Amerikanisch-türkische Spannungen und der Überfall Israels auf die Gaza-Flotte

Israels Angriff vom 31. Mai auf die Mavi Marmara hat weltweit für Zorn und Empörung gesorgt. Die Mavi Marmara kam aus der Türkei und wollte humanitäre Hilfsgüter nach Gaza bringen.

Die Regierung in Ankara erlaubte der humanitären Flotte, von türkischen Häfen aus nach Gaza aufzubrechen, nachdem ihre Ladung überprüft worden war. Damit stellte die Türkei die Nachhaltigkeit ihres Jahrzehnte langen Bündnisses mit den USA und Israel in Frage. Nach dem israelischen Angriff zeigte die Konfrontation zwischen der Türkei und Israel, wie explosiv die Beziehungen zu Israel und den USA mittlerweile sind.

Am Mittwoch traten diese Spannungen deutlich zutage, als die Türkei gemeinsam mit Brasilien im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen gegen die von den USA favorisierten Sanktionen gegen den Iran stimmte. Brasilien und die Türkei hatten im vergangenen Monat eine Vereinbarung über den Austausch von Nuklearbrennstoff mit dem Iran ausgearbeitet. Die US-Botschafterin bei den UN, Susan Rice, beschuldigte Brasilien und die Türkei, "außerhalb des übrigen Sicherheitsrats und außerhalb der internationalen Gemeinschaft" zu stehen.

Massenproteste in der Türkei, dem Nahen Osten, Europa und von israelischen Arabern sind ein deutlicher Beweis dafür, dass die Kriege und kollektiven Bestrafungsaktionen, die den "Krieg gegen den Terror" im Nahen Osten und Zentralasien geprägt haben, auf breite Ablehnung stoßen. Diese Kriege, die auch in den USA selbst unpopulär sind, drohen pro-amerikanische Regierungen in der ganzen Region zu diskreditieren. In Europa war die Beteiligung an der Nato-Besetzung Afghanistans die Ursache dafür, dass die Regierung in Holland im Februar zusammenbrach und in Deutschland Bundespräsident Horst Köhler letzten Monat zurücktrat.

Ankaras Auftreten als wirtschaftliche Großmacht in den letzten zehn Jahren hat zu verschärften Konflikten mit den USA und Israel geführt. Die Regierung in Ankara fürchtet, dass es weitreichende innenpolitische Konsequenzen hat, wenn sie amerikanische und israelische Kriege unterstützt. Außerdem empfindet sie sie auch als hinderlich für die Entwicklung wirtschaftlicher und strategischer Beziehungen im Nahen Osten.

2003 verbot die islamistische Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan den amerikanischen Truppen, von der Türkei aus in den Norden des Irak einzufallen. Sie fürchtete, dass eine amerikanische Besetzung der Region kurdische Kräfte im Nordirak und kurdisch-nationalistische Stimmungen in der unruhigen Osttürkei stärken würde. Später war sie von der Unterstützung Israels für irakische Kurden enttäuscht. Die Regierung in Jerusalem unterstützte die Kurden damals, um die Herausbildung eines starken irakischen Staates zu unterlaufen.

Gleichzeitig führte Erdogan vom IWF diktierte Sparmaßnahmen durch. Die Senkung der Löhne türkischer Arbeiter machte die Türkei zu einem der wichtigsten Billiglohnexporteure im Nahen Osten, der Ambitionen auf die Märkte im Nahen Osten und besonders in Europa hat. Außerdem wurde die Türkei zu einem Transitland für Öl und Gas nach Europa aus dem Kaukasus, dem Irak und potentiell auch dem Iran.

Anfänglich versuchte Erdogan, gute Beziehungen zu Israel und den USA aufrechtzuerhalten. Zwar kritisierte Erdogan 2006 die Invasion Israels im Libanon und den Luftangriff auf angebliche syrische Atomanlagen in Deir-ez-Zor im Jahre 2007. Damals verletzten die israelischen Bomber sogar türkischen Luftraum. Aber Erdogan setzte die militärische Kooperation mit Israel dennoch fort. Nachdem die Türkei 2004 Beziehungen zu Syrien wieder aufgenommen und ein Freihandelsabkommen geschlossen hatte, bot sie sich nach dem Überfall von Deir-ez-Zor als Vermittler für israelisch-syrische Verhandlungen an.

Wachsende Feindseligkeit der USA gegenüber Syrien und dem Iran nach dem Irakkrieg machte die Lage für Ankara allerdings komplizierter. Um die USA von einem Angriff abzuhalten, unterstützte der Iran mehrere regionale Kräfte, wie die Hisbollah im Libanon und Hamas im Gazastreifen, die Israel bedrohen konnten. Gleichzeitig baute der Iran seine Wirtschaftskontakte mit der Türkei aus.

Die israelische Operation Gegossenes Blei, d.h. der Krieg gegen Gaza im Dezember 2008/ Januar 2009 kurz nach den von Erdogan vermittelten israelisch-syrischen Gesprächen war eine schwere politische Desavouierung der Türkei. Stephen Cook, eine Forscher beim amerikanischen Council on Foreign Relations, schrieb damals, Ankara fürchte, "Erdogan werde als Mitverschwörer der Israelis wahrgenommen, oder als zu schwach, um Israel von seinem Abenteuer in Gaza abzubringen".

Seit der Zeit haben sich die türkisch-israelischen Beziehungen trotz weiterer sporadischer Zusammenarbeit in konkreten militärischen Fragen kontinuierlich verschlechtert. Im vergangenen Jahr sagte die Türkei das gemeinsame Luftwaffenmanöver "Anatolischer Adler" mit Israel ab. Im Januar provozierte der stellvertretende israelische Außenminister Danny Ayalon einen diplomatischen Zwischenfall, als er den türkischen Botschafter Oguz Celikkol bei einem Treffen öffentlich düpierte, indem er dagegen protestierte, wie Israel in einer türkischen Fernsehserie dargestellt wurde.

Im Januar 2010 schrieb das französischen Magazin Politique Etrangère (Außenpolitik): "Die türkisch-israelische Partnerschaft ist äußerst zerbrechlich und verliert zunehmend an Substanz, besonders in politischen Fragen. Anders als Israel betrachtet Ankara Syrien oder den Irak nicht mehr als potentielle Gegner, sondern als Partner. Mit dem Iran scheint die Türkei dauerhafte Beziehungen knüpfen zu wollen."

Die türkischen Wirtschaftsinteressen im Nahen Osten wirken ebenfalls einer Allianz mit Israel entgegen. Der türkisch-israelische Handel hatte 2009 ein Volumen von drei Milliarden Dollar, aber der türkische Handel mit dem Iran, Irak und Syrien hatte ein Volumen von elf Milliarden, fünf Milliarden respektive vier Milliarden Dollar.

Auf die Rolle, welche die Türkei in der jüngsten Konfrontation spielte, reagierten die Vereinigten Staaten durchgehend feindselig. Gleichzeitig verhinderten die USA eine internationale Untersuchung des israelischen Überfalls auf die Hilfsflotte. Die New York Times kommentierte: "Erdogans harte Haltung eliminiert die Türkei als moderate Stimme am Verhandlungstisch mit Israel... und zwingt die Obama-Regierung, zwischen zwei Verbündeten zu wählen. Dabei können die Türken nur verlieren."

Die amerikanische Außenpolitik nach dem Fall der Sowjetunion konzentrierte sich weitgehend darauf, den Nahen und Mittleren Osten, Zentralasien und den Balkan militärisch und politisch zu dominieren. Die Kriege in Jugoslawien, Irak und Afghanistan ermöglichten den USA, die Beziehungen zu seinen wichtigsten Rivalen in Europa und Asien in ihrem Sinne zu regulieren und die Entstehung eines anti-amerikanischen Blocks zu verhindern, oder sie notfalls mit der Drohung mit militärischer Gewalt einzuschüchtern. Die Schwäche der amerikanischen Wirtschaft und die Unbeliebtheit der amerikanischen Außenpolitik im eigenen Land unterminieren allerdings die Strategie.

Für Washington beinhaltet der Aufstieg der Türkei zur unabhängigen Macht im Zentrum dieser umkämpften Region und zum Gegner der amerikanischen Iran- und Gaza-Politik eine schwere Bedrohung amerikanischer Interessen. Der Nahostexperte Stephen Kinzer erklärte in der New York Times : "Die Türken erklären den USA: ’Der Kalte Krieg ist vorbei. Ihr müsst eine kooperativere Haltung einnehmen. Dann können wir auch helfen’. Die USA sind nicht bereit, das Angebot anzunehmen."

Stephen Cook formulierte die Sache noch direkter: Die Frage, die in Washington diskutiert werde, erklärte er in der Times, laute: "Wie halten wir die Türkei an der Leine?" In Foreign Policy nannte Cook die Türkei "einen neuen Rivalen Amerikas im Nahen Osten".

Diese Äußerungen unterstreichen die globalen Auswirkungen der Konfrontation im Nahen Osten. Wenn die Washingtoner Regierung in Zukunft ihre Türkei-Politik bestimmt, wird sie zweifellos berücksichtigen, welche Auswirkungen der türkische Kurs auf die amerikanischen Beziehungen zu Europa hat.

Die Welt fasste einen Artikel von Ex-Kanzler Gerhard Schröder vom Mai folgendermaßen zusammen: "Die Europäische Union kann nur dann unabhängig von den Machtzentren USA und China existieren, wenn sie ihre Kräfte vereint. Sie muss daher ihre Beziehungen zur Türkei verbessern und sich mit Russland zusammentun.

Die Bedeutung von Schröders öffentlichem Eintreten für eine politische Achse Deutschland-Russland-Türkei, um Europa stärker von den USA zu lösen, geht weit darüber hinaus, ob eine solche Achse gegenwärtig tatsächlich entsteht. Wenn Schröder für eine solche Achse wirbt, dann werden mächtige Teile des amerikanischen politischen Establishments versuchen, sie zu verhindern.

Siehe auch:
Türkei: Konflikte mit Westen in der Außenpolitik
(20. Januar 2010)
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