Großbritannien: Brown kündigt Rücktritt an

Die Gespräche über die Zusammensetzung einer neuen Regierung in Großbritannien nahmen am Montagabend eine dramatische Wende. Labour Premierminister Gordon Brown kündigte seinen Rücktritt vom Vorsitz der Labour Party an.

Damit wollte er den Weg für formelle Gespräche mit den Liberaldemokraten über eine Koalitionsregierung frei machen. Diese Variante trieb die Konservativen geradezu in einen Bieterkrieg um die Gunst der Liberaldemokraten und führte zu hitzigen Äußerungen von allen Seiten.

Nach dem nicht eindeutigen Wahlergebnis vom 6. Mai hat es schon mehrere Gesprächsrunden über eine Regierungsbildung zwischen den Konservativen und den Liberaldemokraten gegeben. Die Konservativen eroberten 306 der umkämpften 649 Sitze, d.h. weniger als die Zahl von 326 Sitzen, die für eine absolute Mehrheit notwendig sind. Die Liberaldemokraten kamen mit 57 Sitzen auf den dritten Platz.

Labour hat 258 Sitze gewonnen. Das bedeutet, dass auch eine Koalition aus Labour und Liberaldemokraten noch keine absolute Mehrheit hätte und von der Unterstützung der schottischen Nationalisten der SNP, der walisischen Plaid Cymru und der nordirischen Social Democratic Labour Party angewiesen wäre. Damit hätte sie 328 Stimmen. Die könnte sie auf 338 steigern, wenn eine weitere nordirische Partei, die Democratic Unionist Party, und die einzige Grüne Abgeordnete für sie stimmten.

Tory-Führer David Cameron und der Chef der Liberaldemokraten Nick Clegg hatten ihre bisherigen Diskussionen als "viel versprechend" bezeichnet, und sie hegten schon die Hoffnung, dass bis Montagabend eine Vereinbarung unterzeichnet werden könnte.

Clegg hatte betont, dass die Tories als Wahlsieger als erste das Recht haben sollten, zu versuchen, eine Regierung zu bilden. Während an den Finanzmärkten Chaos herrschte und die Europäische Union ein wichtiges Treffen zum Rettungsplan für Griechenland abhielt, um dem Zerfall der Eurozone vorzubeugen, kamen alle offiziellen Parteien überein, dass eine "stabile" Regierung Priorität haben müsse. Damit wollen sie die Finanzmärkte von ihrer Entschlossenheit überzeugen, das britische Haushaltsdefizit in Angriff zu nehmen.

Aufgrund dieser Überlegungen schien sich Cameron gegen eine Tory-Minderheitsregierung entschieden und die Gespräche mit Clegg aufgenommen zu haben.

Als am Montagnachmittag Clegg mit seiner Fraktion gesprochen hatte, hieß es jedoch, dass die Liberaldemokraten von den Konservativen "eine weitere Klärung in zentralen politischen Fragen" erwarteten.

Der größte Stolperstein war die Einführung eines Verhältniswahlrechts, für das sich die Liberalen im Wahlkampf eingesetzt hatten. Cameron hatte die Einführung eines Verhältniswahlrechts ausgeschlossen und lediglich die Einsetzung einer Kommission versprochen, die sich mit einer Wahlrechtsreform befassen sollte.

Das machte es Clegg sehr schwierig, seiner Partei ein Abkommen schmackhaft zu machen, deren Basis traditionell sowieso der Labour Party näher steht.

Am Morgen hatte die ehemalige Führerin der Liberaldemokraten, Shirley Williams, Clegg vor einer formellen Koalition mit den Konservativen gewarnt. Williams sagte, eine Wahlrechtsreform sei nicht Bestandteil der konservativen "DNA", und es sei für die Liberaldemokraten vorzuziehen, lediglich in der Vertrauensabstimmung und bei der Verabschiedung des Haushalts mit den Konservativen zu stimmen.

Andere warnten, dass eine Koalition mit den Tories die Liberaldemokraten spalten und zum Verlust großer Teile der Basis in Schottland und in den städtischen Zentren in England und Wales führen könnte.

Am Montagnachmittag wurde dann bekannt gegeben, dass die Liberaldemokraten formell um Gespräche mit Labour gebeten hatten. Clegg erklärte, die Gespräche mit den Konservativen hätten bisher kein eindeutiges Bild ergeben, und deswegen sei es notwendig, andere Optionen zu erkunden.

Browns Rücktritt als Führer der Labour Party war dafür die Voraussetzung. Die Liberaldemokraten hatten argumentiert, es würde einen schlechten Eindruck machen, einen Premierminister zu stützen, der nicht gewählt wurde und der das schlechteste Ergebnis seit 1983 eingefahren hat.

In seiner Erklärung sagte Brown: "Keine Partei hat in der Wahl eine absolute Mehrheit erzielt. Deswegen ist es meine verfassungsmäßige Pflicht, als Premierminister sicherzustellen, dass die Regierung weiterläuft, während die Parteien Optionen für eine neue Regierung ausloten, die sich im Parlament auf eine Mehrheit stützen kann.

Er fuhr fort: "Sollte sich herausstellen, dass dem nationalen Interesse, das in einer stabilen und klaren Regierung besteht, am besten mit der Bildung einer Koalition der Labour Party mit den Liberaldemokraten gedient ist, dann müsste ich die Aufgabe, eine solche Regierung zu bilden, an jemand anderen abtreten."

Deswegen habe er entschieden, seinen Rücktritt anzukündigen und so einen Wettbewerb um die Führung der Labour Party "zu ermöglichen", der bis September hoffentlich entschieden sei.

Clegg begrüßte das mit den Worten, Brown habe "eine schwierige persönliche Entscheidung im nationalen Interesse" getroffen. Seine "Entscheidung ist ein wichtiges Element, das den glatten Übergang zu einer stabilen Regierung ermöglicht, die alle verdienen".

Dann stellte sich heraus, dass das Verhandlungsteam der Liberaldemokraten schon seit einigen Tagen ohne Wissen der Konservativen in Gesprächen mit führenden Labour-Politikern stand. Parallel dazu hatten Diskussionen mit führenden Architekten des New Labour Projekts wie Peter Mandelson, Lord Adonis und Tony Blairs Chefberater Alistair Campbell über Browns Rücktritt stattgefunden.

Trotzdem kritisierten mehrere führende Labour-Politiker Browns Ankündigung. Sie lehnten die Vorstellung einer Koalition aus Labour und Liberaldemokraten als "unhaltbar" ab. Sie erklärten, eine Fortsetzung der Regierungsarbeit auf dieser Grundlage käme einem Schirlingsbecher gleich.

Ex-Innenminister John Reid sagte, wenn Brown davon spreche, eine "progressive Koalition" zu bilden, dann sei das eine "ganz schön katastrophale" Idee. Die Konservativen seien "in viel besserer Form" aus der Wahl hervorgegangen als Labour, und die Partei mit den meisten Stimmen sollte die Möglichkeit haben, eine Regierung zu bilden, sagte er.

Im Fernsehen wurde der Kommentator Adam Boulton von Murdochs Sky News im Gespräch mit Alistair Campbell geradezu hysterisch, als er diesen fragte, warum sich Labour nicht "einfach still und leise vom Acker mache" und akzeptiere, dass sie die Wahl verloren habe.

Dabei hat sich Brown lediglich nach den verfassungsmäßigen Normen gerichtet, als er in Ermangelung einer neuen Regierung erst einmal die Regierungsgeschäfte fortführte. Herrschende Kreise fürchten insbesondere die Gefahr einer Verfassungskrise, die die Monarchie in einen politischen Streit hineinziehen könnte. Die Murdoch-Presse führt seit Tagen eine Kampagne gegen Brown und beschuldigt ihn, Downing Street "besetzt zu halten".

Die Ankündigung des Premierministers veranlasste die Tories zu der Erklärung, dass sie den Liberaldemokraten noch einen großen Schritt entgegenkommen würden. Sie boten ihrem Wunschkoalitionspartner ein Referendum über ein anderes Wahlsystem an. Das ist weniger, als was Labour angeboten hat. Labour hat einen sofortigen Gesetzentwurf für die Einführung eines anderen Wahlsystems angekündigt, gefolgt von einem Referendum über ein umfassendes Verhältniswahlrecht.

Für die Tories sagte William Hague, die Liberaldemokraten hätten die Wahl, mit Labour eine unstabile Regierung mit einem ungewählten Regierungschef zu bilden, der für die Wähler nicht akzeptabel wäre, oder "eine Koalition mit den Konservativen einzugehen.... Das wäre eine Regierung mit eine stabilen und sicheren parlamentarischen Mehrheit; einer Mehrheit von 76 Stimmen im Unterhaus, was in der gegenwärtigen Wirtschaftslage äußerst wünschenswert wäre."

Die Verhandlungen zogen sich bis spät in die Nacht. Quellen aus den Reihen der Liberaldemokraten sagten, heute gehe "es um die Wurst".

Siehe auch:
Wahlmanifest der Socialist Equality Party zu den britischen Parlamentswahlen 2010
(10. April 2010)
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