Rechtsruck in Ungarn erwartet

Am Sonntag finden in Ungarn zum sechsten Mal seit der Wende von 1990 Parlamentswahlen statt. Seit Langem sagen alle Meinungsumfragen einen Erdrutschsieg der größten Oppositionspartei, des rechts-konservativen Bundes Junger Demokraten (Fidesz) voraus. Darüber hinaus könnte die neo-faschistische Partei für ein besseres Ungarn (Jobbik) zweitstärkste Kraft werden.

Möglicherweise kann der Fidesz sogar eine Zweidrittelmehrheit erreichen, was bisher noch keiner Partei gelang. Der Vorsitzende und Spitzenkandidat der Jungdemokraten, Victor Orban, ist sich seines Siegs derart sicher, dass er es abgelehnt hat, an öffentlichen Diskussionen teilzunehmen. Mit der ihm eigenen Arroganz kündigte er an, sich für eine Regierungsperiode von 15 bis 20 Jahren vorzubereiten. Orban und seine Partei sind noch nicht einmal mit einem Wahlprogramm angetreten.

Noch 2002, als Orban nach vierjähriger Regierungszeit abgewählt wurde, wäre der nun erwartete Wahlsieg kaum vorstellbar gewesen. Doch die Sozialisten, die ihn damals ablösten, haben sich in acht Regierungsjahren bei derart breiten Bevölkerungsschichten verhasst gemacht, dass die Rechten nun freie Bahn haben.

In den Wendejahren waren die Jungdemokraten um Orban als Vorkämpfer für Demokratie gegen das totalitäre System aufgetreten. Doch schon in den 1990er Jahren wandte sich der Fidesz einem aggressiven ungarischen Nationalismus zu, der auf die Rückgewinnung der 1920 verlorenen ungarischen Gebiete setzt.

Als Orban dann 1998 Regierungschef wurde, setzte er rücksichtslos Sozialabbau und Privatisierungen durch. 2002 bekam er dafür die Quittung und musste sein Amt an den sozialistischen Kandidaten abtreten.

Seither hat sich der Fidesz rasant weiter nach rechts entwickelt. Orban setzte auf totale Opposition und bemühte sich, die Regierung zu blockieren und das Parlament zu diskreditieren. Als Oppositionsführer nahm er praktisch nie an Parlamentssitzungen teil. Ihm werden Sympathien für den italienischen Regierungschef Silvio Berlusconi und den ungarischen Reichsverweser Miklós Horty nachgesagt, der von 1920 bis 1944 ein autoritäres Regime führte.

Auch andere hochrangige Vertreter von Fidesz befürworten offen autoritäre Staatsformen. Laut Istvan Mikola, ihrem zweiten Mann, geht es darum, "den uferlosen Freiheitsdrang des Individuums einzuschränken". Orban selbst formulierte es noch deutlicher. "Die Republik ist bloß ein Gewand, das sich die Nation überstreift", erklärte er. Er deutete damit an, dass er sich auch ganz andere Staatsformen, etwa eine Diktatur, gut vorstellen könne.

Der Fidesz ist auf Positionen eingeschwenkt, die noch vor wenigen Jahren nur von faschistischen Gruppierungen vertreten wurden, wie die Rückgabe Transsylvaniens an Ungarn. Mikola erklärte, eine künftige Fidesz-Regierung werde mindestens zwanzig Jahre an der Macht bleiben, wenn sie den im Ausland lebenden Ungarn die Staatsbürgerschaft zuerkenne. Diese würden sie dann aus Dankbarkeit immer wieder wählen. Entsprechend nationalistisch ist der Jargon von Fidesz-Vertretern, die politische Gegner abfällig als Zigeuner und Juden bezeichnen.

Das eine Figur wie Orban mit einem hohen Wahlsieg rechnen kann, liegt in der Verantwortung der Sozialistischen Partei (MSZP), der Nachfolgepartei der stalinistischen Staatspartei. Unter ihrem ersten Vorsitzenden Gyula Horn, der durch die symbolische Durchtrennung des "Eisernen Vorhangs" an der ungarisch-österreichischen Grenze bekannt wurde, war sie maßgeblich daran beteiligt, das öffentliche Eigentum im Lande in private Hände zu überführen.

Während der so genannten "wilden Privatisierungen" der neunziger Jahre wandelten sich die ehemaligen stalinistischen Kader dann zu Marktradikalen. Sie nutzten ihre alten Seilschaften, rissen sich die Betriebe unter den Nagel und verscherbelten sie an westliche Investoren. Dabei machte so mancher ein erhebliches Vermögen.

1994 wurde die rechte Regierung abgewählt, und die Sozialistische Partei regierte mit den liberalen Freien Demokraten (SZDSZ). In dieser Zeit verloren Zehntausende durch die Umstrukturierung der ungarischen Wirtschaft ihre Arbeit. Anschließend nahmen die Sozialisten drastische Einschnitte ins soziale Netz vor. Sie kappten die bis dato relativ guten Sicherungssysteme und schlugen einen harten Sparkurs ein.

2002 begann unter dem ehemaligen Geheimdienstmitarbeiter Peter Medgyessy eine Serie von Skandalen und parteiinternen Kriegen, die den Geschäftsmann Ferenc Gyurcsany, der zu den reichsten Männern Ungarns zählt, an die Spitze der Sozialistischen Partei und der Regierung spülten.

Vor dem Beitritt zur Europäischen Union sanierte Gyurcsany radikal den Haushalt. Die letzten verbliebenen öffentlichen Betriebe wurden privatisiert. Mit dem Eintritt in die EU explodierten die Preise für Lebensmittel und Energie, während die Löhne stagnierten. Nur weil der Fidesz noch immer derart diskreditiert war, konnte die MSZP die Wahlen 2006 erneut gewinnen.

Nach dem Rücktritt des verhassten Gyurcsany läutete sein Nachfolger Gordon Bajnai 2008 eine neue Runde von Angriffen auf die Bevölkerung ein. Unter den Auswirkungen der Wirtschaftskrise setzte die Regierung Lohnkürzungen, Steuererhöhungen und weitere Einschnitte bei den Sozialsystemen durch, um den Forderungen von IWF und Brüssel nachzukommen. Ein Staatsbankrott konnte Anfang des Jahres nur durch internationale Kredite verhindert werden.

Entsprechend prekär ist die Lage der Bevölkerung. Das Bildungssystem schneidet im OECD-Vergleich miserabel ab. Wer in ärmlichen Verhältnissen aufwächst, hat kaum Aufstiegsmöglichkeiten. Sieben Prozent der Bevölkerung leben dauerhaft in tiefer Armut, ein weitaus größerer Prozentsatz fällt regelmäßig unter die Armutsgrenze oder ist armutsgefährdet. Die Durchschnittsrente liegt bei 230 Euro im Monat.

Die Beschäftigungsrate liegt bei rund 55 Prozent. Ungarn bildet damit das europäische Schlusslicht. Die Lohnkosten liegen bei durchschnittlich sieben Euro pro Arbeitsstunde, im benachbarten Österreich sind sie viermal so hoch. Die Lebenserwartung der ungarischen Bevölkerung liegt acht Jahre unter dem westeuropäischen Durchschnitt. Nach offiziellen Schätzungen macht die nicht erfasste Wirtschaftsleistung einschließlich Schwarzarbeit 20 bis 30 Prozent des Bruttoinlandprodukts aus.

Betrachtet man die Situation der Roma-Minderheit, wird die soziale Katastrophe noch deutlicher. Ihre Lebenserwartung liegt zehn Jahre unterhalb der der Ungarn. In vielen Regionen sind 90 Prozent der Roma arbeitslos.

Das sind auch die wesentlichen Gründe für die Erfolge der ultra-rechten Jobbik, die in Umfragen mindestens gleichauf mit der sozialistischen MSZP liegt. Das Erstarken der Rechtsextremen muss im Zusammenhang mit der politischen Wende 1989 und der Rolle der Stalinisten gesehen werden.

Der Politologe Zoltan Kizsely erklärte dies gegenüber Deutschlandradio Kultur folgendermaßen: "Jobbik sagt ganz einfach: Zwanzig Jahre für die letzten zwanzig Jahre. Also wer in den letzten zwanzig Jahren verantwortlich war, egal, ob in der Opposition oder in der Regierung, der soll zwanzig Jahre Haft bekommen oder Zwangsarbeit. Weil die Leute sich denken, die haben sich reich geklaut und wir sind arm geblieben."

Jobbik kann davon profitieren, dass es im ungarischen Parteienspektrum niemanden gibt, der der unsozialen Politik von MSZP und Fidesz entgegen tritt. Daher können sie mit sozialer Demagogie und rassistischen Parolen punkten.

Jobbik ist auch der politische Arm der "Ungarischen Garde", einer paramilitärischen Organisation, die offen gegen Juden, Roma, Homosexuelle und andere Minderheiten hetzt. Sie ist für mindestens ein Dutzend Mordanschläge in den letzten Jahren verantwortlich. Im vergangenen Jahr wurden ein Roma-Familienvater und sein vierjähriger Sohn auf offener Straße von Anhängern der Garde erschossen. Die Polizei, die zu etwa 30 Prozent in der Jobbik-nahen Gewerkschaft organisiert ist, unternimmt dagegen nichts.

Jobbik und die Ungarische Garde wurden sehr gezielt vom rechts-konservativen Bürgerbund Fidesz unterstützt. Bei den zahlreichen Demonstrationen gegen die sozialistische Regierung mobilisierte Fidesz mit seinem starken Apparat die Teilnehmer und überließ den Neo-Faschisten das Rednerpult. Bei der Gründung der Ungarischen Garde waren hochrangige Funktionäre des Fidesz und Kirchenvertreter anwesend. Fidesz arbeitet bereits jetzt in über 160 Kommunen auf Gemeinderats- und Bürgermeisterebene ganz formell mit Jobbik zusammen. Nach den Wahlen könnte dies forciert werden.

Welchen politischen Weg die Orban-Regierung einschlagen wird, ist nicht schwer vorherzusehen. Trotz aller anti-europäischer Demagogie und sozialen Versprechen wird eine rechte Regierung in Budapest die Interessen des europäischen Finanzkapitals entschlossen gegen jeden Widerstand aus der Bevölkerung vertreten. Steuersenkungen für Unternehmen in den ersten vier Jahren gehören zu den wenigen Maßnahmen, die Orban öffentlich angekündigt hat.

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