Zum Tode von Miep Gies (15. Februar 1909 - 10. Januar 2010)

"Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht daran denke, was damals geschah", sagte Miep Gies noch kurz vor ihrem Tod.

Es war am 4. August 1944, als das Versteck der Familie Frank durch Verrat entdeckt und von dem österreichischen SS-Oberscharführer Karl Josef Silberbauer und drei niederländischen Nazis von der so genannten Grünen Polizei gestürmt wurde. Anne Frank und die übrigen Versteckten wurden in Konzentrationslager abtransportiert. Anne Frank starb kurz vor ihrem 16. Geburtstag in Bergen Belsen an Typhus. Ihre Mutter und ihre Schwester starben in Auschwitz. Nur ihr Vater überlebte das Konzentrationslager.

Die letzte noch lebende Helferin der jüdischen Familie Frank ist am Sonntag im Alter von hundert Jahren gestorben. Sie war die Retterin des Tagebuchs der jungen Anne Frank, eines historischen Dokuments, das Hunderttausenden von Lesern in aller Welt das Schicksal der von den Nationalsozialisten verfolgten Familie auf eine so persönliche Weise nahe brachte, dass sie es unmittelbar mitempfinden konnten.

Miep Gies wurde am 15. Februar 1909 als Hermine Santrouschitz in Wien geboren. Weil ihre armen Eltern sie wegen der damals herrschenden Lebensmittelknappheit in Österreich kaum ernähren konnten, schickten sie sie 1922 im Rahmen eines Hilfsprojektes in die Niederlande. Ihre dortige Gastfamilie, die sie später adoptierte, gab ihr den Spitznamen Miep.

1933 nahm die junge Frau eine Arbeit als Büroassistentin im Gewürzhandelsunternehmen von Otto Frank an, der mit seiner Familie nach der Machtergreifung der Nazis dorthin ausgewandert war. Nachdem sie sich 1941 geweigert hatte, einer NS-Organisation beizutreten, entging sie der Deportation nach Österreich nur durch die Heirat mit ihrem niederländischen Freund Jan Gies.

Zusammen mit diesem und vier weiteren Beschäftigten des Unternehmens von Frank versorgte sie nach der Besetzung der Niederlande durch die deutsche Wehrmacht 1940 die Familie Frank im Haus Prinsengracht 263 in Amsterdam.

Im Sommer 1942 begannen die Massendeportationen von Juden aus den Niederlanden in die Konzentrations- und Vernichtungslager. Am 5. Juli 1942 erhielt Margot Frank die Aufforderung, sich in einem "Arbeitslager" zu melden. Otto Frank beschloss daraufhin, dass die Familie unverzüglich untertauchen müsse. Eigentlich war dies erst für einen späteren Termin geplant.

Miep Gies begleitete zunächst Annes Schwester Margot, später Otto, Edith und Anne in das Versteck. Später stießen noch die Familie des Geschäftspartners van Pels und Gies’ Zahnarzt Fritz Pfeffer dazu. In den folgenden zwei Jahren half Miep Gies den Familien Frank und van Pels sowie Fritz Pfeffer mit Lebensmitteln, Büchern und Zeitungen.

Insgesamt acht Menschen - die vierköpfige Familie Frank, die Familie van Pels und Fritz Pfeffer - hielten sich rund zwei Jahre lang in dem Hinterhaus der Prinzengracht 263 versteckt. Im Haus selbst wurde die Firma Otto Franks unter christlicher Geschäftsführung weitergeführt, und Miep Gies setzte ihre Tätigkeit dort fort. Der Eingang zum Versteck war durch ein Bücherregal getarnt.

Gies und drei andere Eingeweihte sorgten dafür, dass die Versteckten hatten, was sie zum Überleben brauchten. Anne Frank nannte sie ihren "Packesel", weil sie so Vieles heranschaffte, darunter die besonders von Anne heiß ersehnten Bücher aus der Bibliothek. Miep war ihr wichtigster Kontakt zur Außenwelt. Die heranwachsende Anne Frank hat diese Zeit eindrucksvoll in ihrem Tagebuch geschildert.

Einmal übernachteten Miep und ihr Ehemann Jan Gies, ein Mitglied des Widerstands gegen die Nazis, den Anne in ihrem Tagebuch mit dem Pseudonym Henk nannte, in dem Versteck, um sich besser in das Leben der Eingeschlossenen versetzen zu können. Ihre Wohnung lag nur einige Fahrradminuten von der Prinsengracht entfernt. Dort hielten sie einen Studenten versteckt, der ebenfalls gegen die Nazis opponiert hatte.

Miep Gies war nur in der Lage, das Tagebuch von Anne und einige persönliche Gegenstände der Familie aus dem Versteck zu retten, weil sie dem SS-Mann Silberbauer erklärte, sie sei, wie er auch, aus Wien. Es sah daraufhin von einer Meldung ab. Er drohte ihr aber, sie aufzuspüren, falls sie fliehen sollte. Später versuchte sie sogar, ihn mit Geld zu bestechen, um die Entlassung der Familien Frank und van Pels aus der Haft zu erreichen und diese vor dem Tod zu retten. Silberbauer wies diesen Bestechungsversuch jedoch zurück, da er "nicht in der Position" sei, "dies entscheiden zu dürfen".

Gies selbst hat in ihrem Buch Meine Zeit mit Anne Frank die schrecklichen zwei Jahre aufgearbeitet. Die amerikanische Autorin Alison Leslie Gold hatte sie dazu überredet. Nach dem Krieg war sie in aller Welt unterwegs, mit dem Ziel dafür zu sorgen, dass der Holocaust nicht in Vergessenheit geriet. Trotz zahlreicher internationaler Ehrungen wegen ihre mutigen Verhaltens wies Gies jeden Versuch zurück, sie als Heldin zu feiern.

Das Tagebuch von Anne Frank, das Miep Gies gemeinsam mit ihrer Freundin Elli gerettet hat, ist in 70 Sprachen übersetzt worden. "Das ist keine Kleinigkeit", sagte die Leiterin der Forschungsabteilung im Amsterdamer Anne-Frank-Haus Teresien Da Silva über Miep Gies anlässlich ihres 100. Geburtstags. "Aber sie wollte nie als Heldin betrachtet werden, dagegen hat sie sich immer gewehrt." Miep sagte immer wieder: "Ich habe getan, was ich tun musste. Punkt aus."

An anderer Stelle sagte sie : "Mitmenschen in Not zu helfen, ist keine Frage des Mutes, sondern eine Wahl, die jeder Mensch in seinem Leben einmal treffen muss als Unterschied zwischen dem Guten und dem Bösen." Wer von den Menschen, die das Versteck kannten, es verraten hat, ist bis heute nicht bekannt.

In ihrem Buch Meine Zeit mit Anne Frank schreib Gies, dass eine Akte der niederländischen Polizei existiere, in der es heißt, "dass eine Person 7 1/2 Gulden pro Jude bekommen habe - das hieß, insgesamt 60 Gulden".

Miep Gies war empört über die zahlreichen Versuche aus dem rechten Lager, das Tagebuch der Anne Frank für eine Fälschung zu erklären. Sie hatte unmittelbar nach den Krieg gezögert, es zu lesen und es Otto Frank übergeben, der für seine Veröffentlichung sorgte. Als sie erstmals das Tagebuch gelesen hatte, das die schriftstellerisch begabte Anne selbst gern veröffentlichen wollte, fühlte Gies sich wie befreit: "Nun wird Annes Stimme nie mehr verloren gehen."

So wie Anne Frank durch ihr Tagebuch zu einer Symbolfigur für die Opfer des Holocaust wurde, so wurde Miep Gies zu einem Symbol für die mutigen Menschen, die es trotz Lebensgefahr für selbstverständlich hielten, den durch die Nazis bedrohten Mitmenschen zu helfen.

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