Siebzig Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkriegs: Gründe, Folgen und Lehren

Dieser Vortrag befasst sich schwerpunktmäßig nicht mit den spezifischen Konflikten und Ereignissen, die zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs führten sondern vielmehr mit den generelleren Ursachen des Krieges.

Betrachtet man das gewaltige Ausmaß der Erschütterungen, das die Welt in den Jahren 1939-45 erfuhr, so ist es vereinfachend und geradezu absurd, die Kriegsgründe vorrangig in den diplomatischen Streitigkeiten im Vorfeld der feindlichen Auseinandersetzung zu suchen - wie zum Beispiel in der Frage des Danziger Korridors - und sie nicht in einem größeren historischen Kontext zu betrachten.

Jede Ursachenforschung zum Zweiten Weltkrieg muss sich zunächst mit der Tatsache auseinandersetzen, dass die Entwicklung des weltweiten militärischen Konflikts zwischen 1939 und 1945 nur 25 Jahre nach dem ersten globalen Militärkonflikt stattfand, dem Ersten Weltkrieg von 1914 bis 1918. Das heißt, nur 21 Jahre lagen zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs. Oder man könnte auch sagen, dass im Zeitraum von nur 31 Jahren zwei katastrophale Weltkriege stattfanden.

Vielleicht kann man sich dies noch besser vergegenwärtigen, wenn man sich klarmacht, dass die Zeitspanne zwischen 1914 und 1945 die gleiche ist wie zwischen den Jahren 1978 und 2009. Bleiben wir bei diesem Zeitvergleich, dann wäre beispielsweise ein 1960 geborener Mann im Jahre 1978 mit 18 Jahren alt genug gewesen, um zum Kriegsdienst eingezogen zu werden. Hätte er überlebt, wäre er zum Kriegsende 22 gewesen. Und im Alter von 43 Jahren hätte er den Ausbruch des nächsten Weltkriegs erlebt, mit 49 Jahren dann sein Ende.

Was bedeutet dies auf einer sehr menschlichen und persönlichen Ebene? Im Alter von 50 Jahren hätte dieser Mensch direkt oder indirekt ein schreckliches Maß an Gewalt erfahren. Er hätte wohl sehr viele Menschen gekannt, die im Laufe dieser Kriege ums Leben kamen.

Natürlich kam nicht jeder während dieser zwei Weltkriege im gleichen Ausmaß in Berührung mit dem Tod. Bedingt durch den Wohnort war die Erfahrung des Durchschnittsamerikaners eine gänzlich andere als die des Durchschnittsbürgers in England, Frankreich, Deutschland, Polen, Russland, China oder Japan.

Tote im Ersten und Zweiten Weltkrieg

In Bezug auf den Ersten Weltkrieg reichen die Schätzungen zur Gesamtzahl der Toten von neun Millionen bis hin zu 16 Millionen. Von diesen starben dabei 6,8 Millionen Menschen in Gefechten und Kämpfen. Weitere zwei Millionen Kriegstote gehen auf Unfälle, Krankheiten und die Internierung in Kriegsgefangenenlagern zurück.

Die folgenden Tabellen zeigen die Toten des Ersten Weltkriegs nach Ländern:

Tabelle 1: Tote im Ersten Weltkrieg nach Ländern, Alliierte Tabelle 1: Tote im Ersten Weltkrieg nach Ländern, Alliierte
Tabelle 2: Tote im Ersten Weltkrieg nach Ländern, Achsenmächte Tabelle 2: Tote im Ersten Weltkrieg nach Ländern, Achsenmächte

Das waren gewaltige Verluste. Nachdem der Krieg direkt millionenfaches Sterben verursacht hatte, verloren nach dem Waffenstillstand noch einmal ca. 20 Millionen Menschen ihr Leben durch die Spanische Grippe, die als Epidemie unter der durch die Kriegsjahre geschwächten Bevölkerung wütete.

Die menschlichen Kosten des Zweiten Weltkriegs gingen weit über die des Ersten Weltkriegs hinaus. Schätzungen zur Gesamtzahl der Toten reichen von 62 Millionen bis 78 Millionen. Unter diesen finden sich 22 bis 25 Millionen tote Soldaten, darunter auch fünf Millionen tote Kriegsgefangene. Die Zahl der zivilen Opfer wird auf 40 bis 52 Millionen geschätzt.

Werfen wir einen Blick auf die Todeszahlen einiger Länder, die am direktesten von dem Gemetzel betroffen waren.

Tabelle 3: Tote im Zweiten Weltkrieg nach Ländern Tabelle 3: Tote im Zweiten Weltkrieg nach Ländern

Weitere Länder, die mehr als zehn Prozent ihrer Bevölkerung verloren, waren Litauen und Lettland. Mindestens drei Prozent ihrer Bevölkerung verloren Estland, Jugoslawien, die Niederlande, Rumänien, Singapur und Ungarn.

In diesen entsetzlichen Todesziffern beinhaltet ist auch die Auslöschung der europäischen Juden. Zwischen 1939 und 1945 wurden sechs Millionen Juden ermordet, darunter drei Millionen polnische Juden und beinahe eine Million ukrainische Juden. In Prozentzahlen ausgedrückt: Es wurden 90 Prozent der Juden in Polen, dem Baltikum und Deutschland getötet. Mehr als 80 Prozent der tschechoslowakischen Juden wurden ermordet. Mehr als 70 Prozent der niederländischen, ungarischen und griechischen Juden wurden ausgelöscht. Etwa 60 Prozent der jugoslawischen und belgischen Juden wurden getötet. Mehr als 40 Prozent der norwegischen Juden wurden ausgelöscht. Mehr als 20 Prozent der französischen, bulgarischen und italienischen Juden wurden ermordet.

In jedem Fall wurde dieser Völkermord mit der Unterstützung örtlicher Machthaber durchgeführt. Das einzige von Nazis besetzte Land, in dem die Bevölkerung sich zusammenschloss, um die jüdische Bevölkerung zu retten, war Dänemark. Obwohl es an Deutschland grenzt, wurden diesem Land nur 52 von insgesamt 8.000 Juden Opfer des Naziterrors - das heißt weniger als ein Prozent.

Insgesamt betrachtet und vorsichtig geschätzt, kosteten die beiden Weltkriege etwa 80 bis 90 Millionen Menschen das Leben. Hinzu kommen Hunderte Millionen Menschen, die durch die zwei Kriege in irgendeiner Weise körperlich oder seelisch verwundet waren- die Eltern, Kindern, Geschwister und Freunde verloren hatten, die vertrieben wurden, aus ihrer Heimat fliehen mussten und unwiederbringliche und unersetzliche Verbindungen zu ihrem persönlichen und kulturellen Erbe einbüßten. Das entsetzliche Ausmaß der Tragödie, die sich in den 31 Jahren zwischen 1914 und 1945 ereignete, ist unmöglich in vollem Umfang zu erfassen, geschweige denn zu verstehen.

Wenn wir uns diese Ereignisse vor Augen führen, so müssen wir uns erinnern, dass diese gewaltige und beispiellose Tragödie sich - historisch betrachtet - erst vor recht kurzer Zeit abspielte. Immer noch leben Zehntausende Menschen, die den Zweiten Weltkrieg bewusst erlebt haben. Und für die Menschen meiner Generation ereignete sich der Erste Weltkrieg zu Lebzeiten unserer Großeltern - und unsere Großväter waren nicht selten Veteranen dieses Kriegs.

Mit anderen Worten, der Erste und Zweite Weltkrieg gehören zur modernen Geschichte. Die Welt, in der wir leben, ist zu einem sehr großen Teil das Ergebnis dieser beiden miteinander verbundenen Katastrophen.

Darüber hinaus haben sich die politischen und ökonomischen Widersprüche, aus denen diese Kriege entstanden, nicht aufgelöst. Allein diese historische Tatsache ist Grund genug, um den 70. Jahrestag des Kriegsausbruchs zum Anlass zu nehmen, um einmal mehr die Ursachen, Folgen und Lehren des Kriegs zu betrachten

Die Ursprünge und Ursachen des Ersten und Zweiten Weltkriegs

Natürlich kann man im Rahmen eines einzelnen Vortrags die wesentlichen Ursachen des Kriegs leider nur grob skizzieren. Im Sinne der Klarheit, doch ohne unnötige Vereinfachung, wird diese Skizze den Ersten und Zweiten Weltkrieg als unlösbar miteinander verbundene Episoden behandeln.

Die Geschwindigkeit, mit der sich die Krise im Sommer 1914 entwickelte, kam für viele überraschend. Kaum jemand hatte erwartet, dass der Mord am österreichischen Erzherzog Franz Ferdinand in Sarajewo am 28. Juni 1914 innerhalb von nur fünf Wochen zu einem ausgewachsenen europäischen Krieg führen würde, der schließlich, mit dem Eintritt der Vereinigten Staaten in den Konflikt, globale Dimensionen annehmen sollte.

Doch die Bedingungen für den katastrophalen militärischen Zusammenstoß waren in den vorherigen 15 Jahren herangereift, und diese Bedingungen waren mit dramatischen Veränderungen in der Weltwirtschaft und dadurch auch der Weltpolitik verbunden.

Vor dem Ausbruch 1914 hatte es keinen allgemeinen Krieg zwischen den europäischen "Großmächten" mehr seit dem Ende der Napoleonischen Kriege 1815 gegeben. Der Wiener Kongress hatte einen relativ stabilen Rahmen innerstaatlicher Beziehungen geschaffen, der für den Rest des Jahrhunderts hielt.

Natürlich war das Neunzehnte Jahrhundert nicht gänzlich friedlich. Das Nationalstaatensystem entstand in seiner modernen Form aus einer Reihe bedeutender militärischer Konflikte, am blutigsten unter ihnen der Amerikanische Bürgerkrieg. In Europa wurde die Konsolidierung des modernen deutschen Staates unter preußischer Hegemonie von Bismarck erreicht, der die Militärmacht kalkuliert gegen Dänemark (1864), Österreich (1866) und Frankreich (1870) einsetzte. Bereits früher, in den 1850er Jahren, waren Großbritannien und Frankreich im Krimkrieg den geopolitischen Ambitionen des Russischen Reiches entgegengetreten. Aber diese militärischen Konflikte waren recht begrenzt und führten nicht zu einem Zusammenbruch des gesamten Rahmens der europäischen und internationalen Politik.

Doch in den 1890er Jahren wurde immer deutlicher, dass sich das Wesen der Weltpolitik zutiefst veränderte. Grundlegend hierfür waren die massive Ausdehnung der kapitalistischen Finanzwirtschaft und Industrie, insbesondere in Europa und Nordamerika, und der wachsende Einfluss globaler Wirtschaftsinteressen auf die Überlegungen der Nationalstaaten.

In den 1890er Jahren wurde der Konflikt zwischen den großen kapitalistischen Staaten um Dominanz innerhalb bestimmter "Einflusssphären" zur Grundlage der Weltpolitik. Oder um präziser zu sein, war es der Konflikt zwischen den mächtigsten und einflussreichsten Machthabern im Finanz- und Industriesektor, die Einfluss auf die außenpolitische Ausrichtung ausübten. Diese Entwicklung fand ihren rücksichtslosesten und brutalsten Ausdruck im Kampf um die Kolonien, deren Bevölkerung praktisch auf den Status von Sklaven reduziert wurde.

Das Zeitalter des Imperialismus hatte begonnen. Diese Entwicklung beinhaltete eine bedeutende und immer gefährlichere Destabilisierung der Beziehungsstruktur zwischen den Staaten. In den Jahrzehnten nach dem Ende der Napoleonischen Kriege hatte Großbritannien eine praktisch unangefochtene Vormachtstellung inne. Das Empire, das auf dem gewaltigen Kolonialreich beruhte, war der dominante Faktor der internationalen Politik im 19. Jahrhundert. Ein Sprichwort besagte, dass im britischen Empire die Sonne nie unterging und die Löhne nie stiegen. Frankreich genoss als alte Kolonialmacht auch einen privilegierten Status im Weltsystem, lag aber deutlich hinter Großbritannien zurück.

Die aufstrebenden neuen bürgerlichen Nationalstaaten, die sich auf der Basis einer schnell expandierenden kapitalistischen Industrie und Finanzwirtschaft entwickelten, übten immensen Druck auf die existierenden geo-politischen Beziehungen aus. Die zwei wichtigsten "neuen" kapitalistischen Staaten, die rasch ein imperialistisches Interesse und entsprechenden Appetit entwickelten, waren Deutschland und die Vereinigten Staaten.

Die Vereinigten Staaten traten 1898 in den imperialistischen Club ein, als die Regierung unter Präsident McKinley mit unübertroffenem Zynismus, Heuchelei und Unaufrichtigkeit einen Vorwand für einen Krieg gegen Spanien konstruierte. Innerhalb weniger Monate wurde Kuba zu einer Halbkolonie der Vereinigten Staaten. Gleichzeitig legten die Vereinigten Staaten durch die Besetzung der Philippinen den Grundstein für ihre imperialistische Dominanz im pazifischen Raum. Nachdem sie die Besetzung der Philippinen mit dem Ruf nach Freiheit und Demokratie für die Einwohner gerechtfertigt hatten, zeigten die Vereinigten Staaten, was von ihrem Versprechen zu halten war, als sie 200.000 Bewohner der Inselgruppe abschlachteten, die gegen die Besatzung revoltiert hatten.

Die Vereinigten Staaten waren mit einem geografischen Vorteil gesegnet. Ihre Entwicklung fand auf einem riesigen Kontinent statt und zwei Ozeane schützten sie vor der Einmischung fremder Mächte. Die meisten europäischen Mächte waren über McKinleys unaufrichtige Kriegstreiberei entsetzt, konnten jedoch absolut nichts dagegen tun.

Die wachsenden Ambitionen Deutschlands wiederum kollidierten unmittelbar mit der imperialistischen Nachbarschaft in Europa - zunächst vor allem mit Frankreich und Russland und dann, noch schwerwiegender, mit Großbritannien.

Somit bildeten die wachsenden Konflikte zwischen mächtigen kapitalistischen Nationalstaaten, die eine zunehmend global integrierte Wirtschaft zu dominieren versuchten, die wirkliche Grundlage für sich aufschaukelnde geopolitische Spannungen, die schließlich im Sommer 1914 zum Ausbruch kamen.

Wer trägt die Verantwortung?

Während und nach dem Ersten Weltkrieg gab es eine große Diskussion um die Frage, wer den Krieg "angefangen", wer "den ersten Schuss abgefeuert" und somit Schuld hatte. Solche Fragen spielen immer eine große Rolle in der Propaganda der am Krieg beteiligten Staaten, da die herrschenden Eliten sich immer eifrig von der Verantwortung für die katastrophalen Konsequenzen ihrer militärischen Zündelei freisprechen wollen.

Isoliert von den größeren historischen Umständen betrachtet, gibt es reichliche Indizien, dass Deutschland und Österreich-Ungarn hauptsächlich für den Kriegsausbruch im August 1914 verantwortlich waren. Die Regierungen dieser Länder entschlossen sich mit unglaublicher Rücksichtslosigkeit dazu, den Mord an Franz Ferdinand auszunutzen, um lang gehegte geopolitische Ziele zu erreichen. Sie trafen Entscheidungen, die eine katastrophale Kettenreaktion in Gang setzten und schließlich zum Ausbruch der Feindseligkeiten führten. Aber außer dass wir daran das kriminelle Handeln erkennen können, zu dem kapitalistische Regimes in der Lage sind - wie auch jüngst beim den Kriegen gegen den Irak und Afghanistan zu beobachten, die auf reinen Lügengespinsten beruhten - ist der Beweis der deutschen und österreichischen Kriegsschuld nicht geeignet für eine Erklärung der größeren und tieferen Kriegsursachen.

Es ist richtig, dass Frankreich und Großbritannien den Krieg im August 1914 nicht unbedingt wollten. Aber dies nicht, weil sie den Frieden liebten. Großbritannien, das sollte nicht vergessen werden, war erst ein Jahrzehnt zuvor brutal gegen die Buren in Südafrika zu Felde gerückt. Wenn Großbritannien und Frankreich im August 1914 keinen Krieg "wollten", dann weil sie mit dem geopolitischen Status einigermaßen zufrieden waren und ihre globalen Interessen dadurch gut vertreten sahen. Als jedoch Handlungen von Seiten Deutschlands und Österreich-Ungarns diesen Status und damit ihre Interessen bedrohten, akzeptierten sie den Krieg als politische Notwendigkeit. Vom Standpunkt der imperialistischen Interessen Frankreichs und Großbritannien aus gesehen war Krieg einem Frieden vorzuziehen, der den Status quo zugunsten Deutschlands verändert hätte.

Die Kriegsursachen sind somit letztlich nicht in den Handlungen des einen oder anderen Staates vor Ausbruch der Kämpfe zu finden. Die Ursachen liegen im Wesen des imperialistischen Systems, in der Logik der Kämpfe mächtiger kapitalistischer Nationalstaaten um die Vorherrschaft über eine zunehmend integrierte Weltwirtschaft.

Die marxistische Analyse

In den Vorkriegsjahren hatte die internationale sozialistische Bewegung eine Reihe von Kongressen abgehalten, auf denen vor den tödlichen Konsequenzen des sich entwickelnden Imperialismus ebenso gewarnt wurde wie vor dem Militarismus, den er hervorbrachte. Die Zweite Internationale, die 1889 gegründet worden war, erklärte wieder und wieder ihre unversöhnliche Gegnerschaft zum kapitalistischen Militarismus und gelobte, die Arbeiterklasse gegen den Krieg zu mobilisieren. Sie warnte die herrschende Klasse Europas, wenn es zum Krieg käme, würde die Internationale die durch den Krieg entstandene Krise nutzen, um den Sturz des Kapitalismus zu beschleunigen.

Doch im August 1914 wurden diese Versprechen von praktisch allen führenden europäischen Sozialisten verraten. Am 4. August 1914 stimmt die deutsche Sozialdemokratische Partei - die größte sozialistische Partei weltweit - im Reichstag für die Kriegskredite. Die gleiche patriotische Haltung wurde von den sozialistischen Führungen in Frankreich, Österreich und Großbritannien eingenommen. Nur eine Handvoll führender Sozialisten bezog klar und unmissverständlich Stellung gegen den Krieg, am bekanntesten unter ihnen Lenin, Trotzki und Rosa Luxemburg.

Ich will kurz auf die Analyse eingehen, die Trotzki zu den Kriegsursachen anfertigte. Er verachtete die irreführenden und heuchlerischen Behauptungen zahlreicher sozialistischer Führer, dass sie sich auf die Seite der kapitalistischen Herrscher stellen mussten, um ihr Land gegen ausländische Aggressoren zu verteidigen. Trotzki enthüllte die dreisten Lügen, mit denen die Krieg führenden Regierungen die realpolitischen und wirtschaftlichen Beweggründe verdecken wollten, die hinter ihrer Entscheidung standen, zu den Waffen zu greifen. Er bestand darauf, dass die Kriegsursachen tiefer lagen, in strukturellen Veränderungen der Weltwirtschaft und dem Wesen des kapitalistischen Nationalstaatensystems selbst.

Trotzki wurde mit Kriegsausbruch gezwungen, Österreich zu verlassen, und ging nach Zürich. Dort schrieb er 1915 das brillante Pamphlet Krieg und die Internationale, in der er die wesentliche Bedeutung des Kriegs erklärt.

"Der Kern des gegenwärtigen Krieges ist der Aufruhr der Produktivkräfte, die den Kapitalismus erzeugten, gegen ihre nationalstaatliche Ausbeutungsform. [...] Der Krieg von 1914 bedeutet vor allem die Zertrümmerung des nationalen Staates als eines selbständigen Wirtschaftsgebietes.

Die Nationalität muss auch weiter eine kulturelle, ideologische, psychologische Tatsache bleiben, aber die ökonomische Basis ist ihr unter den Füßen weggezogen. Alle Reden darüber, dass der jetzige blutige Zusammenstoß ein Werk der nationalen Verteidigung sei, sind eine Heuchelei oder Blindheit. Im Gegenteil: Der objektive Sinn des Krieges besteht in der Zertrümmerung der gegenwärtigen national-wirtschaftlichen Zentren im Namen der Weltwirtschaft. Doch nicht auf der Grundlage einer verständig organisierten Mitarbeit der gesamten produzierenden Menschheit trachtet man diese Aufgabe des Imperialismus zu lösen, sondern auf der Grundlage der Ausbeutung der Weltwirtschaft durch die kapitalistische Klasse des siegreichen Landes, das durch diesen Krieg aus einer Großmacht zu einer Weltmacht werden soll.

Der Krieg verkündet den Zusammenbruch des nationalen Staates. Doch zugleich auch die Zertrümmerung der kapitalistischen Wirtschaftsform. Aus dem nationalen Staat heraus revolutionierte der Kapitalismus die gesamte Weltwirtschaft, indem er den ganzen Erdball zwischen den Oligarchien der Großmächte verteilte, um welche sich ihre Trabanten, die Kleinstaaten, gruppieren, die von der Rivalität der Großen leben. Die weitere Entwicklung der Weltwirtschaft auf kapitalistischer Grundlage bedeutet einen unaufhörlichen Kampf der Weltmächte um neue und immer neue Gebiete der einen und selben Erdoberfläche als eines Objekts kapitalistischer Ausbeutung. Die ökonomische Rivalität unter dem Zeichen des Militarismus wechselt mit Raub und Zerstörung, die die elementaren Grundlagen menschlicher Wirtschaft auflösen. Die Weltproduktion empört sich nicht nur gegen die national-staatlichen Wirrnisse, sondern auch gegen die kapitalistische Wirtschaftsorganisation, die sich zu deren barbarischer Desorganisation umgewandelt hat.

Der Krieg von 1914 ist der größte Zusammenbruch eines an seinen eigenen Widersprüchen zugrunde gehenden ökonomischen Systems, den die Geschichte kennt. [...]

Der Kapitalismus schuf die materiellen Voraussetzungen einer neuen sozialistischen Wirtschaft. Der Imperialismus führte die kapitalistischen Völker in historische Wirrsale. Der Krieg von 1914 zeigt den Weg aus diesen Wirrsalen, indem er das Proletariat gewaltsam herausführt auf den Weg der Revolution." (Essen 1998, S. 377f.)

Diese Analyse wurde bestätigt durch die Russische Revolution, die im Oktober 1917 die Bolschewistische Partei unter Führung von Lenin und Trotzki an die Macht brachte.

Das Ergebnis des Ersten Weltkriegs

Nach vier Jahren eines bis dato beispiellosen Konflikts und Blutvergießens endete der Krieg im November 1918 recht abrupt. Das Kriegsende hatte mehr mit den veränderten politischen Bedingungen in den Krieg führenden Ländern zu tun als mit den Ergebnissen auf den Schlachtfeldern. Die Oktoberrevolution führte zu einem schnellen Rückzug Russlands aus dem Krieg. Die französische Armee stand nach den Soldatenmeutereien von 1917 kurz von dem Zusammenbruch. Nur der Nachschub an amerikanischen Männern und Material von Seiten der Alliierten verhinderte die militärische Niederlage und hielt, zumindest für eine Weile, die Moral aufrecht. In Deutschland wuchs die Opposition gegen den Krieg nach dem Sieg der Bolschewiki in Russland schnell. Im Oktober 1918 führte die Meuterei der Kieler Matrosen zu einer Welle größerer revolutionärer Proteste, die zur Abdankung von Kaiser Wilhelm II. führten. Da Deutschland den Krieg nicht fortsetzen konnte, suchte es um Frieden nach.

Obwohl Deutschland eine Niederlage erlitten hatte, brachte der Krieg nicht das Ergebnis, das Großbritannien und Frankreich sich eigentlich erhofft hatten. Im Osten hatte der Krieg zur sozialen Revolution geführt und die Arbeiterklasse in ganz Europa radikalisiert. Im Westen schuf der Krieg die Voraussetzungen für den Aufstieg der Vereinigten Staaten - die vergleichsweise geringe Verluste erlitten hatten - zur kapitalistischen Hegemonialmacht.

Darüber hinaus bereitete der Versailler Friedensvertrag von 1919 den Boden für das Aufflammen neuer Konflikte. Die harschen Bedingungen, auf die der französische Imperialismus bestand, trugen kaum zu stabilen Beziehungen auf dem europäischen Kontinent bei. Die Zerschlagung des Kaiserreichs Österreich-Ungarn führte zur Schaffung einer Reihe von instabilen Nationalstaaten, die von Anfang an mit tief verwurzelten und explosiven ethnischen Spannungen zu kämpfen hatten. Vor allem aber verpasste es der Versailler Vertrag, eine Grundlage für die Wiederherstellung eines ökonomischen Gleichgewichts in Europa zu schaffen. Stattdessen war die kapitalistische Weltwirtschaft, die aus dem Krieg hervorging, von den Ungleichgewichten geprägt, die schließlich zu dem beispiellosen Zusammenbruch führten, der im Oktober 1929 an der Wall Street seinen Anfang nahm.

Ein weiterer wichtiger Faktor für die Wiederkehr der internationalen Spannungen, die erneut zum Weltkrieg führten, war die neue Rolle der Vereinigten Staaten auf Weltebene. Auch wenn US-Präsident Wilson - besonders nach dem Eintritt der Vereinigten Staaten in den Krieg und dem Sieg der sozialistischen Revolution in Russland - als Retter des kapitalistischen Europas gefeiert wurde, wurde der europäischen Bourgeoisie doch bald klar, dass die Interessen der Vereinigten Staaten nicht gänzlich auf der Linie der eigenen Interessen lagen. Die amerikanische Bourgeoisie war nicht bereit, eine europäische Vorherrschaft auf Weltebene hinzunehmen. Sie betrachtete die Privilegien, die Großbritannien im Rahmen des Empires genoss, als Hindernis für ihre eigenen Handelsinteressen.

Die stete Expansion amerikanischer Macht mochte den britischen Diplomaten schlaflose Nächte bereiten, die rücksichtslosesten Vertreter des deutschen Imperialismus verloren darüber ihre Nerven. In Ökonomie der Zerstörung, einer neuen Studie zu den Ursprüngen des Weltkriegs, schreibt der angesehene Professor Adam Tooze:

"Amerika ist unser Dreh- und Angelpunkt. Historiker haben bei ihren Versuchen, Hitlers unbändige Angriffslust zu erklären, bislang immer unterschätzt, wie sehr er sich der Bedrohung bewusst war, die von den Vereinigten Staaten für sein Reich ausging, seit Amerika als dominante globale Supermacht neben den europäischen Staaten die Bühne betreten hatte. Schon in den zwanziger Jahren hatte Hitler anhand zeitgenössischer Wirtschaftstrends vorausgesagt, dass die europäischen Mächte nur noch ein paar Jahre Zeit hätten, um sich gegen das Unabänderliche zu wappnen. [...]

Die Aggression des Hitlerregimes kann als eine Reaktion auf die Spannungen verstanden werden, die durch die ungleichen Entwicklungen im globalen Kapitalismus entstanden waren und bis heute spürbar sind." (München 2007, S. 15f.)

Trotzkis Analyse von 1934

Die Jahre unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkriegs waren eine Hochzeit des Pazifismus. US-Präsident Wilson hatte 1917, als er Deutschland den Krieg erklärte, "das Ende aller Kriege" zum Kriegsziel ausgerufen. Der Völkerbund - dem die Vereinigten Staaten nicht beitreten wollten - wurde von den europäischen Siegermächten ins Leben gerufen. Im Jahre 1927 handelten Frankreich und die Vereinigten Staaten den Kellogg-Briand-Pakt aus, der Krieg für illegal erklärte. Und dennoch kam es zu akuten internationalen Spannungen, insbesondere nach dem Börsencrash an der Wall Street, dem Beginn der weltweiten Depression und der darauf folgenden Destabilisierung Europas - die ihren unheilvollsten Ausdruck in der Machtübernahme von Hitlers NSDAP im Januar 1933 fand.

Niemand verstand die Implikationen der sich entwickelnden Krise des Weltkapitalismus mit größerer Weitsicht und Klarheit als Leo Trotzki. Nachdem er von dem reaktionären bürokratischen Regime unter Stalins Führung aus der Sowjetunion verbannt worden war, schrieb Trotzki im Juni 1934:

"Dieselben Faktoren, die den letzten imperialistischen Krieg hervorgerufen haben und die vom heutigen Kapitalismus untrennbar sind, entfalten gegenwärtig ungleich größere Kraft als Mitte 1914. Nur die Furcht vor den Folgen eines neuen Krieges bremst gegenwärtig noch den Drang des Imperialismus zum Kriege. Doch ist die Kraft dieser Bremse begrenzt. Die Spannung der inneren Widersprüche stößt ein Land nach dem anderen auf den Weg des Faschismus, der sich wiederum nur an der Macht halten kann, indem er sich anschickt, internationale Explosionen auszulösen. Alle Regierungen fürchten den Krieg, doch keine einzige hat die freie Wahl. Ohne proletarische Revolution ist ein neuer Weltkrieg unvermeidlich." (Der Krieg und die IV. Internationale, in: Schriften 3.3, Köln 2001, S. 550)

Trotzki betonte wie schon 1914, die Hauptquelle der globalen Spannungen liege im "Widerspruch zwischen den Produktivkräften und ihrem nationalstaatlichen Rahmen, kombiniert mit dem Grundwiderspruch zwischen den Produktivkräften und dem Privateigentum an den Produktionsmitteln" (Ebd., S. 555). Die Verteidigung des Nationalstaats habe keine politisch oder ökonomisch fortschrittliche Funktion. "Der Nationalstaat ist - mit seinen Grenzen und Pässen, seinem Geldsystem, seinen Zollämtern und den Armeen zur Verteidigung der Zollämter - zu einem ungeheuren Hindernis auf dem Weg der wirtschaftlichen und kulturellen Weiterentwicklung des Menschen geworden." (Ebd., S. 556)

Als Hitler an der Macht war, begannen die liberalen und reformistischen Fürsprecher der imperialistischen Bourgeoisie in Großbritannien, Frankreich und den Vereinigten Staaten zu argumentieren, ein neuer Krieg sei ein Kampf gegen die Diktatur. Dieses Argument wurde schließlich von dem stalinistischen Sowjetregime übernommen. Trotzki wies diese Behauptung nachdrücklich zurück. "Heute bedeutet ein Krieg zwischen den Großmächten nicht den Zusammenstoß von Demokratie und Faschismus, sondern den Kampf zweier Imperialismen um die Neuaufteilung der Welt." (Ebd., S. 558)

Im Kontext dieser politischen Perspektive analysierte Trotzki die globalen Ambitionen der Vereinigten Staaten. "Der US-Kapitalismus steht vor denselben Aufgaben, die Deutschland 1914 zum Krieg getrieben haben. Die Welt ist bereits aufgeteilt? Dann muss man sie eben neu aufteilen! Deutschland ging es darum, Europa zu 'organisieren'. Den Vereinigten Staaten fällt es zu, die ganze Welt zu 'organisieren'. Die Geschichte treibt die Menschheit einem Vulkanausbruch des amerikanischen Imperialismus entgegen." (Ebd., S. 553)

Diese Worte sollten sich als äußerst weitsichtig erweisen.

Ausbruch und Verlauf des Zweiten Weltkriegs

Trotzki betonte, nur der revolutionäre Kampf der Arbeiterklasse, der zum Sturz des Kapitalismus führt, könne den Ausbruch eines neuen Weltkriegs verhindern, der noch blutiger als der Erste verlaufen würde. Doch die Niederlagen der Arbeiterklasse in Spanien und Frankreich - gemeinsames Ergebnis des Verrats durch die stalinistischen, sozialdemokratischen und reformistischen Bürokratien - machten den Krieg unvermeidlich. Er begann schließlich am 1. September 1939.

Wie schon im Jahre 1914 war auch hier Deutschland der wichtigste Brandstifter. Doch der Zweite Weltkrieg hatte, wie der Erste, tiefere Ursachen. Trotzki schrieb:

"Die demokratischen Regierungen, die Hitler seinerzeit als einem Kreuzritter gegen den Bolschewismus zujubelten, machen ihn jetzt zu einer Art Satan, unerwartet aus den Tiefen der Hölle losgelassen, der die Heiligkeit der Verträge, der Grenzen und aller Regeln verletzt. Gäbe es Hitler nicht, würde die kapitalistische Welt wie ein Garten blühen. Was für eine elende Lüge! Dieser deutsche Epileptiker mit einer Rechenmaschine in seinem Schädel und unbegrenzter Macht in seinen Händen ist nicht vom Himmel gefallen oder aus der Hölle gestiegen: Er ist nichts anderes als die Personifizierung aller destruktiven Kräfte des Imperialismus. [...] So macht Hitler, indem er die alten Kolonialmächte bis zu ihren Grundfesten erschüttert, nichts anderes, als dem imperialistischen Willen nach Macht einen vollendeteren Ausdruck zu geben. Mittels Hitler hat der durch seine auswegslose Situation zur Verzweiflung getriebene Kapitalismus begonnen, sich einen scharfen Dolch in die eigenen Eingeweide zu bohren." (Manifest der IV. Internationale zum imperialistischen Krieg und zur proletarischen Weltrevolution)

Falls jemand der Ansicht ist, dass Trotzki hier jenen Staatsmännern Unrecht tut, die schließlich Krieg gegen Hitler führten, so sei an die Worte von Winston Churchill erinnert. Churchill hatte im Januar 1927, noch bevor er britischer Premierminister wurde, Rom besucht und sich mit dem italienischen Diktator Mussolini getroffen. In einer Presserklärung ließ er mitteilen: "Ich war unwillkürlich bezaubert von Signor Mussolinis feinfühligem und schlichtem Betragen und seiner ruhigen, unvoreingenommenen Haltung trotz so mannigfaltiger Belastungen und Gefahren." Der italienische Faschismus habe anschaulich gemacht, dass es einen Weg gebe, um subversive Kräfte zu bekämpfe; er habe die "notwendige Kur gegen den russischen Virus" geliefert. Churchill teilte den italienischen Faschisten mit: "Wäre ich Italiener, so hätte ich vollen Herzens von Anfang bis Ende ihres siegreichen Kampfes gegen die gemeinen Gelüste und Begierden des Leninismus auf ihrer Seite gestanden." (zit. nach Nicholson Baker, Menschenrauch. Wie der Zweite Weltkrieg begann und die Zivilisation endete, Hamburg 2009, S. 23)

Ein Historiker, der sich schwerpunktmäßig mit dieser Zeit befasst, bemerkte dazu: "Für viele Konservative und Unternehmerkreise waren Hitlerdeutschland und Mussolinis Italien, die dem sich ausbreitenden Kommunismus Einhalt gebieten wollten, Gegenstand der Bewunderung. Daher gab es - besonders in Großbritannien einen starken Widerstand gegen eine Allianz mit der Sowjetunion und gegen die faschistischen Mächte." (vgl. Frank McDonough, Hitler, Chamberlain and Appeasement, Cambridge 2002, S. 33)

Hitler fiel am 1. September 1939 in Polen ein. Zwei Tage später erklärten Großbritannien und Frankreich dem Dritten Reich den Krieg. Nachdem Hitler Polen innerhalb weniger Wochen eingenommen hatte, kam es zu keiner weiteren militärischen Handlung gegen Nazideutschland bis zum Frühling 1940, als die deutsche Armee nach ganz Westeuropa vordrang. Frankreich - dessen herrschende Klasse sich eher um die revolutionäre Bedrohung aus der eigenen Arbeiterklasse sorgte als um die Gefahr einer Einnahme des Landes durch Deutschland - erklärte sich im Juni 1940 für geschlagen.

Stalin hatte gehofft, durch seinen feigen und verräterischen Nichtangriffspakt den Krieg mit Deutschland vermeiden zu können. Doch das faschistische Regime hatte die Zerstörung der Sowjetunion immer als wesentlichen Teil seines Plans zur Erlangung der Vorherrschaft in Europa betrachtet. Im Juni 1941 fielen die deutschen Truppen in der UdSSR ein. Trotz Stalins katastrophalen Fehlkalkulationen und den massiven Verlusten, die die Rote Armee anfangs hinnehmen musste, stießen die Nazitruppen auf einen unnachgiebigen Widerstand.

Der japanische Angriff auf Pearl Harbor am 7. Dezember 1941 zog die Vereinigten Staaten in den Krieg. Vier Tage später, am 11. Dezember 1941, erklärte Deutschland den Vereinigten Staaten den Krieg, was sofort mit einer Kriegserklärung der USA gegen Deutschland beantwortet wurde. In den nächsten dreieinhalb Jahren wurde der Krieg mit unerbittlicher Härte geführt - auch wenn man betonen muss, dass der Krieg in Westeuropa zumindest bis zur Invasion der Alliierten im Juni 1944 militärisch betrachtet eher ein Nebenschauplatz war, verglichen mit dem schrecklichen Gemetzel des Kampfes zwischen Nazideutschland und der Sowjetunion. Der Krieg in Europa endete schließlich am 8. Mai 1945 mit der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands, nur eine Woche nach Hitlers Selbstmord.

Der Krieg in Asien dauerte noch drei Monate, auch wenn das Ergebnis schon feststand. Es bestand nicht die geringste Möglichkeit, dass Japan - mit einer relativ kleinen Bevölkerung, einer unterentwickelten industriellen Basis und beschränktem Zugang zu wichtigen Rohstoffen - sich gegenüber den Vereinigten Staaten durchsetzen konnte. Die Japaner suchten - wie die Regierung der Vereinigten Staaten sehr wohl wusste - seit dem Frühjahr 1945 nach annehmbaren Bedingungen für eine Kapitulation. Doch die Tragödie wurde bis zum blutigen Ende fortgesetzt. Im August 1945 warfen die Vereinigten Staaten zwei Atombomben auf die wehrlosen und militärisch unbedeutenden Städte Hiroshima und Nagasaki. Etwa 150.000 Menschen starben durch die beiden Bomben. Der amerikanische Historiker Gabriel Jackson bemerkte später hierzu:

"Unter den besonderen Umständen des August 1945 zeigte der Einsatz der Atombombe, dass ein psychisch gesunder, demokratisch gewählter Präsident die Waffe in derselben Weise benutzen konnte, wie Hitler sie benutzt hätte. Auf diese Weise verwischten die Vereinigten Staaten für jeden, der sich um eine moralische Differenzierung bei der Beurteilung der Herrschaftsausübung in verschiedenen Regierungsformen bemühte, den Unterschied zwischen Faschismus und Demokratie." (Zivilisation und Barbarei, Frankfurt/Main 1999, S. 277)

Konsequenzen und Bedeutung des Zweiten Weltkriegs

Betrachtet man den Ersten und Zweiten Weltkrieg als miteinander verbundene Stufen einer historischen Entwicklung, was können wir dann als Ursprung und Zweck des Konflikts ausmachen, der das Leben von etwa 90 Millionen Menschen gekostet hat?

Erinnern wir uns, dass der Ausbruch des Ersten Weltkriegs interimperialistischen Antagonismen entsprang, entstanden aus dem Auftreten mächtiger kapitalistischer Staaten, die mit den existierenden geopolitischen Beziehungen unzufrieden waren. Besonders Deutschland war unzufrieden mit der eigenen unterlegnen Position im weltumspannenden Kolonialsystem, das von Großbritannien und Frankreich dominiert wurde, und den Grenzen, den diese mächtigen Rivalen Deutschland beim Verfolgen der eigenen Interessen setzten. Gleichzeitig waren die Vereinigten Staaten, deren Selbstbewusstsein und Ambitionen auf ihre eigene unübertroffene Wirtschaftsmacht zurückging, nicht bereit zu akzeptieren, dass das amerikanische Kapital beim Eindringen in fremde Märkte Schranken unterliegen sollte, auch nicht den Schutzmaßnahmen des britischen Empires für die eigenen Märkte.

Das Ende des Zweiten Weltkriegs brachte eine bestimmte Periode globaler Konflikte zum Ende, die mit der Epoche des Imperialismus in den späten 1890er Jahren ihren Anfang genommen hatte. Das deutsche Streben nach einem "Platz an der Sonne" war klar gescheitert. Ähnlich war der Traum des japanischen Kaiserreichs von einer Dominanz über den Westpazifik, China und Südostasien durch die deutliche Niederlage im Zweiten Weltkrieg geplatzt. Großbritannien und Frankreich gingen aus dem Gemetzel der ersten Jahrhunderthälfte arg geschwächt hervor, ohne ausreichende Finanzmittel, um ihre alten Kolonialreiche zu halten. Falls sie noch irgendwelche Illusionen hegten, ihren Status als führende imperialistische Mächte zu behalten, so war es ein Jahrzehnt nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs damit endgültig vorbei.

1954 brachten die vietnamesischen Befreiungskämpfer Frankreich eine vernichtende militärische Niederlage in Dien Bien Phu bei, wodurch die Franzosen schließlich zum Abzug aus Indochina gezwungen waren. 1956 zwangen die Vereinigten Staaten die Briten dazu, ihre Invasion in Ägypten abzublasen - eine öffentliche Demütigung, die der Welt Großbritanniens Unterlegenheit gegenüber dem amerikanischen Imperialismus vor Augen führte. Wie Trotzki ein Jahrzehnt zuvor vorausgesagt hatte, war der Kampf unter den wichtigsten imperialistischen Mächten um globale Vorherrschaft, die brutale Neuaufteilung der Welt, die zig Millionen Menschen das Leben gekostet hatte, zugunsten des amerikanischen Imperialismus ausgegangen.

Nach dem Krieg

Die Welt, die 1945 aus dem Blutbad hervorging, war grundlegend anders als die, die noch 1914 existiert hatte. Obwohl die Vereinigten Staaten das bankrotte Großbritannien als vorherrschende Imperialmacht abgelöst hatten, konnten sie das alte britische Empire nicht ersetzen. Das Zeitalter der Kolonialreiche war zu Ende gegangen, zumindest in der Form, wie es bislang existiert hatte.

Es ist eine Ironie der Geschichte, dass US-Präsident Woodrow Wilson den Kongress just zu der Zeit auf den Krieg einstimmte, im April 1917, als Wladimir Iljitsch Lenin sich auf dem Rückweg ins revolutionäre Russland befand. Zwei große historische Entwicklungslinien überschnitten sich an diesem Punkt. Wilsons Rede bedeutete das nachdrückliche Auftreten der Vereinigten Staaten als vorherrschende Imperialmacht auf dem Planeten. Lenins Ankunft in Russland markierte den Beginn einer massiven Welle sozialistsicher und antiimperialistischer Kämpfe, die um den ganzen Globus schwappen sollte.

Als die Vereinigten Staaten 1945 Deutschland und Japan besiegt hatten, befanden sich bereits Hunderte Millionen Menschen im Aufstand gegen die imperialistische Unterdrückung. Den Vereinigten Staaten fiel die Aufgabe zu, diese Welle weltweiter revolutionärer Kämpfe zu stoppen. Im Rahmen dieses Vortrags ist es nicht möglich, die Nachkriegsentwicklungen auch nur grob zu skizzieren. Hierzu müsste man sich zumindest in gewissem Umfang mit der politischen Dynamik des so genannten Kalten Kriegs auseinandersetzen, der die internationale Politik in den Jahren von 1945 bis 1991 bestimmte.

Doch es muss in diesem Vortrag abschließend betont werden, dass die Vereinigten Staaten die Auflösung der Sowjetunion im Jahre 1991 als Möglichkeit betrachteten, schließlich doch noch die unangefochtene Vorherrschaft des amerikanischen Imperialismus durchzusetzen.

1992 nahm das US-Militär eine strategische Doktrin an, nach der kein anderes Land sich zur ernsthaften Bedrohung der dominanten Position der USA auf Weltebene entwickeln dürfe. 2002 wurde diese expansive Militärdoktrin ergänzt durch die Verkündung der Präventivkriegsdoktrin. Hiernach behalten sich die Vereinigten Staaten das Recht vor, jedes Land anzugreifen, das eine mögliche Gefahr für die Sicherheit der USA darstellt. Diese neue Doktrin richtete sich insbesondere gegen China und warnte die chinesische Regierung vor dem Ausbau ihrer eigenen Militärkräfte.

Hervorzuheben ist, dass die neue US-Militärdoktrin nicht mit dem Völkerrecht vereinbar ist. Nach den Präzedenzfällen, die im Rahmen der Nürnberger Kriegsverbrechertribunale geschaffen wurden, ist Krieg kein legitimes Mittel staatlicher Politik und Präventivkrieg nicht rechtens. Ein militärischer Angriff eines Staates auf einen anderen ist nur im Falle einer klaren und unmittelbaren Bedrohung rechtmäßig. Mit anderen Worten: Militärische Handlungen sind nur als unvermeidliche und dringliche nationale Selbstverteidigungsmaßnahme erlaubt. Der Angriff auf den Irak, der nur wenige Monate nach Verkündigung der Präventivkriegsdoktrin 2002 erfolgte, war ein Kriegsverbrechen. Wären die Vereinigten Staaten nach der in Nürnberg 1946 etablierten Rechtsauffassung zur Verantwortung gezogen worden, hätten Bush, Cheney, Rumsfeld, Powell und viele andere vor Gericht gestellt werden müssen.

Die Lehren

Aus jeder Analyse des Ersten und Zweiten Weltkriegs ergibt sich unvermeidlich die kritische Frage, ob sich eine solche Katastrophe jemals wiederholen kann. Waren die Kriege des zwanzigsten Jahrhunderts irgendeine Art schrecklicher Abweichung von der 'normalen' historischen Entwicklung? Kann man sich ein erneutes Auftreten internationaler Streitigkeiten und Gegensätze vorstellen, die zum Ausbruch eines dritten Weltkriegs führen könnten?

Zur Beantwortung dieser Frage braucht es keine weit hergeholten Spekulationen. Die wirkliche Frage lautet weniger, ob ein erneuter Weltkrieg möglich ist sondern wie viel Zeit uns bleibt, bevor eine solche Katastrophe eintritt. Und aus dieser zweiten ergibt sich die nächste und entscheidende Frage, ob man irgendetwas tun kann, um dies zu vermeiden.

Um die Kriegsgefahr abzuschätzen, muss man sich vergegenwärtigen, dass die Vereinigten Staaten seit der ersten Invasion im Irak 1990 immer wieder in größere militärische Konflikte verwickelt waren. Im vergangenen Jahrzehnt, seit 1999, haben die USA auf dem Balkan, im Persischen Golf und Zentralasien größere Kriege geführt. Auf die eine oder andere Art waren alle diese Kriege mit dem Bemühen verbunden, die Vorherrschaft der Vereinigten Staaten auf Weltebene zu sichern.

Es ist höchst bedeutsam, dass der vermehrte Rückgriff der Vereinigten Staaten auf ihre Militärmacht vor dem Hintergrund ihrer sich ständig verschlechternden Stellung in der Weltwirtschaft stattfindet. Je schwächer die Vereinigten Staaten vom ökonomischen Standpunkt aus werden, umso mehr sind sie versucht, diese Schwäche durch den Einsatz militärischer Stärke auszugleichen. In dieser Hinsicht ergeben sich beunruhigende Parallelen zur Politik des Naziregimes in den späten 1930er Jahren.

In Zusammenhang mit der Präventivkriegsdoktrin von 2002 ist darüber hinaus zu beachten, dass die Vereinigten Staaten mit einer wachsenden Reihe von Mächten konfrontiert sind, deren ökonomische und militärische Entwicklung vom US-Außenministerium und Pentagon als eine ernst zu nehmend Bedrohung eingestuft wird. Da die Vereinigten Staaten an wirtschaftlichem Gewicht verlieren und diverse Konkurrenten weltweit an Bedeutung gewinnen - eine Entwicklung, die sich durch die Finanz- und Wirtschaftskrise seit 2008 beschleunigt hat und weiter anhält - wird die Versuchung immer größer, dem ungünstigen Wirtschaftstrend militärisch Militär Einhalt zu gebieten.

Schließlich sollten wir uns in Erinnerung rufen, dass der Erste und Zweite Weltkrieg aus einer Destabilisierung der alten, von Großbritannien und Frankreich dominierten imperialistischen Ordnung hervorgegangen sind, durch das Auftreten neuer Konkurrenten. So betrachtet ist es nicht unwahrscheinlich, dass die gegenwärtige Weltordnung - in der die dominante Macht, die Vereinigten Staaten, schon von einer inneren Krise geschüttelt wird und nur mühevoll ihre globale Vorherrschaft aufrechterhalten kann - unter dem Druck der neu auftretenden Mächte (wie China, Indien, Russland, Brasilien, die EU) zusammenbrechen wird, die mit den existierenden Arrangements nicht zufrieden sein können.

Hinzu kommen noch die wachsenden Spannungen in einzelnen Regionen, die sich jeden Moment in militärischen Konfrontationen entladen und wiederum als Anlass für die Interventionen größerer Mächte dienen und dadurch zu internationalen Verwerfungen führen können. Man erinnere sich nur an die gespannte Lage im Sommer 2008 während des Konflikts zwischen Georgien und Russland.

Mit anderen Worten, die Welt ist ein Pulverfass. Die herrschenden Klassen müssen noch nicht einmal den Krieg wollen. Aber sie sind nicht unbedingt in der Lage, ihn aufzuhalten. Wie Trotzki am Vorabend des Zweiten Weltkriegs schrieb, rasen die kapitalistischen Regimes geschlossenen Auges in die Katastrophe. Die kranke Logik des Imperialismus und des kapitalistischen Nationalstaatensystems, das Streben nach einem sicheren Zugang zu Märkten, Rohstoffen und billiger Arbeitskraft, das unablässige Streben nach Profit und persönlichen Reichtümern, führt unvermeidlich in Richtung Krieg.

Wie kann er dann aufgehalten werden? Die Geschichte zeigt uns, dass die Schrecken erregenden Mechanismen des Imperialismus nur dadurch gebannt werden können, dass die Masse der Weltbevölkerung - insbesondere die Arbeiterklasse - aktiv und bewusst in die historische Entwicklung eingreift. Der imperialistische Krieg kann ausschließlich durch eine internationale sozialistische Revolution aufgehalten werden.

1914 stellte sich Lenin gegen den Verrat der Zweiten Internationale und erklärte, das Zeitalter des Imperialismus sei das Zeitalter von Kriegen und Revolutionen. Das heißt, die weltweiten ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Widersprüche, die den imperialistischen Krieg hervorbracht hatten, legten auch die objektiven Grundlagen für die sozialistische Weltrevolution. In diesem Sinne sind imperialistischer Krieg und sozialistische Weltrevolution die Antworten verschiedener und gegensätzlicher gesellschaftlicher Klassen auf die historische Sackgasse des Kapitalismus. Dass Lenins Einschätzung der Weltlage richtig war, zeigte sich mit dem Ausbruch der Russischen Revolution 1917.

Bei allen Veränderungen, die seit dem Beginn des Ersten Weltkriegs vor 95 Jahren und dem des Zweiten Weltkriegs vor 70 Jahren eingetreten sind, leben wir doch immer noch im Zeitalter des Imperialismus. Daher steht die Menschheit heute vor folgenden großen Fragen: Wird die Entwicklung von politischem Bewusstsein in der internationalen Arbeiterklasse den zunehmend zerstörerischen Tendenzen des Imperialismus entgegenwirken? Wird die Arbeiterklasse rechtzeitig genügend politisches Bewusstsein entwickeln, bevor der Kapitalismus und das imperialistische Nationalstaatensystem die Menschheit in den Abgrund stürzen?

Dies sind keine rein akademischen Überlegungen. Allein diese Frage zu stellen, verlangt nach einer aktiven Reaktion. Die Antworten erhält man nicht im Hörsaal sondern im realen Konflikt der gesellschaftlichen Kräfte. Die Sache wird im Kampf entschieden. Und das Ergebnis dieses Kampfes wird in entscheidendem Maße durch die Entwicklung revolutionären, d.h. sozialistischen Bewusstseins bestimmt. Der Kampf gegen imperialistischen Krieg findet seinen höchsten Ausdruck im Kampf für eine neue politische Führung der Arbeiterklasse.

Nur wenige Monate nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs - eine Katastrophe, die durch den vielfachen Verrat der reaktionären stalinistischen, sozialdemokratischen und reformistischen Arbeiterbürokratien möglich wurde - schrieb Trotzki, der herausragende politische Realist:

"Für die kapitalistische Welt gibt es keinen Ausweg, es sei denn, man betrachtet einen hinausgezögerten Todeskampf als einen solchen. Es ist notwendig, sich auf lange Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, des Krieges, der Aufstände, kurzer Atempausen neuer Kriege und neuer Aufstände vorzubereiten. Eine junge revolutionäre Partei muss sich auf diese Perspektive gründen. Die Geschichte wird ihr genug Gelegenheiten und Möglichkeiten liefern, sich zu prüfen, Erfahrungen zu sammeln und zu reifen. Je rascher sich die Reihen der Vorhut zusammenschließen, desto mehr wird die Epoche der blutigen Erschütterungen verkürzt, desto weniger Zerstörung wird unser Planet erleiden. Aber das große historische Problem wird auf keinen Fall gelöst werden, bevor nicht eine revolutionäre Partei an der Spitze des Proletariats steht. Die Frage des Tempos und der Zeitintervalle ist von enormer Bedeutung; aber sie ändert weder die allgemeine historische Perspektive noch die Richtung unserer Politik. Die Schlussfolgerung ist einfach: Es ist notwendig, die Arbeit der Erziehung und Organisierung der proletarischen Avantgarde mit zehnfacher Energie weiterzutreiben. Genau darin liegt die Aufgabe der IV. Internationale." (Manifest zum imperialistischen Krieg und zur proletarischen Weltrevolution)

Diese Analyse, geschrieben zu einem früheren Zeitpunkt der imperialistischen Weltkrise, trifft auch auf die jetzige Situation zu. Es steht nicht weniger als das Überleben der menschlichen Zivilisation auf dem Spiel. Vor allem der Jugend fällt es zu, dem Kriegsstreben Einhalt zu gebieten und die Zukunft der Menschheit zu sichern. Aus diesem Grund schließe ich meinen Vortrag mit dem Appell an euch, der Vierten Internationale und ihren Parteiorganisationen beizutreten.

Siehe auch:
Europäische Trotzkisten gedenken des 70. Jahrestags des Zweiten Weltkriegs
(22. Oktober 2009)
Loading