Demjanjuk-Prozess:

Fortsetzung des Prozesses gegen Demjanjuk wirft Licht auf nationalsozialistische Verbrechen

Ende November letzten Jahres ist der Prozess gegen den mutmaßlichen SS-Gehilfen John Demjanjuk wegen Beihilfe zum Mord vor dem Landgericht München II eröffnet worden. Die Staatsanwaltschaft wirft dem 89-jährigen vor, von März bis September 1943 als Wachmann im Vernichtungslager Sobibor im besetzten Polen bei der Ermordung von mindestens 27.900 Juden mitgewirkt zu haben.

Da der Angeklagte über seine Verteidiger zu Beginn des Prozesses erklären ließ, dass er selbst keine Aussagen machen wolle, und auch die wenigen Überlebenden, die vor Gericht als Zeugen und Nebenkläger auftreten, sich nicht direkt an John Demjanjuk erinnern können, versucht das Gericht, die Ereignisse durch historische Sachverständige und Dokumente zu rekonstruieren. Die Anwesenheit des Angeklagten im angegebenen Zeitraum im Vernichtungslager Sobibor ist durch den Lager- und Dienstausweis dokumentiert.

Der Prozess wurde Anfang dieses Jahres mit den Aussagen von Historikern und Zeugen, die das Vernichtungslager Sobibor überlebt haben, fortgesetzt. In der zweiten Januarwoche kam der Historiker des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, Dieter Pohl, als Sachverständiger zu Wort.

Dieter Pohl, der dem Gericht ein Gutachten vorgelegt hat, äußerte sich vor allem zum Aufbau des nationalsozialistischen Judenvernichtungssystem in den von den Nazis besetzten Gebieten Osteuropas und zur Entstehung der Vernichtungslager, darunter Sobibor. Seit Mai 1942 seien Juden aus ganz Europa systematisch in diesem Lager in Polen ermordet wurden, erklärte Pohl vor Gericht. "Der einzige Zweck war die Ermordung." Die Lagerleitung bestand aus 25 bis 30 SS-Leuten, die Drecksarbeit wurde von 100 bis 120 sogenannten Trawniki erledigt.

Demjanjuk war einer von mehreren Tausend sowjetischen Kriegsgefangenen, die die Nationalsozialisten als Handlanger beim Massenmord an den Juden in Polen einsetzten. Die meisten waren wie er Ukrainer, viele andere Balten, einige wenige Polen und sogenannte "Volksdeutsche" aus der Sowjetunion. Die nach dem Ort des Zwangsarbeits- und Ausbildungslagers genannten Trawniki (einem Ort in der Nähe von Lublin) wurden bei der Räumung jüdischer Gettos, bei der Erschießung von Menschen und als Wachmänner eingesetzt. Sie trieben auch die KZ-Opfer in die Gaskammern.

Dieter Pohl schätzt die Zahl der Trawniki auf insgesamt etwa 4.800. Bevorzugt seien sie nach rassischen Kriterien ausgewählt worden. Entscheidend waren aber auch Deutschkenntnisse, der körperliche Zustand und vor allem eine "antibolschewistische Einstellung".

Der Historiker wies auch auf die verzweifelte Lage der sowjetischen Kriegsgefangenen unter den Nazis hin. Von den Ende 1941 in deutsche Gefangenschaft geratenen 3,7 Millionen Rotarmisten seien Mitte 1942, also ein halbes Jahr später, nur noch die Hälfte am Leben gewesen. Alle anderen seien an Hunger, Seuchen und Krankheiten gestorben. Das selbst stelle ein Kriegsverbrechen von ungeheuerem Ausmaß dar.

Die Verteidiger Demjanjuks versuchen sein Verhalten - vorausgesetzt, dass er tatsächlich in Sobibor als Trawniki seinen Dienst leistete - so darzustellen, als ob er keine andere Wahl gehabt hätte, als den Befehlen der SS Folge zu leisten. Ansonsten wäre er in das Kriegsgefangenenlager und den beinahe sicheren Tod zurückgesandt worden.

Dieser Annahme stehen jedoch nach Aussage des Gutachters Fluchtversuche von Trawniki, teilweise gemeinsam mit Gefangenen, gegenüber, die sich so der Beteiligung an dem Massenmord entzogen haben. Einige von diesen Fluchtversuchen waren erfolgreich. Wurden sie von der SS wieder aufgegriffen, bedeutete es den sicheren Tod.

Die Hauptaufgabe der Trawniki bestand laut Dieter Pohl in der Bewachung des Lagers. Sobald Transportzüge mit Juden eintrafen, mussten sie beim Entladen helfen und den größten Teil der Opfer direkt in die Gaskammern treiben. Pohl zitierte aus der Aussage eines ehemaligen Trawniki, dem nach dem Krieg in der Sowjetunion der Prozess gemacht und der später hingerichtet wurde: "Alle Wachmänner kamen dran bei der Vernichtung von Menschen."

Kritik aus Polen und der Ukraine

Wie die Süddeutsche Zeitung vom 14. Januar 2010 berichtete, wird der Prozess gegen Demjanjuk in polnischen und ukrainischen Medien genau verfolgt und kommentiert. Demjanjuk kommt aus dem zentralukrainischen Bezirk Winniza. Prozessbeobachter aus beiden Ländern halten eine strenge Bestrafung des 89-jährigen Demjanjuk für gerechtfertigt, wenn ihm eine individuelle Schuld nachgewiesen werden könne. Was viele Kommentatoren aus diesen Ländern jedoch kritisieren, ist die Tatsache, dass der Prozess vor einem deutschen Gericht stattfindet. Dahinter steckt die Sorge, dass durch einen Prozess gegen einen Angeklagten, der aus einem damals besetzten Land stammt, die deutsche Schuld und Verantwortung für den Holocaust relativiert werden könnte.

So heißt es in einem Kommentar der nationalkonservativen Warschauer Zeitung Rzeczpospolita : "Wir dürfen aber nicht vergessen, wer Demjanjuk zum Täter gemacht hat. Es waren die NS-Herrn über Leben und Tod." Die in der Bundesrepublik neuerdings propagierte These, der Holocaust wäre "ohne die eilfertige Unterstützung von Millionen Angehörigen der Völker Osteuropas" nicht möglich gewesen, lasse die Tatsache in den Hintergrund treten, dass die "teuflische Vernichtungsmaschinerie" Teil der Staatspolitik des damaligen Deutschlands gewesen sei.

Ein Hauptdilemma im Prozess gegen Demjanjuk besteht darin, dass viele der Hauptverantwortlichen für die Nazi-Verbrechen und auch die meisten der Helfershelfer nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in der Bundesrepublik nie vor Gericht gestellt und zur Verantwortung gezogen wurden.

Historiker gehen davon aus, dass etwa 170.000 Menschen an den Morden des nationalsozialistischen Deutschlands beteiligt waren. Nur 6.500 Täter wurden in der Bundesrepublik verurteilt und dann oft nur zu sehr geringen Strafen. Viele der Verantwortlichen aus Justiz, Geheimdiensten und Polizei hat man nicht nur nicht zur Rechenschaft gezogen, sondern sie setzten ihre Tätigkeit in führenden Positionen der Bundesrepublik nahtlos fort. Nicht nur die herrschende Elite Deutschlands, sondern auch der westlichen Alliierten und der USA schätzten offensichtlich ihre Dienste für die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung, die Repressionen gegen Linke und die Aktivitäten gegen die Sowjetunion während des Kalten Kriegs.

Fast alle polnischen Zeitungen, die über den Demjanjuk-Prozess berichten, erinnern daran, dass bei den Sobibor-Prozessen in der Bundesrepublik während der sechziger und siebziger Jahre nur die Hälfte der zwölf angeklagten SS-Männer überhaupt verurteilt wurden. Lediglich der Lagerleiter erhielt damals eine lebenslängliche Freiheitsstrafe, die anderen fünf Verurteilten nur Haftstrafen zwischen drei und acht Jahren.

Die ukrainischen Medien betonen, dass Deutschland für die Zerstörungen während des Kriegs und der Besatzung in ihrem Land sowie den daraus entstehenden Folgen nie irgendeine Art von Entschädigung gezahlt habe.

Zeugenaussagen von Sobibor-Überlebenden

Am 19. Januar sagte der 82-jährige Thomas Blatt als einer der wenigen Überlebenden von Sobibor als Zeuge aus. Thomas Blatt kam im April 1943 als 15-jähriger zusammen mit seinen Eltern und seinem 8-jährigen Bruder ins Lager. Seine Eltern und sein Bruder wurden sofort ins Gas geschickt, während er für Hilfsarbeiten im Lager ausgesucht wurde. Er musste die persönlichen Gegenstände sortieren, die man den Häftlingen nach der Ankunft abnahm, Pässe und Dokumente verbrennen, jüdischen Frauen die Haare abschneiden, bevor sie ins Gas geschickt wurden. Später musste er mithelfen, Wege und Baracken zu bauen.

Thomas Blatt berichtete von den Schreien der Menschen aus den Gaskammern und dem Weinen der Kinder. "Wir haben niemals geweint in Sobibor", sagte er weiter; wer weinte, wurde erschossen. Seine Entscheidung, als Zeuge und Nebenkläger im Prozess gegen Demjanjuk aufzutreten, begründete Blatt mit den Worten: "Ich suche nicht Rache, ich suche Gerechtigkeit." Es gehe ihm darum, die Wahrheit über das Geschehene nicht in Vergessenheit geraten zu lassen und den nachfolgenden Generationen zu vermitteln.

Thomas Blatt zählt zu den 47 bis 53 Überlebenden des Lagers. Er beteiligte sich mit anderen Häftlingen an dem Aufstand in Sobibor am 16. Oktober 1943 und konnte in die umliegenden Wälder fliehen. Die Nazis schlugen den Aufstand nieder und machten das Lager anschließend dem Erdboden gleich, um alle Spuren ihrer Vernichtungsarbeit zu vernichten.

Thomas Blatt hat sein ganzes darauf folgendes Leben dem Ziel gewidmet, die Erinnerung an dieses Lager lebendig zu halten und schrieb mehrere Bücher (From the Ashes of Sobibor, Sobibor - der vergessene Aufstand. Bericht eines Überlebenden). Auch der Spielfilm Escape from Sobibor stützt sich auf seine Erinnerungen.

Blatt kann sich zwar nicht persönlich an Demjanjuk erinnern, aber seine Aussage hat Gewicht. Denn wenn bewiesen werden kann, dass Demjanjuk als Wachmann in Sobibor gearbeitet hat, was sein Dienstausweis und Verlegungslisten nahe legen, dann hat er sich auf jeden Fall mitschuldig gemacht. Wer in Sobibor arbeitete, wurde automatisch zum Mörder.

Thomas Blatt konnte in dem halben Jahr, das selbst in Sobibor verbringen musste, die Anlage und den Mechanismus der Tötungsmaschinerie sehr genau studieren. Er war in dem bitterarmen Schtetl Izbica in Ostpolen aufgewachsen, das ab dem Jahr 1942 von der deutschen Besatzungsmacht als Durchgangslager für die Juden auf dem Weg in die Vernichtung genutzt wurde. Von 200 Menschen, die mit ihm nach Sobibor transportiert wurden, wurden 160 sofort ins Gas geschickt. Die übrigen 40 ließ man als Arbeitsjuden am Leben. Blatt musste auch Hilfsarbeiten für den Lageraufseher Karl Frenzel erledigen. Diesen spürte er später auf und sorgte mit dafür, dass er nach einem Prozess, der im Jahr 1966 mit Freispruch aus formalen Gründen endete, 1985 erneut vor Gericht gebracht und zu lebenslanger Haft verurteilt wurde.

Auch der 84-jährige Philip Bialowitz hat Sobibor überlebt und sagte letzte Woche als Zeuge vor Gericht aus: "Ich bin hier, um zu erzählen, wofür Sobibor steht." Er kommt wie Thomas Blatt aus dem etwa 70 km von Sobibor entfernten Ort Izbica und wurde ebenfalls als Arbeitshäftling ausgewählt. Auch er beteiligte sich im Oktober 1943 an dem Häftlingsaufstand und konnte nach Monaten des Schreckens fliehen. Ein großer Teil seiner Familie dagegen, darunter seine beiden Schwestern, starben in Sobibor.

Siehe auch:
Prozess gegen John Demjanjuk eröffnet
(3. Dezember 2009)
Adenauer-Regierung und CIA deckten Nazi-Verbrecher Adolf Eichmann
( 28. Juni 2006)
Loading