Kinderarmut und ihre Folgen für die Entwicklung des Gehirns

Schon seit längerem ist bekannt, dass Kinder aus sozial schwachen Familien im Vergleich mit sozial besser gestellten Altersgenossen ein erhöhtes Krankheitsrisiko haben und stärker an Verhaltens- und Essstörungen leiden. Da auch schulischer Erfolg mit dem sozialen Status der Familie des Kindes zusammenhängt, haben sich Forscher und Psychologen in den letzten Jahren vermehrt mit der Frage beschäftigt, inwieweit Armut die Entwicklung des kindlichen Gehirns beeinflusst.

Anfang Juli erschien im Handelsblatt der Bericht zu einer Überblicksstudie, welche die jüngsten Ergebnisse der Forschung zu dieser Frage auswertet und zusammenfasst. Die Studie war von den Psychologen Martha Farah und Daniel Hackman von der University of Pennsylvania in Philadelphia veröffentlicht worden. In der neuen Ausgabe(10/2009) des Magazins Gehirn & Geist hat der Verfasser dieses Berichts, Christian Wolf, das Thema nun noch einmal ausführlicher erörtert.

Im Grund sind die Ergebnisse der Forschung wenig überraschend. Die Umwelt des Kindes spielt demnach eine entscheidende Rolle in der Entwicklung des Gehirns. Der Mitarbeiter eines Forscherteams, das im Jahr 2008 an der University of California in Berkley dazu Untersuchungen durchgeführt hat, stellt dazu fest: "Die Gehirne armer Kinder entwickeln sich in ihrer anregungsarmen Umgebung offensichtlich nicht vollständig." Auch ist der negative Einfluss von Armut umso gravierender, je früher ihm das Kind ausgesetzt ist. Es ist wichtig zu verstehen, dass das Gehirn zu bestimmten Zeitpunkten für seine Entwicklung bestimmte Informationen benötigt. Was wann gefordert wird, ist teilweise individuell, die Grundlinien der Gehirnentwicklung bei einem gesunden Menschen sind jedoch gleich.

Im Baby- und Kleinkindalter wird besonders das Sprachvermögen des Kindes in Mitleidenschaft gezogen. Bei Probanden mit niedrigem Sozialstatus wurde eine verminderte neuronale Aktivität im Broca-Areal festgestellt, einem wichtigen Teil des Sprachzentrums. Dieses Gehirnareal war bei ihnen sogar deutlich kleiner als bei den anderen, sozial besser gestellten Probanden.

Das Gehirn ist bei seiner Entwicklung auf Reize aus der Umwelt angewiesen. Ein armes Kind hört aber bis zu seinem vierten Lebensjahr ungefähr 30 Millionen gesprochene Wörter weniger als der Sprössling einer Durchschnittsfamilie. Dementsprechend ist auch das Vokabular eines Dreijährigen von Eltern, die arbeiten und über ein regelmäßiges Einkommen verfügen, mehr als zweimal so umfangreich wie das eines Kindes von Sozialhilfeempfängern.

Außer den sprachlichen sind aber auch andere Fähigkeiten bei sozial benachteiligten Kindern oft stark unterentwickelt. Dazu gehören die Fähigkeiten sich Ziele zu setzen, Handlungen und Arbeitsschritte zu planen sowie Impulse zu kontrollieren. Die Beeinträchtigung des Arbeitsgedächtnisses ist durch den chronischen Stress zu erklären, den die soziale Benachteiligung mit sich bringt.

Dabei spielen nicht nur finanzielle Probleme eine Rolle. In armen Familien kommt es statistisch gesehen häufiger zu Streit und häuslicher Gewalt. Auch mangelnde Zuwendung seitens der Eltern hat beim Nachwuchs großen emotionalen Stress zur Folge, worunter wiederum das Gedächtnis leidet. Mit dem Stress geht nämlich eine vermehrte Ausschüttung des Stresshormons Cortisol einher, das in einem anderen Teil des Gehirns, im Hippocampus, das Ablesen der Gene in den Nervenzellen beeinflusst.

Broca-Sprachzentrum, Hippocampus und präfrontaler Cortex Broca-Sprachzentrum, Hippocampus und präfrontaler Cortex

Der Hippocampus überführt Informationen vom Kurz- ins Langzeitgedächtnis. Ist er beschädigt, fällt es dem Menschen schwerer neue Erinnerungen zu speichern. Da bei Kindern der Hippocampus noch formbar ist, kann chronischer Stress bei ihnen sogar zur Abtötung von Nervenzellen führen. Bei Erwachsenen werden im Hippocampus neue Nervenzellen immer noch gebildet, doch auch dieser Prozess kann durch psychische Belastung gestört werden.

Auch der präfrontale Cortex, der situationsangepasst Handlungen kontrolliert und eine wichtige Rolle bei der Regulierung emotionaler Prozesse spielt, ist betroffen. Selbst der IQ ist bei sozial benachteiligten Kindern geringer, teilweise sogar unterdurchschnittlich. Bei einem Test mit adoptierten Kindern wurde festgestellt, dass deren Abschneiden ungefähr zur Hälfte mit dem sozialen Status ihrer nichtverwandten Adoptiveltern zusammenhängt.

Erhöhte Aggressivität, "Dummheit" und vermindertes Kommunikationsvermögen bzw. ein kleiner Wortschatz bei sozial Benachteiligten können somit eindeutig als Folgen von Kinderarmut auf das Gehirn gewertet werden.

Die einzig angemessene Schlussfolgerung aus diesen Erkenntnissen der Wissenschaft ist: Umstände, denen Millionen von Menschen ein unterentwickeltes Gehirn und ein miserables Leben zu verdanken haben, müssen durch eine grundlegende Umgestaltung der Gesellschaft abgeschafft werden. Vor klaren Forderungen scheut der Autor der beiden Artikel, Christian Wolf, aber zurück.

In Gehirn & Geist schreibt er am Ende: "Eltern, Pädagogen, Politiker - aber auch wir, die Gesellschaft als Ganzes - sind gefordert, Kindern mit einem niedrigen sozio-ökonomischen Status einen guten Start ins Leben zu ermöglichen und faire Chancen auf Entwicklung und Bildung zu geben." Im Handelsblatt spricht er davon, "die geistigen Fähigkeiten von ärmeren Kindern (zu) fördern und (zu) verbessern". Das sind hohle Phrasen und fromme Wünsche. Der Autor begnügt sich offensichtlich mit der Linderung der Folgen und Symptome. Von der Beseitigung des eigentlichen Problems ist keine Rede.

Christian Wolf und viele andere Hirnforscher und Psychologen scheuen sich die Konsequenzen aus ihren wissenschaftlichen Erkenntnissen zu ziehen, da diese mit den Prinzipien unserer Gesellschaft unvereinbar sind. Eine tatsächliche Umsetzung des hinzugewonnenen Wissens ist dringend notwendig, kann jedoch nicht in einer kapitalistischen Gesellschaft erfolgen.

Quellen und Literatur:

http://www.handelsblatt.com/technologie/forschung/armes-kinderhirn;2415550;2; Gehirn & Geist Nr.10/2009 oder http://www.gehirn-und-geist.de/artikel/1003009; Hackman, D.A., Farah, M.J.: Socioeconomic Status and Developing Brain. In: Trends in Cognitive Sciences 13 (2), S.66-73, 2009

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