Umweltskandal in Dortmund

Im Mai dieses Jahres wurde einer breiteren Öffentlichkeit bekannt, dass mindestens 37 fest angestellte Arbeiter der Entsorgungsfirma Envio in Dortmund und eine noch unbekannte Zahl von Leiharbeitern bei der Zerlegung und Entsorgung von Trafos massiv durch polychlorierte Biphenyle (PCB) vergiftet worden sind. Bei 95 Prozent der Envio-Arbeiter wurden Blutwerte gemessen, deren PCB-Belastung die Referenzwerte um das 8.600-fache überstiegen, in der Spitze sogar um das 25.000-fache.

Es ist noch nicht absehbar, wie viele andere Menschen mit dem hochgiftigen PCB in Berührung gekommen sind, da die zerlegten Trafos in viele Länder der Welt zur Wiederverwertung oder endgültigen Entsorgung weiter versandt worden sind.

Am 20. Mai 2010 schloss die zuständige Aufsichtsbehörde, das Regierungspräsidium Arnsberg, den Dortmunder Betrieb der Envio Recycling GmbH & Co. KG wegen massiver Verstöße gegen Emissionsschutzauflagen.

Polychlorierte Biphenyle (PCB) gehören zu den zwölf giftigsten organischen Stoffen, die weltweit in der industriellen Produktion verwendet wurden. Alle diese Stoffe stehen unter starkem Verdacht, krebsauslösend und erbgutverändernd zu sein sowie zu Missbildungen bei Neugeborenen zu führen. Ihre besondere Gefährlichkeit geht darauf zurück, dass sie sich im Gewebe anreichern und biologisch fast überhaupt nicht abbaubar sind. Im Jahre 2001 wurden sie (das „dreckige Dutzend“) deshalb durch die Stockholmer Konvention verboten, und die Unterzeichner verpflichteten sich, die PCB enthaltenden Altlasten zu entsorgen.

Weltweit wurden bis zum Ende der 1980er Jahre ungefähr 1,5 Millionen Tonnen PCB produziert. Schätzungen aus dem Jahre 2007 gingen davon aus, dass achthunderttausend bis eine Million Tonnen noch nicht entsorgt waren. Ein lukratives Geschäft. Wie viele kriminelle Elemente in der Abfallwirtschaft, die mit dem zunehmendem (Sonder-) Müllproblemen in den letzten Jahrzehnten Milliarden scheffelten, erkannten offenbar auch die beiden Envio-Geschäftsführer Dirk Neupert und Christoph Harks die „Gunst der Stunde“ und kauften 2004 im Rahmen eines so genannten Management-Buy-Outs den Ableger „ABB Services GmbH“ aus dem ABB-Konzern heraus.

In der gleichen Manier, wie der BP-Konzern das Bild des grünen, umweltfreundlichen Unternehmens präsentiert, stellte sich Envio auf seiner Firmen-Website als Unternehmen dar, das sich aus purer Sorge um die nachfolgenden Generationen „grünen Technologien“ widmet. Es täuschte in irreführenden Worten Sicherheit vor: „Zur Behandlung von PCB-Geräten setzen wir die LTR²-Technologie ein – eines der fortschrittlichsten und sichersten Verfahren weltweit“. Und es stellte soziales Engagement zur Schau: „Die Envio AG unterstützt Dortmunder Künstler, indem sie ihnen Ausstellungsflächen im Envio Kunstfoyer sowie Atelierräume auf dem Firmengelände im Hafen zur Verfügung stellt“. Und: „Wir unterstützen außerdem als Sponsor verschiedene Projekte, die sich Kindern und Jugendlichen widmen.“

Dahinter versteckte sich skrupellose Geschäftemacherei. Man war bereit, über Leichen zu gehen und die Gesundheit der Beschäftigten und Leiharbeiter aufs Spiel zu setzen. Ermöglicht wurde dies durch die Ignoranz der so genannten Aufsichtsbehörden, der Politiker und der Justiz, die trotz deutlicher Warnhinweise jahrelang gezielt die Augen schlossen.

Die Messstation des Landesamts für Umwelt- und Naturschutz (LANUV) in unmittelbarer Hafennähe hatte bereits in den Jahren 2006/erhöhte PCB-Werte aufgezeichnet. Seither drangen immer wieder Hinweise auf eklatante Verstöße gegen Emissionsschutzauflagen von Firmen aus dem Dortmunder Industrie- und Hafengebiet den Weg an die Öffentlichkeit und in die Presse.

Für jeden normal denkenden, vernunftbegabten Menschen war schon aufgrund der räumlichen Nähe und des Betätigungsfeldes von Envio klar, wo nach den Verursachern zu suchen sei. So kommentierte ein Leser auf der Webseite der WAZ-Mediengruppe im Januar 2009 einen Artikel über die erhöhten PCB-Werte: „Liebe Behörden, wie BLÖD seid ihr eigentlich? Wer war der größte PCB-Verwender im Dortmunder Hafen? Die Firma ABB mit ihrem Trafowerk. Sucht mal in diese Richtung.“ Ein weiterer Leser schrieb lediglich: „http://www.envio-recycling.de/ – Noch Fragen?“

Die Aufsichtbehörden, die von den Parteien nach parteipolitischem Proporz besetzt werden, gingen der heißen Spur aber offenbar gezielt aus dem Weg. So stellten die – regelmäßig vorangekündigten – Betriebskontrollen in den Büros der Entsorgungsfirma regelmäßig „keine besonderen Vorkommnisse“ fest, während unten in den Werkshallen die Arbeiter den hochgiftigen Emissionen ausgesetzt waren.

Mittlerweile ist publik geworden, dass im September 2008 beim städtischen Umweltamt in Dortmund ein anonymer Brief mit dem Betreff: „Illegale Aktivitäten der Firma Envio, Kanalstraße 25“ einging. Der Brief schilderte detailliert strafrechtlich relevante Regelverletzungen. Das Umweltamt informierte per e-mail die Aufsichtbehörde in Arnsberg über den Vorgang. Ansonsten zeigte der Brief jedoch keinerlei Wirkung – noch im gleichen Monat verlieh Umweltdezernent Wilhelm Steitz Envio den so genannten Öko-Profit Preis.

Erst als ein ehemaliger Envio-Mitarbeiter im Mai dieses Jahres der Westfälischen Rundschau in einer eidesstattlichen Versicherung ähnlich detaillierte Regelverletzungen schilderte, platzte der mühsam gehütete Skandal.

Was an den Tag kam, erfüllt bei den Verursachern mindestens den Tatbestand der fahrlässigen Körperverletzung („billigend in Kauf genommen“). Aber auch die Aufsichtsbehörden der Kommune und des Regierungsbezirks, die heute die kriminelle Energie betonen, mit der sie von Envio arglistig getäuscht und hintergangen worden seien, legten strafrechtlich relevante Handlungsweisen an den Tag. Schließlich obliegt ihnen eine Fürsorgepflicht, und man kann ihnen unterlassene Hilfeleistung vorwerfen.

So berichtete beispielsweise die Westfälische Rundschau am 19. Januar letzten Jahres von einer Infoveranstaltung zu den überhöhten PCB-Werten: „Die Polizei ist eingeschaltet. Die Bezirkregierung will in den nächsten Tagen die verdächtigen Unternehmen aus dem Hafengebiet aufsuchen und neue Messungen vornehmen.“ Doch es geschah nichts – oder wenn etwas geschah, dann wurden die Ergebnisse der Messungen unter Verschluss gehalten und gedeckt – obwohl den Aufsichtsbehörden der anonyme Brief zu den „illegalen Aktivitäten der Firma Envio“ zu diesem Zeitpunkt schon vorlag.

Es ist wenig wahrscheinlich, dass die Dortmunder Staatsanwaltschaft ernsthaft versucht, diesen menschenverachtenden Sumpf aus Gleichgültigkeit und Skrupellosigkeit trocken zu legen oder bloßzustellen. Die Ermittlungen liefen bisher nur zögerlich und boten ein ähnliches Bild wie das Vorgehen der Arnsberger Aufsichtsbehörde. So sah man sich erst zu einer Beschlagnahmung von Firmenunterlagen veranlasst, nachdem die Presse aus internen Protokollen der Firma zitiert hatte, die Envios Verstöße gegen die Umweltschutzauflagen dokumentieren.

Von der Westfälischen Rundschau zur Duldung illegaler Betriebsteile durch die Aufsicht befragt, äußerte die leitende Oberstaatsanwältin Ina Holznagel: „Arnsberg habe ‚einen Ermessensspielraum milde genutzt’, Fahrlässigkeiten und Sorgfaltspflichtverstöße einer Überwachungsbehörde seien ‚nicht strafbar’.“