Mai-Versammlung in Berlin

"Die Arbeiterklasse ist für die Krise nicht verantwortlich"

"Arbeiter in Berlin, Paris, London und allen anderen Städten Europas müssen den Arbeitern in Athen und Thessaloniki zu Hilfe eilen, um den größten Angriff auf Löhne und Sozialstandards seit den dreißiger Jahren zurückzuschlagen", erklärte Ulrich Rippert, der Vorsitzende der Partei für Soziale Gleichheit, auf einer Versammlung der PSG und ISSE zum Ersten Mai in Berlin.

ISSE-Versammlung

Rippert betonte, das drastische Sparprogramm der europäischen Banken und Regierungen richte sich nicht nur gegen die griechischen Arbeiter, sondern bilde den Auftakt zu einem Generalangriff auf alle Arbeiter in Europa und weltweit. Der Kampf dagegen erfordere eine internationale sozialistische Strategie.

Die Veranstaltung im Zentrum Berlins, unweit vom Bahnhof Friedrichstrasse, war gut besucht. Auch aus Leipzig, Dresden, Mannheim und einigen anderen Städten waren Arbeiter, Studenten und Schüler angereist.

Der Sprecher der ISSE (International Students for Social Equality) Marius Heuser berichtete zu Beginn über interessante Diskussionen während einer Veranstaltungsreihe, die die ISSE in mehreren Städten - Bielefeld, Frankfurt, Essen, Dresden, Mannheim, Leipzig und München - organisiert hatte. Wiederholt war die Frage aufgekommen, wie ein gemeinsamer europäischer Widerstand gegen die Sozialkürzungen aufgebaut werden könne, und welche Bedeutung dabei die Forderung nach den Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa spiele.

Heuser, der auch Mitglied des Parteivorstands der PSG ist, ging detailliert auf die Situation in Griechenland ein und machte zunächst deutlich, dass die tiefe Krise des Kapitalismus der Grund für die heftigen Angriffe auf den Lebensstandard der griechischen Bevölkerung sei. Er betonte, dass die kapitalistische Krise mit den Ereignissen in Griechenland ein neues Stadium erreicht habe. Nun werde genau das Geld wieder bei der Arbeiterklasse eingespart, das zuvor in Billionenhöhe an die Banken verschleudert worden sei. Griechenland sei dabei nur der Anfang. Auch in Spanien, Portugal, Italien, Großbritannien und Deutschland würden heftige soziale Angriffe vorbereitet.

Heuser wies scharf die Hetze der bürgerlichen Medien zurück, die behaupten, dass der Bankrott Griechenlands "hausgemacht" sei, und "die Griechen" über ihre Verhältnisse gelebt hätten. Er fragte: "Wer hat hier über seine Verhältnisse gelebt? Der europäische Finanzadel, der erst die Staatskassen geplündert und sich dann durch die höchsten Boni-Ausschüttungen inmitten der Krise eine goldene Nase verdient hat, - oder der griechische Arbeiter im öffentlichen Dienst, der im Durchschnitt knapp über eintausend Euro im Monat verdient, und das bei höheren Preisen als hier in Deutschland?"

Der Grund für die Propaganda der bürgerlichen Medien sei offensichtlich: Erstens solle von den wahren Ursachen der Krise abgelenkt, und zweitens der Widerstand der Arbeiterklasse gegen die Sparpläne gespalten und in nationalistische Bahnen gelenkt werden.

Heuser schilderte, wie Arbeiter in Griechenland nach Mitteln und Wegen suchen, um gegen das Sparpaket zu kämpfen, das von der EU diktiert und von der sozialdemokratischen PASOK-Regierung durchgesetzt werde. "Die griechischen Arbeiter haben mehrere eintägige Generalstreiks organisiert, an denen sich über 2.5 Millionen Menschen beteiligten, und die das öffentliche Leben in Athen weitgehend lahmlegten."

Das Problem seien jedoch die Gewerkschaften, die alles daran setzten, die Kämpfe der Arbeiter zu sabotieren und zu isolieren. Sie seien nicht daran interessiert, die Arbeiter ernsthaft zu verteidigen. ADEDY, die Gewerkschaft für den öffentlichen Dienst, habe nach den Protesten im Februar vollständig auf Streiks verzichtet und stattdessen eine nationalistische Kampagne gegen den Konsum ausländischer Produkte eröffnet.

Ulrich Rippert Ulrich Rippert

Ulrich Rippert knüpfte direkt an die Ausführungen von Marius Heuser an und betonte, es gebe nur eine Möglichkeit, die Offensive der Finanzaristokratie zu stoppen: "Die Arbeiterklasse muss selbstständig in die gesellschaftliche Entwicklung eingreifen. Arbeiter und Jugendliche müssen sich unabhängig von den Gewerkschaften organisieren und Aktionskomitees aufbauen, die an die Tradition der Arbeiterräte anknüpfen."

Auch Rippert sprach darüber, dass die Gewerkschaften in Griechenland und allen anderen Ländern immer offener als Gegner der Arbeiter auftreten: "In der Situation einer verschärften Krise des Kapitalismus verbünden sich die Gewerkschaften mit den jeweiligen Regierungen gegen die Arbeiter. Sie akzeptieren den immer engeren Rahmen des Kapitalismus, wie sie auch das Privateigentum an den Produktionsmitteln und den Nationalstaat akzeptieren. Damit werden sie zu Handlangern der Banken und Regierungen."

Er betonte, der Bruch mit den Gewerkschaften erfordere auch eine politische Abrechnung mit den kleinbürgerlichen Verteidigern der Bürokratie. "Politische Gruppierungen wie SYRIZA und Antarsya sind selbst Bestandteil der Gewerkschaftsbürokratie. Sie arbeiten eng mit der Regierung zusammen und betrachten jede unabhängige Mobilisierung von Arbeitern mit Feindschaft. Der SYRIZA-Vorsitzende, Alexis Tsipras, hat noch am Wahlabend Papandreou zum Wahlsieg gratuliert. Nun behauptet er, die Gewerkschaften seien die authentische Stimme der Arbeiter".

Zur Illustration der Gefahr, mit der die Arbeiterklasse auf Grund der nationalistischen Politik der Gewerkschaften und der kleinbürgerlichen Linken gegenwärtig konfrontiert ist, verwies Rippert im weiteren Verlauf seiner Rede auf die Geschichte. Er erläuterte die Erfahrungen mit der tiefen Krise des Kapitalismus in den zwanziger und dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts. Damals sei das kapitalistische Profitsystem ebenfalls zusammengebrochen, und die Last der Wirtschaftskrise sei komplett auf die Bevölkerung abgewälzt worden. Die herrschende Elite habe in dieser Situation nicht gezögert, die Demokratie abzuschaffen und in mehreren Ländern Diktaturen zu errichten, um den Widerstand der Arbeiter zu brechen und den Kapitalismus zu retten.

Mit der systematischen Zerschlagung des Sozialstaats und der Krise der europäischen Währungsunion kehrten nun die Gespenster der Vergangenheit zurück. "Gegenwärtig gewinnen erneut extrem rechte, nationalistische und offen faschistische Parteien an Einfluss, wie man das in Ungarn beobachten kann. Die Tatsache, dass in Budapest vor wenigen Tagen bei den Parlamentswahlen die rechtsextreme Fidesz die absolute Mehrheit gewonnen hat, muss sehr ernst genommen werden. Dabei sollte man nicht vergessen, dass diese Rechten von einflussreichen Institutionen wie der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung gefördert werden."

In dieser Situation gebe es laut Rippert nur zwei Möglichkeiten: "Entweder nutzt die Bourgeoisie die Krise und organisiert den sozialen Kahlschlag, baut demokratische Rechte ab und stärkt den Militarismus nach innen und außen, oder die Arbeiterklasse schließt sich über alle Grenzen hinweg zusammen, kämpft für ein internationales sozialistisches Programm und errichtet die vereinigten sozialistischen Staaten von Europa."

Am Ende seines Redebeitrags betonte Rippert, dass die dringendste Aufgabe darin bestehe, die Partei für Soziale Gleichheit als deutsche Sektion der Vierten Internationale aufzubauen. "Nur unsere Partei, die Vierte Internationale, die aus dem prinzipiellen Kampf von Leo Trotzki und der Linken Opposition gegen den Stalinismus hervorgegangen ist, stützt sich auf die großen Traditionen der sozialistischen Bewegung und kann der Arbeiterklasse in den kommenden, sehr heftigen Klassenkämpfen eine klare politische Orientierung geben."

Die Redebeiträge stießen auf große Zustimmung und lösten eine intensive Diskussion aus. Ein Diskussionsteilnehmer fragte, inwiefern nicht auch ein bedingungsloses Grundeinkommen zu einer verbesserten Lage der Arbeiter beitragen könne. Andere Teilnehmer verwiesen darauf, dass in beiden Reden über den historischen Charakter der Krise des Kapitalismus gesprochen worden sei und dass in dieser Situation kein Spielraum für Reformen bestehe. Jede ernsthafte gesellschaftliche Verbesserung werfe sofort die Frage der sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft auf.

"Die Zeiten der 1960er und 1970er Jahre, als es für einen kurzen historischen Moment möglich war, z. B. über gewerkschaftlichen Kampf Lohnerhöhungen zu erzielen und den Herrschenden soziale Zugeständnisse abzutrotzen, sind heute, in den Zeiten der Globalisierung, ein für alle Mal vorbei. Heute erfordert der Kampf für die Verteidigung der Löhne und elementaren Lebensinteressen nichts weniger als ein internationales sozialistisches Programm und deshalb eine neue Partei."

Eine Zuhörerin äußerte zunächst ihre Zustimmung, fragte dann aber, ob auf Grund der zugespitzten Lage überhaupt genug Zeit bliebe, die PSG als neue Arbeiterpartei aufzubauen und die Massen für ein sozialistisches Programm zu gewinnen. Ihrer Ansicht nach müsse angesichts der schnellen Entwicklung der Krise und der drängenden Zeit überlegt werden, ein breiteres Bündnis mit anderen linken Kräften zu schmieden.

"Von welchen linken Kräften sprechen Sie?, fragte Rippert und erläuterte, dass man gerade in Berlin die rechte, kapitalistische Politik der Linkspartei tagtäglich verfolgen könne. Die Erfahrungen der vergangenen Jahre hätten gezeigt, welche Rolle angeblich linke breite Bündnisse spielen, die dann wie z.B. Rifondazione Comunista, in Italien in bürgerliche Regierungen eintreten, rechte Politik gegen die Arbeiter durchsetzen, so für Demoralisierung sorgen und im Ergebnis extrem rechten Kräften Auftrieb verschaffen.

Auf den Veranstaltungen in anderen Städten gab es ebenfalls interessante Diskussionen über die Notwendigkeit einer marxistischen Partei in der Vorbereitung auf eine sozialistische Revolution.

Eine Studentin aus Leipzig fragte, ob es nicht möglich sei, durch dezentrale Organisationsformen und ohne die feste Einheit einer Partei zum Sozialismus zu gelangen. Sie verwies dabei auf die Ereignisse der Spanischen Revolution in den 1930er Jahren. Vertreter der ISSE erläuterten daraufhin, dass gerade die Ereignisse in Spanien gezeigt hätten, wie wichtig eine revolutionäre Partei für eine erfolgreiche sozialistische Revolution sei. Die Anarchisten hätten damals im entscheidenden Moment kapituliert und spanische Arbeiter und Bauern verraten, indem sie die bürgerliche Volksfrontregierung unterstützten, was schließlich zum Sieg des faschistischen Diktators Franco führte.

Nach der Abschlussveranstaltung in Berlin werteten Mitglieder der ISSE aus unterschiedlichen Städten die Kampagne aus, in der viele neue Kontakte gewonnen werden konnten. Johannes Stern von den ISSE in Leipzig bilanzierte: "Die objektive Entwicklung der kapitalistischen Krise lässt immer mehr Studierende erkennen, dass sie Teil der Arbeiterklasse sind und nur durch eine internationale sozialistische Perspektive etwas erreichen können. Es ist keine Überraschung, dass unsere Kampagne einen so großen Widerhall unter Studierenden, Arbeitern und Auszubildenden erzielt hat".

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