60. Berlinale - Teil 7

"Boxhagener Platz" von Matti Geschonneck

Der 1952 geborene Regisseur Matti Geschonneck verließ 1978 die DDR. Er war aus der SED ausgeschlossen worden, weil er die Ausbürgerung des kritischen Liedermachers Wolf Biermann 1976 nicht unterstützt hatte. Der Sohn des populären DDR-Schauspielers Erwin Geschonneck ist heute durch diverse Fernsehfilme bekannt. Seine Tragikomödie Boxhagener Platz entstand nach dem gleichnamigen Roman von Torsten Schulz.

Boxhagener Platz Boxhagener Platz

7. Oktober 1968 in Ostberlin: Republikgeburtstag. Pioniere und FDJler von den staatlichen Jugendorganisationen der DDR rühren die Trommel, Fanfaren schmettern. An der Oberfläche herrscht Einheit mit dem SED-Staat. Aber im Schulalltag wird der zwölfjährige Holger als "Bullensohn" beschimpft. Sein Vater sorgt für Ruhe und Ordnung am Boxhagener Platz, einer alten Arbeitergegend.

Auch Holgers Großmutter Otti wohnt hier, die schon mehrere politische Systeme und mehrere Ehemänner überlebt hat. Den sechsten pflegt sie gerade, und ein neuer Verehrer bemüht sich erfolglos, der "olle Karpfenkopp", der Fischhändler um die Ecke.

Otti verliebt sich in Karl, einen Kneipenbruder ihres Mannes, der ihr auf dem Friedhof einen Gedichtband schenkt. Der Rentner ist ein aktiver Typ, mit einem Hang fürs Abenteuerliche, der, weil er nach Westberlin reisen kann, von dort nicht nur einen schönen Weihnachtsbaum mitbringt, der, kaum im Osten, prompt alle Nadeln verliert, sondern auch das politische Magazin "Stern" hineinschmuggelt. Und irgendwann zeigt er Holger geheimnisvoll ein "echtes Flugblatt" mit der Forderung: "Russen raus aus Prag!"

Holger erfährt von ihm Dinge, die im Gegensatz zur offiziellen DDR stehen: Fisch-Winkler sei ein alter Nazi und Walter Ulbricht kein wirklicher Kommunist. Der hätte früher auf einer Tribüne mit dem späteren Nazi-Propagandachef Goebbels gestanden. Dann sei er zu Stalin gegangen, der massenweise ehrliche Kommunisten umbrachte, Leute wie Karl, ein alter Spartakuskämpfer, Teilnehmer der Revolution von 1918. Heute seien die Studenten, die in Westberlin gegen Nazis kämpften, die echten Kommunisten.

Als der Fischhändler erschlagen aufgefunden wird, taucht das Bekennerschreiben einer antifaschistischen Studenten-Kommune aus Westberlin auf. Dann wird jedoch Karl als Verfasser verhaftet. Im Gefängnis stirbt der alte Revolutionär, der in letzter Zeit über Emigration nachdachte und darüber, warum die Arbeiterbewegung eigentlich immer verloren hat. Als auf dem Friedhof die Bäume rauschen, weiß die abergläubische Otti, dass Karl sich zurückgemeldet hat. Mit ihm die vielen anderen einer inzwischen versunkenen Zeit.

Das Hauptaugenmerk des Films liegt auf der einfühlsamen Gestaltung der beiden Hauptfiguren Otti und Karl. Otti kämpft zeitlebens selbstbewusst mit Humor und harten Bandagen um die Existenz ihrer Familie, rät pragmatisch der Tochter einen Polizisten zu heiraten, bewahrt sich in der DDR aber immer eine gewisse Distanz gegenüber der SED und dem Staatsapparat.

Der alte Kommunist Karl sagt freimütig seine Meinung, ist gewohnt, sich einzumischen. Ohne Berührungsängste singt er Holger auf der Straße das SA-Lied des Fischmanns vor. Aber Holger lernt von ihm auch ein altes Arbeiterlied, das nicht in der Schule gesungen wird und dessen deutscher Text von Rosa Luxemburg stammt.

Karl ist jemand, der sich die Degeneration der kommunistischen Bewegung letztlich nicht erklären kann. Wahre Kommunisten sind für ihn aktive, ehrliche und opferbereite Kämpfer, die Stalinisten dagegen eigennützige, opportunistische "Bonzen", die sogar mit den Nazis paktieren. Wie viele mögen wie er im Alter enttäuscht und resigniert in der Kneipe gesessen haben, bevor er Otti kennenlernte? Diese Ratlosigkeit macht ihre große Tragik aus, die der Film gut rüberbringt.

Der Film scheint diese Ratlosigkeit aber auch zu teilen. Insgesamt vermittelt er die Auffassung, Stalinismus sei eine von Stalin ausgegangene Art moralischen Fehlverhaltens. Dies sei kein Sozialismus mehr, entfährt es Holgers Vater, als die Staatsmacht brutal auf seinen Sohn losgeht. Karl stellt mehrfach fest, dass die Methoden denen der Nazis ähneln.

Ein Schulkamerad Holgers, der seinen gewalttätigen Vater als Staatsfeind denunziert und von einer Kripo-Karriere träumt, soll offenbar demonstrieren, wie persönlicher Hass auf den Unterdrücker in Machtgier umschlägt, was dazu prädestiniert, zukünftig selbst zu unterdrücken. Sozialismus und Diktatur scheinen nicht weit entfernt. Zum Schluss trägt der Jugendliche selbstbewusst eine Glatze, was auch Assoziationen an Neonazis weckt.

Wirklich originell ist das Bekennerschreiben Karls, das die wahren Antifaschisten im Lager des Kapitalismus ansiedelt (undenkbar für die offizielle DDR), von wo sie ihren Kampf gegen Nazis über die Berliner Mauer hinweg Richtung Osten fortsetzen, ausgerechnet im "DDR-Sozialismus", wo der Faschismus angeblich "historisch überwunden" ist. Ist das die Idee eines wirklichen Internationalisten, der weiß, dass kommunistischer Antifaschismus nicht mit der Existenz der Berliner Mauer vereinbar ist? Der Aha-Effekt relativiert sich schnell, man erinnert sich, dass die Idee lediglich auf eine naive Frage Holgers zurückgeht.

Boxhagener Platz zeigt große Sympathie für die "kleinen" Leute, die nie im öffentlichen Rampenlicht stehen. Gedeckte, bräunliche Farbtöne geben einem das Gefühl, immer irgendwie in der Nähe von Ottis Wohnstube zu sein. Die Würde der Figuren stellt sich durch die hervorragenden Schauspieler Gudrun Ritter und Michael Gwisdek sowie das Bemühen um geschichtliche Akzente her, was den Charakteren mehr Tiefe verleiht.

Der Alltagsfilm erinnert an jene Arbeitergeneration, die die stalinistischen Verbrechen der zwanziger und dreißiger Jahre auch nach der Befreiung vom Faschismus durch die Rote Armee nicht vergessen hatte. In der DDR, die aus diesen Verbrechen hervorging, wurden Leute wie Karl und Otti nie heimisch.

Siehe auch:
Ich wollte an die verheimlichten Kommunisten erinnern
(27. März 2010)
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