis nach Burma verläuft. Im Jahr 1914 zog Großbritannien die "McMahon-Linie" zwischen Indien und Tibet, und legte damit die Saat für den künftigen Konflikt zwischen den beiden Ländern. China beansprucht ungefähr 90.000 Quadratkilometer vom Nordosten Indiens, vor allem Gebiete des Staates Arunachal Pradesch, der in Peking als "Südtibet" bezeichnet wird. Indien wiederum beansprucht 43.180 Quadratkilometer der chinesischen Region Aksai Chin in Ostkaschmir.

Nach Konflikten um Tibet führten die beiden Länder im Jahr 1962 einen Grenzkrieg, bei dem die indischen Truppen unterlagen. Nachdem die USA mit einer Intervention zu Gunsten Indiens gedroht hatten, zog sich die chinesische Armee jedoch zurück und erklärte einseitig eine Feuerpause. Wegen der zunehmenden chinesisch-sowjetischen Spannungen und weil Moskau sich weigerte, China in der Indienfrage zu unterstützen, war Peking nicht mehr in der Position, einen offenen Krieg mit Indien zu führen.

Seit den frühen 1990er Jahren sind die ungelösten Grenzstreitigkeiten zwischen den zwei aufstrebenden Mächten wieder brisant. Obwohl China inzwischen Indiens größter Handelspartner ist, verschärften sich mit der globalen Krise die Spannungen zwischen den beiden Staaten. Indien untersagt inzwischen den Import einer Reihe von chinesischen Gütern.

Es war ein beispielloser Vorgang als Peking im April den Versuch unternahm, einen Kredit der Asiatischen Entwicklungsbank (ADB) in Höhe von 2,9 Milliarden US-Dollar an Indien zu blockieren. In dem Paket waren auch 60 Millionen Dollar für ein Projekt zum Schutz vor Überflutungen in Arunachal Pradesch enthalten. Dieses Projekt fachte eine 2006 ausgebrochene Kontroverse wieder an: Damals hatte der chinesische Botschafter in Indien erklärt: "Der ganze Staat Arunachal Pradesch ist chinesisches Territorium."

Im Juni erhielt Indien die Gelder nach einer Abstimmung des ADB-Vorstands; was offenbar auf amerikanische und japanische Schützenhilfe zurückzuführen war. China reagierte auf die Zusage der Bank mit scharfem Protest.

Im gleichen Monat kündigte Indien die Entsendung von zusätzlichen 60.000 Soldaten, mit Panzern und zwei Schwadronen SU-30MKI Bombern, in den Bundesstaat Assam (unweit Arunachal Pradeschs) an. Damit wird die regionale Gesamttruppenstärke ungefähr auf 100.000 Soldaten erhöht.

Als Reaktion darauf veröffentlichte das offizielle Sprachrohr Chinas, die Global Times, am 9. Juni einen Leitartikel mit der Warnung an Indien, "aufzupassen, ob es sich die Folgen einer etwaigen Konfrontation mit China leisten kann." Der Leitartikel erinnerte Neu-Delhi daran, dass China enge Beziehungen zu Pakistan, Sri Lanka, und Nepal aufgebaut habe. "China wird in seinen Grenzauseinandersetzungen mit Indien auf keinerlei Kompromisse eingehen", hieß es weiter.

Am 7. August sagte ein nicht namentlich genannter chinesischer Beamter der South China Morning Post, Indien verschärfe den Grenzstreit mit China, weil es mit Hilfe der USA und Japans die ADB-Gelder bekommen habe. "Indien hat genug Geld für die Entwicklung Arunachal Pradeschs", erklärte er. "...Aber es will die Chinesen herausfordern. China hat sich dem Kredit mit Zähnen und Klauen widersetzt, Indien jedoch ließ sich nicht davon abbringen. Wir haben unser Gesicht verloren. Und das mögen wir überhaupt nicht. Wer uns demütigt, wird auch von uns gedemütigt."

Inzwischen klagten indische Beamte, Peking habe ihren Vorschlag abgelehnt, Indien solle Arunachal Pradesch behalten und im Gegenzug dafür der chinesischen Hoheit über Aksai Chin zustimmen. Gegenüber der South China Morning Post sagte ein Beamter des indischen Außenministeriums: "China hat einen gewaltigen Überlegenheitskomplex entwickelt. Es denkt, dass jegliches Geben-und-Nehmen im Hinblick auf Indien an seinem eingebildeten Image als asiatischer Vormacht kratzt."

Chinas Botschafter in Indien, Zhang Jan, bat beschwörend, beide Seiten sollten ihren Streit "mit der größtmöglichen politischen Weisheit beilegen." Brahma Chellaney, Analytiker für Strategiefragen am Zentrum für Politische Studien in Neu-Delhi sagte dem Indian Express : "Mr. Zhangs sentimental klingende Worte sollen die (Grenz-)Verhandlungen vor den Folgen der gegen Indien gerichteten beleidigenden Angriffe in den chinesischen staatlichen Medien retten. China beabsichtigt, Indien in endlose und unfruchtbare Grenzgespräche zu verwickeln, damit China zwischenzeitlich das Kräftegleichgewicht im Himalaja durch Ausbau seiner Militärpräsenz und durch Infrastrukturmaßnahmen klar zu seinen Gunsten ändern kann."

2006 baute China eine große Eisenbahnlinie zur tibetischen Hochebene, was von indischen Vertretern und Verteidigungsexperten vor allem als Projekt angesehen wird, das bei einem eventuellen Angriff auf Indien eine schnelle Truppenverlagerung ermöglichen soll. China dehnt seine Einflusssphäre auch auf zahlreiche südasiatische Länder aus und knüpft dort eine so genannte "Perlenkette" aus Häfen und anderen Einrichtungen für den Einsatz von Kriegsschiffen im Indischen Ozean. Eine Entwicklung, die in Neu-Delhi Besorgnisse über ein Eindringen Chinas in den indischen "Hinterhof" auslöst.

Der schroffe Umgangston drang an die Öffentlichkeit, als die chauvinistische Website China International Strategy Net gesellschaftliche Spaltungen in Indien anzuheizen versuchte, um es in 20 bis 30 kleine Staaten zu zersplittern. "Es kann keine zwei Sonnen am Himmel geben", hieß es auf der Website und es wurde argumentiert, es könne in Asien nur eine Führungsmacht geben. Wie die Financial Times berichtet, wurde die Website von Kang Lingji betrieben, "der 1999 nach der Bombardierung der chinesischen Botschaft in Belgrad durch die USA beim Einhacken in die Webseiten der amerikanischen Regierung beteiligt war. Webseiten wie seine sind Teil der Strategie der Kommunistischen Partei, zur Stärkung der eigenen politischen Legitimität dem Nationalismus den Weg zu ebnen."

Ein Aufschrei in den indischen Medien zwang das indische Außenministerium am 10. August zu einer öffentlichen Stellungnahme. Darin hieß es, dass der Artikel "anscheinend Ausdruck einer individuellen Ansicht ist und nicht mit der offiziell geäußerten Position Chinas zu den indisch-chinesischen Beziehungen übereinstimmt, wie sie uns bei verschiedenen Anlässen übermittelt wurde." Als Beleg wurden die Grenzgespräche eine Woche zuvor genannt.

Indien versucht "Weltmacht" zu werden, indem es sich an die USA anlehnt, die wiederum durch eine Reihe von Atom-, Wirtschafts- und Militärverträgen gezielt versuchen, Indiens Gunst zu gewinnen. China versuchte, Indiens Aufnahme in die Gruppe der Atommächte abzuwehren, nachdem die Regierung Bush ein ziviles Atomabkommen mit Indien in die Wege geleitet hatte, um Indien als strategisches Gegengewicht zu China aufzubauen. China wiederum unterstützte Indiens Rivalen Pakistan beim Bau von Atomreaktoren und lieferte ihm Waffen.

Die chinesisch-indische Rivalität erstreckt sich bis weit in den Indischen Ozean. Angeblich zur Bekämpfung der Piraterie schickte China kürzlich Kriegsschiffe zum Geleit seiner ökonomisch lebenswichtigen Handelsflotte nach Somalia. Dieser Einsatz ist Teil des Aufbaus einer auf den Weltmeeren einsatzfähigen Kriegsmarine. Noch größere Sorgen macht Indien der wachsende Einfluss Chinas in Sri Lanka. Peking lieferte Waffen, leistete Colombo diplomatische Unterstützung und half im Mai bei der militärischen Niederschlagung der tamilischen Befreiungstiger (LTTE).

Eine Woche vor den chinesisch-indischen Gesprächen kündigte der im indischen Verteidigungsministerium für Flottenplanung zuständige Alok Bhatnagar an, dass im kommenden Jahrzehnt 107 Kriegsschiffe gebaut werden, darunter Flugzeugträger, Zerstörer, Fregatten und atomare Unterseeboote. Damit solle Chinas Flotte begegnet werden. "China entwickelt seine Flotte in großem Stil. Seine Ambitionen im Indischen Ozean sind eindeutig", erklärte Bhatnagar.

Momentan ist Indien schwächer als China. Nach einem Artikel des früheren führenden Wirtschaftsberaters Shankar Archarja in der Financial Times vom 29. Juli ist die Wirtschaft Chinas dreimal größer als die indische, das Durchschnittseinkommen ist zweieinhalb Mal höher als in Indien. Chinas Anteil am Welthandel ist fast neunmal größer als Indiens Anteil. "Trotz des raschen Exportwachstums bei indischen informationstechnologischen Dienstleistungen seit 1995", schrieb Archaja, "übertrafen die Dienstleistungsexporte Chinas die von Indien 2007 noch immer um 40 Prozent."

Der Vorsitzende des indischen Generalstabs, Admiral Sureesh Mehta, gab am 10. August zu, dass Indien dem chinesischen Militär nicht das Wasser reichen könne. "Militärisch ausgedrückt, reichen wir weder im konventionellen noch im unkonventionellen Bereich, weder nach Kapazitäten noch nach Zielsetzungen in irgendeiner Waffengattung an China heran." Weiter sagte er, Indiens jährlicher Verteidigungshaushalt in Höhe von 30 Milliarden US-Dollar sei viel geringer als Chinas 70 Milliarden Dollar. Er empfahl die Vermeidung eines Konflikts mit China, "da es halsbrecherisch wäre, Indien und China auf eine Stufe zu stellen."

Das Gleichgewicht stören vor allem die USA mit ihrem Versuch, Indien von Russland und China abzuwerben. Dies steht im Zusammenhang mit der Strategie der Regierung Obama, sich auf den Krieg in Afghanistan, Pakistan und auf die umliegenden zentralasiatischen Regionen zu konzentrieren, um so die Kontrolle über das energiereiche Herzstück des eurasischen Kontinents zu gewinnen. Die amerikanische Außenministerin Hillary Clinton unterzeichnete während ihrer Indienreise im Juli ein bedeutsames Verteidigungsabkommen und legte so die Grundlage für die Ausdehnung der bisher geringfügigen amerikanischen Waffenlieferungen an Indien, die jetzt auch Kampfflugzeuge und Hightech-Waffen umfassen werden.

Das Wall Street Journal schrieb: "Der Konkurrenzkampf ihrer Konzerne um Marktanteile im Ausland und die Modernisierung ihres Militärs lassen China und Indien eher wie zukünftige Rivalen als wie gute Nachbarn aussehen. Die Zeitung zitierte Brajesh Mishra, ehemaliger indischer Nationaler Sicherheitsberater und früher Leiter der Grenzverhandlungen mit China. Er drängte auf eine Intensivierung der Beziehungen Indiens mit den USA und anderen Ländern, und sagte: "Den Chinesen muss klar sein, wenn sie sich an der Grenze zu schaffen machen, folgt eine umgehende Reaktion, die die Ereignisse von 1962 bei Weitem übertrifft."

Das amerikanische Nuklearabkommen mit Indien verschafft Neu-Delhi nicht nur hoch entwickelte Nukleartechnik, sondern Indien wird damit faktisch auch als Nuklearmacht anerkannt. Im Juli wurde sein erstes atomgetriebenes, mit Nuklearraketen bestücktes U-Boot vom Stapel gelassen. Damit ist Indien das sechste Land der Erde, das ein solches Waffensystem besitzt. Dies unterstreicht die Gefahren, die von der Rivalität zwischen den beiden Regionalmächten ausgeht, die von Washington auch noch geschürt wird.

Siehe auch:
China umwirbt Indien
(2. Dezember 2006)
um Eindämmungsstrategie der USA abzuwehren
( 5. August 2005)
USA unterstützen indische Großmachtpläne
( 2. Dezember 2006)
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