NRW-Wahl: Ein Besuch im Duisburger Stadtteil Bruckhausen

"Die Parteien sind doch alle gleich", schimpft Johannes Müller. Der Rentner lebt seit 50 Jahren im Duisburger Norden, im Stadtteil Bruckhausen. Hier befindet sich das Stahlwerk von ThyssenKrupp, das zweitgrößte der Welt. Wo einst über 40.000 Menschen arbeiteten, sind noch rund 12.000 übrig geblieben. Der Niedergang der Stahl- und Kohleindustrie hat auch Bruckhausen mitgerissen. Knapp 7.000 Menschen wohnen nur noch hier.

renoviertes Haus in Bruckhausen renoviertes Haus in Bruckhausen

Der Rentner fühlt sich dennoch wohl. Er lebt in einem Bereich des Ortsteils, in dem die Bausubstanz des alten Arbeiterviertels instand gehalten und renoviert wurde, nicht selten mit Mitteln des Europäischen Sozialfonds. Eine Ecke weiter sieht es schon anders aus. Die alten Arbeiterhäuser rund um das Stahlwerk sollen einem Grüngürtel weichen und harren ihres Abrisses. Der Grüngürtel ist eine Idee der Stadt und des Thyssen-Konzerns.

Hier entsteht der Grüngürtel Hier entsteht der Grüngürtel

Hier im Duisburger Norden ist der jahrzehntelange Niedergang des Ruhrgebiets mit Händen zu greifen. Die Landtagswahl am Sonntag in Nordrhein-Westfalen wird diesen Prozess nicht aufhalten. Alle Parteien - einschließlich der Linkspartei - sind sich einig, dass "die Haushalte konsolidiert werden müssen".

Johannes Müller Johannes Müller

"Mit [SPD-Bundeskanzler Gerhard] Schröder und Hartz IV ging doch das Theater los", meint Herr Müller. Die SPD habe den ganz Armen alles genommen, ergänzt sein Nachbar und sagt mit einem ironischen Lächeln: "Aber jetzt sind die ja auf einem anderen Kurs". Ehrlich? "Die versprechen wieder alles Mögliche und hinterher heißt es wieder: ‚Wir wussten ja nicht, wie leer die Kassen sind‘."

Dabei hätten die Arbeiter- und Arbeitslosenfamilien im Duisburger Norden Hilfe und Unterstützung nötig.

Duisburg, im Westen des Ruhrgebiets direkt am Rhein, ist mit 490.000 Einwohnern die fünftgrößte Stadt in NRW. Sie steht beispielhaft für die Entwicklung und den jetzigen Zustand des Ruhrgebiets. Nach dem Zweiten Weltkrieg trugen Kohle und Stahl zum Wiederaufstieg der Stadt bei. Ende der 1950er Jahre herrschte Vollbeschäftigung. Die Wirtschaftskraft Duisburgs lag um fast 50 Prozent über dem Landesdurchschnitt. Die Pro-Kopf-Steuereinnahmen zählten mit zu den höchsten unter den deutschen Städten.

Trotz des beginnenden Zechensterbens boomte die Stahlproduktion. Schon Anfang der 60er Jahre lebten eine halbe Million Menschen in Duisburg, Mitte der 70er Jahre dann fast 600.000. Arbeitskräfte aus Südeuropa wurden angeworben, zuerst aus Italien, Spanien und Griechenland, dann aus der Türkei. Sie zogen direkt ans Werk - auch nach Bruckhausen.

Seitdem sind Zigtausende Arbeitsplätze in der Stahlproduktion bei Thyssen, Krupp und Mannesmann abgebaut worden. Symbolisch dafür war die endgültige Schließung des Stahlwerks in Duisburg-Rheinhausen 1993. Nach einem langen Arbeitskampf, der von der Gewerkschaft ausverkauft wurde, schloss das Werk. Das letzte Bergwerk im Stadtteil Walsum machte 2008 zu.

Deindustrialisierung, hohe Arbeitslosigkeit und Armut prägen das Bild. Die Arbeitslosigkeit beträgt in Duisburg offiziell 13,4 Prozent, die höchste Quote landesweit. Knapp 80 Prozent der fast 33.000 Arbeitslosen befinden sich im Hartz-IV-Bezug. Die tatsächliche Arbeitslosigkeit liegt bei weitem höher. Tausende sind in den Arbeitsmarktprogrammen der Arbeitsagentur und der ARGE versteckt oder erhalten schlicht keine Leistung, weil sie sich "mangelnder Mitwirkung bei der Arbeitssuche" schuldig gemacht haben.

Allein rund 7.000 junge Frauen und Männer unter 25 nehmen an Maßnahmen der Berufsvorbereitung oder -ausbildung teil oder befinden sich an den Duisburger Berufskollegs in diversen Auffangklassen: Berufsorientierungsjahr, Berufsgrundschuljahr, Klassen für Schüler ohne Berufsausbildungsvertrag.

Rund 72.000 Menschen sind von Hartz-IV-Leistungen abhängig, jeder siebte Einwohner Duisburgs. Etwa 40.000 Haushalte sind überschuldet, 8.300 Haushalten wurde wegen Zahlungsunfähigkeit der Strom abgeschaltet.

"Die Unternehmen machen was sie wollen", sagt der Bruckhausener Rentner. Nur Gewinne und Dividenden zählten. "Die Bilanz muss stimmen. Soziales Denken gibt’s nicht mehr."

Dies sieht man auch in Bruckhausen. Hier lebt die größte türkische Gemeinde nach Berlin-Kreuzberg. Die Duisburger mit Migrationshintergrund haben es noch schwerer als der Rest. So lebt in Bruckhausen fast jeder dritte Erwachsene mit Migrationsgeschichte (in Walsum-Overbruch sogar jeder zweite) von Hartz IV. Bei den Jugendlichen und jungen Erwachsenen unter 25 sieht es noch schlechter aus. In Bruckhausen gehen nur 18 Prozent von ihnen einer sozialversicherungspflichtigen Arbeit nach.

Emin, Mikail und Ahmed Emin, Mikail und Ahmed

[Bild4] Emin, Mikail und Ahmed

Auch Emin und seine Freunde Mikail und Ahmed sind arbeitslos. Alle drei sind Anfang dreißig und in Duisburg geboren. Mikail war mit seiner Frau für mehrere Jahre in Kassel, hat dort zwei Jahre bei VW und Mercedes als Montagearbeiter gearbeitet. Nach seiner Scheidung 2005 ist er dann wieder zurück nach Duisburg gekommen zu seiner Familie. Er ist derzeit in einer Maßnahme der ARGE und macht ein Praktikum als Sicherheitsbeauftragter. "Danach habe ich einen Job", ist er sich sicher. Auch Ahmed ist sicher, bald wieder Arbeit zu finden. "Ich bin Baumaschinist. Da finde ich schon etwas."

Sie sorgen sich vielmehr um ihren Freund Emin. "Ich habe in meinem ganzen Leben noch kein Monatsgehalt bekommen", sagt er. Über ein paar Wochen Leiharbeit sei er niemals hinausgekommen. "Natürlich habe ich auch eine Mitschuld, aber die gesamte Situation, in der ich mich seit meinem 16. Lebensjahr befand, hat maßgeblich dazu beigetragen". Sein Vater war vor 47 Jahren nach Duisburg gekommen. "Er hat 41 Jahre bei Thyssen gearbeitet und ist nun Rentner." Emin wuchs mit sieben Geschwistern in Bruckhausen auf. Seine drei Schwestern sind heute Hausfrauen, von seinen vier Brüdern arbeitet nur einer.

Die Schule verließ Emin in Klasse 6. Das Ausländeramt sagte ihm damals, er müsse arbeiten, sonst könne er keine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung erhalten. "Ich hätte zu viele Fehlzeiten in der Schule gehabt. Aber wie sollte ich eine Ausbildung machen mit,Abgang 6‘?" Seitdem erhält er befristete Aufenthaltsgenehmigungen und muss sich alle drei oder sechs Monate um eine Verlängerung bemühen. "Kein Arbeitgeber stellt mich ein. Die sehen, dass ich hier geboren bin und trotzdem keine unbefristete Aufenthaltserlaubnis habe."

Ein Teufelskreislauf: Keine unbefristete Aufenthaltserlaubnis kein richtiger Job, kein richtiger Job, keine unbefristete Aufenthaltserlaubnis. Ein Teufelskreislauf, der Emin in die Kleinkriminalität abrutschen ließ. Eine Haftstrafe folgte. "Jetzt geht erst recht nichts", ist Emin verzweifelt. "Ich weiß nicht weiter. Ich habe inzwischen eine Frau und Zwillinge von drei Jahren, die leben in der Türkei. Ich darf sie nicht hierher holen. Dazu müsste ich 1.300 Euro netto verdienen und eine 67 m² große Wohnung haben."

Emin hält kurz inne. "Wenn ich nicht meinen Vater hätte, der mich und meine Familie unterstützt, wüsste ich nicht, was ich machen sollte." Viele Ausländer würden zurück in ihre Heimatländer gehen. "Aber ich bin in Deutschland Türke und in der Türkei Deutscher."

Ahmed ist sich sicher, dass die Kürzungen und die Perspektivlosigkeit Jugendliche in die Kriminalität drängt. "Zu meiner Jugendzeit gab es noch Jugendzentren. Jetzt gibt es nichts mehr - außer einem Büro des Streetworkers. Alles wird gekürzt."

Im Jahr 1992 hatte die Stadt zuletzt einen ausgeglichenen Haushalt, seit 2001 wird mit Nothaushalten gewirtschaftet. Anfang 2009 brachen im Zuge der Wirtschaftskrise die Gewerbesteuereinnahmen um 56 Prozent auf 110 Millionen Euro ein. Inzwischen entscheidet die Bezirksregierung über die Finanzen der Stadt. Die Schulden der Stadt betragen 2,5 Milliarden Euro.

Die SPD hat die Montan-Industrie im Niedergang begleitet, im wahrsten Sinne des Wortes. Über fünfzig Jahre regierte sie die Stadt in feudaler Manier und setzte in den letzten 20 Jahren alle Kürzungen durch. 2005 wurde sie deshalb abgewählt. Duisburg wurde von einer schwarz-grünen Koalition und einem christdemokratischen Oberbürgermeister gelenkt. An der Kürzungspolitik änderte sich dadurch nichts. Daher wurde Oberbürgermeister Adolf Sauerland (CDU) in der Kommunalwahl von 2009 zwar im Amt bestätigt, aber alle größeren Parteien verloren an Stimmen. Eine feste Koalition gibt es seither nicht mehr.

So beschloss der Stadtrat im März den Haushalt 2010 mit den Stimmen von SPD, Grünen und Linken. CDU und FDP hatten vorher eine rigorose Streichliste zusammengestellt: Stellenabbau im öffentlichen Dienst, Kürzungen in Kultur und Bildung, Schließung von zwölf Schulen. Überregional bekannt wurde der Vorschlag, die Wassertemperaturen in den städtischen Schwimmbädern zu senken, um jährlich 105.000 Euro zu sparen. SPD, Grüne und Linke entwarfen und beschlossen darauf einen eigenen Streichkatalog, der sich nur in Nuancen vom Entwurf der CDU und FDP unterscheidet. In Duisburg ist die Bevölkerung wie auch im derzeitigen NRW-Wahlkampf mit einer All-Parteien-Koalition der Kürzungen konfrontiert.

Emin, Mikail und Ahmed sind daher nicht sonderlich erregt, dass sie an der Landtagswahl nicht teilnehmen können, weil alle drei - obwohl in Duisburg geboren - einen türkischen Pass besitzen. "Was sollten wir wählen?" Die meisten Wahlberechtigten in Bruckhausen und anderen nördlichen Stadtteilen Duisburgs sehen das nicht anders. Seit Jahren liegt die Wahlbeteiligung hier nur noch bei rund 30 bis 40 Prozent.

Die Parkbänke des Grüngürtels mit Blick aufs Stahlwerk werden dies nicht ändern.

Siehe auch:
NRW-Landtagswahlkampf: Eine Allparteien-Koalition gegen die Bevölkerung
(29. April 2010)
Sozialer Kahlschlag in den Kommunen
( 12. März 2010)
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