Köhlers Rücktritt verschärft Regierungskrise

Der überraschende Rücktritt von Bundespräsident Horst Köhler am Montagnachmittag hat die Krise der Bundesregierung weiter verschärft. Es ist der zweite Rücktritt eines Spitzenpolitikers in nur einer Woche. Fünf Tage vorher hatte sich der hessische Ministerpräsident Roland Koch (CDU) von seinen politischen Ämtern verabschiedet und Kanzlerin Angela Merkel (CDU) die Gefolgschaft gekündigt.

Köhlers Rücktritt hat jedoch sehr viel weitergehende Dimensionen. Die Aufgaben des Bundespräsidenten sind zwar hauptsächlich repräsentativer Art, doch als Staatsoberhaupt verkörpert er gewissermaßen die Autorität des Staats und des gesamten politischen Systems. Seine Aufgabe wird oft darin gesehen, in Zeiten gesellschaftlicher und politischer Krisen das Vertrauen in Staat und Politik aufrecht zu erhalten.

Die Art und Weise wie Köhler zurücktrat - ohne Vorwarnung, ohne Vorbereitung und mit sofortiger Wirkung - löste daher einen politischen Schock aus. Köhler hatte selbst die Bundeskanzlerin, den Außenminister und seinen protokollarischen Nachfolger, Bundesratspräsident Jens Böhrnsen (SPD), erst zwei Stunden vor seinem Rücktritt informiert.

Seinen Schritt begründete er dann auf einer kurzfristig einberufenen Pressekonferenz in nur drei Absätzen und verließ unmittelbar danach seinen Amtssitz. Als Grund nannte er die heftige öffentliche Kritik, auf die ein Interview zum Bundeswehreinsatz in Afghanistan gestoßen war.

Auf dem Rückflug von einem Truppenbesuch in Afghanistan hatte der Präsident einen Zusammenhang zwischen internationalen Militäreinsätzen und deutschen Wirtschaftsinteressen hergestellt. Wörtlich hatte er gesagt, "dass ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren."

Dieses offene Bekenntnis zur Verteidigung wirtschaftlicher Interessen mit militärischen Mitteln, die zwar längst gängige Praxis ist, aber aus Rücksicht auf die öffentliche Meinung bisher noch von keinem führenden Politiker derart offen ausgesprochen wurde, stieß in den Medien auf heftige Kritik. Köhler wurde als "Schwadroneur" bezeichnet, der seinem Amt nicht gewachsen sei und unbeherrscht daherrede.

In seiner Rücktrittserklärung gab Köhler zwar zu, dass seine Äußerungen "zu Missverständnissen führen konnten", betrachtete die Kritik daran aber gleichzeitig als Majestätsbeleidigung. "Diese Kritik entbehrt jede Rechtfertigung. Sie lässt den notwendigen Respekt für mein Amt vermissen", rechtfertigte er seinen Abgang.

Über dem ganzen Auftritt lag eine Atmosphäre der Panik, wie man sie nur aus Perioden tiefer gesellschaftlichen Krisen kennt. Die anwesenden Journalisten waren so verblüfft, dass nicht einer von ihnen eine Frage über die Lippen brachte, bevor Köhler an der Hand seiner Gattin davon rauschte.

Entsprechend empört waren die anschließenden Reaktionen. "Es hat wohl noch nie jemand dem Amt des Bundespräsidenten so großen Schaden zugefügt, wie es Horst Köhler an diesem Montag getan hat", kommentierte Kurt Kister, der stellvertretende Chefredakteur der Süddeutschen Zeitung unter der Überschrift "Köhlers Flucht". "Er hat das höchste Amt im Staate hingeworfen, weil er beleidigt ist."

Ähnlich äußerten sich andere Zeitungen. Seither reißen die Spekulationen darüber nicht ab, was Köhler zu seinem abrupten Rücktritt bewogen habe. Von Dünnhäutigkeit ist die Rede, von einem schwierigen Charakter und von einem Mann, der zwar Präsident sein wollte, aber nie wirklich Politiker war.

Solche persönlichen Eigenschaften mögen eine Rolle spielen, sie können aber letztlich nicht erklären, weshalb Köhler nach fünf Jahren im Amt so plötzlich die Reißleine zog. Um eine solche Reaktion auszulösen sind äußere Umstände erforderlich - ein Klima der Ungewissheit, der Spannung und der Nervosität.

Köhlers Rückzug verkörpert die Krise der Regierung von Angela Merkel (CDU) und Guido Westerwelle (FDP), als deren Erfindung er gilt. Der bis dahin in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannte Finanzfachmann, der auf eine Karriere im Finanzministerium, als Sparkassenpräsident und als IWF-Chef zurückblickte, wurde 2004 von den damaligen Oppositionsführern in Westerwelles Privatwohnung als Kandidat für das Präsidentenamt ausgewählt, um den Weg für die Ablösung der rot-grünen Bundesregierung durch eine schwarz-gelbe Koalition zu bahnen.

Köhler wurde anschließend gewählt, doch die schwarz-gelbe Koalition ließ auf sich warten. Bei der Bundestagswahl 2005 verfehlte sie die Mehrheit, und Merkel bildete eine Große Koalition mit der SPD. Als es dann 2009 doch noch klappte, war die schwarz-gelbe Regierung mit einer Fülle wirtschaftlicher sowie innen- und außenpolitischer Probleme konfrontiert, auf die sie weder vorbereitet war, noch eine Antwort hatte.

Die tiefste internationale Wirtschaftskrise seit den 1930er Jahren hat alle Gewissheiten der bundesdeutschen Politik zerbersten lassen: Die Orientierung auf Europa, die Anbindung an die USA, die Sozialpartnerschaft, die Politik der harten Währung. Selbst die Europäische Union und die gemeinsame Währung, Kern der außenpolitischen Strategie der vergangenen zwanzig Jahre, stehen auf der Kippe.

Bundeskanzlerin Merkel reagierte mit einem Zickzackkurs und setzte sich wiederholt dem Vorwurf der Unentschlossenheit und Untätigkeit aus. So widersetzte sie sich lange jeder Hilfe für das hochverschuldete Griechenland und setzte damit den Bestand des Euro aufs Spiel, nur um dann in einer plötzlichen Kehrtwende einem Rettungspaket in der beispiellosen Höhe von 750 Milliarden Euro zuzustimmen. Sie hatte noch in der Großen Koalition eine Schuldenbremse in der Verfassung verankert, aber zögerte bisher, die damit verbundenen harten Sparmaßnahmen zu beschließen. Im Gegensatz zu ihrem Vorgänger Gerhard Schröder hatte sie auf eine enge Zusammenarbeit mit den USA gesetzt, um dann festzustellen, dass sich die wirtschaftlichen Konflikte mit der transatlantischen Großmacht zunehmend verschärfen.

Horst Köhler stand Merkel als wirtschaftpolitischer Berater zur Seite und war genauso ratlos wie sie. Einmal rief er zu harten Sparmaßnahmen auf, ein anderes Mal schimpfte er populistisch über das "Monster" der Finanzmärkte. Dazwischen lagen lange Perioden des Schweigens. Führende Mitarbeiter liefen ihm davon, und es häuften sich Berichte über chaotische Zustände im Präsidentenamt.

Inzwischen sank der Stern der schwarz-gelben Koalition in kometenhaftem Tempo. Mittlerweile hat sie ihre Mehrheit im Bundesrat verloren und liegt in Umfragen gerade noch bei 40 Prozent. Die Konflikte innerhalb der Regierungsparteien verschärfen sich. In diesem Klima der allgemeinen Krise hat Köhler seinen Rücktritt erklärt und damit der Bundeskanzlerin einen weiteren Schlag versetzt.

Laut Informationen von Spiegel Online war Merkel über Köhlers Entscheidung und die Hartnäckigkeit, mit der er daran festhielt, schockiert. In einem Telefonat habe sie mit "ungewöhnlich dramatischen Worten" versucht, die Entscheidung des Präsidenten rückgängig zu machen. Sie habe ihn gewarnt, dass ein solcher Schritt ohne Vorbereitung und Planung eine Staatskrise auslösen könne. Das Vertrauen der Bürger in das höchste Staatsamt und in die Politik insgesamt könne Schaden nehmen, habe sie betont. Auch mache Köhler sich selbst angreifbar, wenn sein Schritt nicht nachvollziehbar sei. Sie habe Köhler "mehrfach und inständig" aufgefordert, seine Entscheidung zu überdenken. Er aber sei bei seinem Rücktrittsentschluss geblieben.

Wie sich die politische Krise weiter entwickeln wird, lässt sich schwer absehen. Es ist nicht auszuschließen, dass die schwarz-gelbe Koalition oder sogar Bundeskanzlerin Merkel selbst dabei auf der Strecke bleiben. Es gibt starke Stimmen in führenden Wirtschaftskreisen, die auf eine Rückkehr der SPD oder der Grünen in die Regierungsverantwortung drängen, um Kürzungen und Sozialabbau mit harter Hand durchzusetzen.

Auf alle Fälle sind derartige Krisen gefährlich, solange die Masse der arbeitenden Bevölkerung keine eigene politische Stimme hat. Die ganzen letzten Jahre der Weimarer Republik waren vom Niedergang und Zerfall der bürgerlichen Parteien geprägt, bis die herrschenden Kreise in Wirtschaft, Reichswehr und Politik schließlich beschlossen, Hitler ins Kanzleramt zu holen. Ermöglicht wurde ihnen das durch das Versagen von SPD und KPD, die die Arbeiterklasse spalteten und lähmten, anstatt sie gegen die Nazis zu mobilisieren.

Auch heute sind die SPD, die Grünen und auch die Linkspartei entschlossen, die bestehende kapitalistische Ordnung mit allen Mitteln zu verteidigen. Sie sind bereit, Regierungsverantwortung zu übernehmen, die Haushalte zu sanieren und die damit verbundenen Kürzungen gegen Arbeiter, Arbeitslose und Rentner durchzusetzen.

Solange die arbeitende Bevölkerung nicht selbständig interveniert, wird die "Lösung" der Krise zwangsläufig zunehmend reaktionäre und autoritärere Formen annehmen. Die Debatte über die Einführung von "Bürgerarbeit" - einer Form der Zwangsarbeit für Hartz-IV-Empfänger - zeigt dies ebenso wie die Vorschläge für massive Einsparungen bei den Sozialabgaben. Auch die Diskussion über Militäreinsätze im nationalen Interesse, die Horst Köhler angestoßen hat, wird nach seinem Rücktritt weitergehen.

Der Rücktritt Köhlers, des Wegbereiters der schwarz-gelben Koalition, ist Ausdruck einer tiefen Krise in den herrschenden politischen Kreisen. Aber er ist kein Grund zur Selbstzufriedenheit. Er muss Ansporn sein, eine neue Partei aufzubauen, die einen Ausweg aus der Krise im Interesse der arbeitenden Bevölkerung weist. Das ist nur auf der Grundlage eines politischen Programms möglich, das die kapitalistische Gesellschaft durch eine sozialistische ersetzt, in der nicht die Profite der Banken und Unternehmen, sondern die gesellschaftlichen Bedürfnisse Leitfaden der wirtschaftlichen Tätigkeit sind.

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