Belgische Eisenbahner streiken nach Zugunglück wegen Sicherheitsmängeln

Belgische Eisenbahner sind am Dienstag in einen spontanen Streik getreten. Am Vortag waren zwei Nahverkehrszüge in der Nähe von Brüssel frontal zusammengestoßen. Mindestens achtzehn Menschen kamen dabei ums Leben, und fast 200 wurden verletzt.

Die Eisenbahner erklärten, dass sich ihr spontaner Streik gegen die Sicherheitsbedingungen bei der Eisenbahngesellschaft und gegen verschlechterte Arbeitsbedingungen und Personalmangel richte. Weitere Unfälle wie der in Halle seien nur eine Frage der Zeit.

Berichten zufolge beteiligen sich Lokführer, Stellwerker, Maschinisten und Techniker an dem Ausstand. Depots im ganzen Land wurden blockiert. Es kam zu umfangreichen Störungen im Betriebsablauf, besonders in der Wallonie im Süden.

Sprecher der Eisenbahngesellschaft erklärten, der Streik werde vermutlich mehrere Tage dauern und die schweren Störungen im Netz verstärken. Auch Routen zwischen großen europäischen Städten seien betroffen.

Die SNCB sagte, 85 Prozent der Depots seien vom Streik betroffen. Sehr viele Züge müssten ausfallen, auch im internationalen Verkehr. Eurostar und Thalys, die Frankreich, die Niederlande, Deutschland und Großbritannien verbinden, geben an, dass sie die normalen Strecken nicht befahren könnten.

Einer der Lokführer befand sich unter den am Montag getöteten, während der andere in ernstem Zustand im Krankenhaus liegt. Er konnte bisher noch nicht von der Polizei vernommen werden. Die Züge waren von Löwen nach Braine-le-Comte und von Quievrain nach Lüttich unterwegs, als sie um ca. 8:30 kurz hinter Halle zusammenstießen. Der Unfall ist das schwerste Eisenbahnunglück in Belgien seit 1974. Die Zahl der Opfer könnte noch weiter ansteigen, da möglicherweise noch nicht alle Passagiere aus den Trümmern der Waggons geborgen werden konnten. Anfänglich hatten die Behörden von mindestens 25 Toten gesprochen.

Was den Zorn der Eisenbahner besonders erregte, war die Tatsache, dass der Unfall anfänglich allein der Nachlässigkeit der Lokführer angelastet wurde. Noch bevor die Black Boxes der beiden Züge ausgewertet worden waren, behauptete die nationale belgische Eisenbahngesellschaft Société Nationale des Chemins de fer Belges (SNCB), der Zusammenstoß habe sich ereignet, weil einer der Lokführer ein rotes Signal überfahren habe und infolgedessen mit hoher Geschwindigkeit den anderen Zug gerammt habe.

Wie die SNCB jedoch später zugab, ist zwar der Schienenstrang, auf dem sich der Unfall ereignete, mit einem Sicherheitssystem ausgestattet, das einen Zug beim Überfahren eines roten Signals automatisch stoppt. Aber einer der Züge verfügte nicht über diese wichtige automatische Bremse. Marc Descheemaecker, Vorstandsvorsitzender der SNCB, sagte, dass zwar schon 2005 beschlossen worden sei, alle Züge mit diesem System auszurüsten, das gehe "aber nicht alles auf einmal".

Luc Lallemand, Vizechef des Schienennetzbetreibers Infrabel, sagte, das Sicherheitssystem sei "nicht vor 2013 vollständig installiert". Auf die Frage, ob der Unfall hätte verhindert werden können, wenn beide Züge voll ausgerüstet gewesen wären, antwortete er: "Ja. Er hätte vermieden werden können."

Der Zusammenstoß vom Montag ist der dritte größere Unfall bei der belgischen Eisenbahn in einem Jahrzehnt. 2001 stießen zwei Nahverkehrszüge bei Pécrot vor den Toren von Brüssel frontal zusammen. Dabei kamen acht Menschen ums Leben. Für den Unfall waren Verständigungsprobleme zwischen einem flämisch sprechenden Stellwerker und einem französisch sprechenden Kollegen verantwortlich gemacht worden. 2008 wurden mehr als 40 Menschen verletzt, als ein Nahverkehrszug, der in die falsche Richtung fuhr, in Zentralbelgien mit einem Güterzug zusammenstieß.

Unter Berufung auf Lallemand schrieb die belgische Tageszeitung Le Soir über die aktuelle Eisenbahnkatastrophe: "Wenn er Recht hat, dann liegt die Verantwortung bei der SNCB, die auch zehn Jahre nach der Katastrophe von Pécrot ihre Züge immer noch nicht mit den damals von Experten empfohlenen Sicherheitseinrichtungen ausgerüstet hat."

Der Streik begann am Dienstagmorgen in Löwen, wo der gestorbene Lokführer lebte. Er ist inzwischen als der 36jährige Johan de Keyzer identifiziert worden. Später weitete sich der Ausstand auf das ganze Netz aus.

Le Monde schrieb, die Aktion der Eisenbahnarbeiter sei "implizit auch eine Kritik an den Gewerkschaften, die sich am Abend vorher mit dem Bahn-Management und Verkehrsministerin Inge Vervotte getroffen hatten, ohne anschließend zu einer Arbeitsniederlegung aufzurufen.

Gewerkschaftsvertreter bestritten, dass der Ausstand offizielle Unterstützung habe. Jos Dignette von der Bahngewerkschaft ACOD verurteilte den Streik. Die New York Times zitierte Dignette mit den Worten, was als "verständliche emotionale Reaktion" der Lokführer auf den Zusammenstoß vom Montag begonnen habe, sei dann in eine kontraproduktive Richtung gelaufen.

"Die Lage ist unschön", sagte Dignette. "Ich verstehe nicht, warum einige jetzt in den Krieg gezogen sind." Dignette fügte hinzu, dass Lokführer in Nordbelgien gedroht hätten, den Streik fortzusetzen.

Ein Sprecher der Eisenbahngesellschaft sagte, die "Zerstörung" durch den Zusammenstoß der beiden Züge sei "enorm". Etwa 300 Personen seien an Bord gewesen. Der Aufprall sei so heftig gewesen, dass die beiden ersten Wagen sich gegenseitig nach oben gedrückt und die Fahrdrähte beschädigt hätten. Die meisten Toten fanden sich in den beiden ersten Waggons. Rettungskräfte durchsuchten die Trümmer noch lange nach dem Unfall nach weiteren Opfern.

Reporter berichteten, dass Ärzte einige der Verletzten noch vor Ort behandelt und sogar Amputationen vorgenommen hätten. Die gehfähigen Verletzten wurden in ein nahegelegenes Sportzentrum gebracht, wo sie medizinisch versorgt wurden.

Luciaan Spiessens, ein pensionierter Bahnhofmanager aus Buizingen, befand sich im vordersten Waggon des kleineren Zugs und gab der regionalen Zeitung Het Belang van Limburg seine Version des Unfalls. Er erzählte, kurz vor dem Aufprall habe der Lokführer mit seinem Alarmhorn auf einmal intensiv gehupt.

"Ich wusste sofort, dass es ernst war", sagte Spiessens. "Sekundenbruchteile später führte er eine Notbremsung durch und sprang aus der Tür seines Führerstands in den Waggon.

Nach dem Zusammenstoß war der Lokführer bei uns im zerstörten Waggon. Ein junger Mann lag scheinbar leblos auf dem Boden. Der Lokführer war nicht ernsthaft verletzt und versuchte alles, um den jungen Mann wieder zu Bewusstsein zu bringen, was ihm auch gelang.

Als ich ein wenig später aus den Trümmern befreit war, sah ich den Lokführer draußen stehen. Er war in Tränen aufgelöst, wahrscheinlich weil er erst jetzt begriff, was geschehen war."

Hambaoui Mounir, ein weiterer Passagier, sagte: "Die beiden ersten Waggons waren völlig zerstört. Ich war in dem Waggon genau dahinter. Der Zug fiel auf die Seite, die Leute fielen übereinander, es gab keine Luft und Frauen und Kinder schrien."

Der 23jährige Sebastian Duckers, der im Zug nach Brüssel saß, erzählte der BBC, er sei erst zwei Stationen vorher eingestiegen. Er habe sich auf dem Weg zur Arbeit nach Brüssel befunden. "Plötzlich gab es einen lauten Knall und ich wurde mit dem Kopf nach vorne gegen den Sitz vor mir geschleudert.

Glücklicherweise wurde ich nicht verletzt, stand sofort auf und sah, wie die Leute im Wagen herumgeschlendert wurden. Alle hatten Angst und schrien und weinten. Wir standen alle unter Schock.... Leute vom Bahnhof und die Polizei waren sehr, sehr schnell vor Ort. Sie riefen in die Waggons, wir sollten drin bleiben und nicht auf die Schienen heraustreten, weil die Gefahr von Elektroschocks bestünde. Es waren stromführende Kabel auf die Geleise gefallen."

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